Der Chronologie
dritter Teil. Nach „Der Siebente Kontinent“ und „Bennys
Video“
registriert Alltagsforscher Michael Haneke das Schicksal einer Anzahl Menschen,
die nichts weiter verbindet, als daß sie Opfer eines Täters, eines
Amokläufers, werden. Wien, am Tag vor Heiligabend, 1993, eine Bank, ein
19jähriger Student feuert in die Menge. Warum? Haneke, wie stets in seinen
Filmen, stellt uns nicht mit psychologischen Erklärungen zufrieden. Gewiß,
es gab Ärger mit der Scheckkarte, die in der Tankstelle nicht akzeptiert
wurde. Das können wir als Tatmotiv vergessen. Aber doch legt uns der Film
eine Erklärung nahe, wenn er das Leben von Tätern und Opfern in der
Zeit vor der Tat beschreibt. Möglicherweise ist es nicht der Zufall, der
sie zusammenbringt: den zwölfjährigen Asylbewerber aus Rumänien,
die Sportstudenten vom Land, das Kind, den Rentner, die Tochter, die Bankangestellte.
Auf den
ersten Blick gibt sich der Film als nüchterne Versuchsanordnung. Die Kamera,
Bewegung scheuend, macht vor dem Wohnzimmer, dem Arbeitsplatz, der Konsumpassage
halt, weil eine bildfüllende, weiße und leere Wand den Weg versperrt.
Davor betrachten wir in aller Ruhe den Probanden; weglaufen wird er nicht; er
wirkt eingesperrt wie in einem Käfig. Minutenlang sehen wir dem Sportstudenten
zu, wie er, vor der kahlen Wand mit immer der gleichen Bewegung einen Tischtennisball
zurückschlägt, den ihm die Tischtennistrainingsmaschine im immer gleichen
und schnellen Rhythmus zuspielt. Hanekes Käfige sind reale Käfige,
Produkt der Sport-Hardware-Industrie beispielsweise. Gegen Wände läuft
aber auch der kleine Rumäne, ohne Geld und Papiere, ohne Kenntnis von Sprache
und Gebräuchen. Die Fragmentarisierung des Films macht dramaturgischen
Sinn. Hanekes Filmbau hat 71 Zellen, Wohn- Naß-, Arbeitszellen. Es ist
daher kein Willkürakt des Regisseurs, sondern infrastrukturell vorgegeben,
daß Zellennachbarn sich lediglich über Klopfzeichen verständigen
können. Der Film beginnt schlüssigerweise mit der Zeichen- und Gebärdensprache,
mit der das Rumänenkind Kontakt aufzunehmen versucht. Später gibt
es zwar Dialoge, sie sind aber auf ein Minimum reduziert, – auf den Austausch
von banalen Alltagssätzen; wenn ausnahmsweise Inhalte vermittelt werden,
ist der Schock so groß, daß auf der Stelle Kommunikationskurzschluß
eintritt. Auf den beim täglichen Abendbrot unvermutet gesprochenen Satz
„Ich liebe Dich“, kann dann nur so etwas wie „So was sagt man nicht“ die Antwort
sein – oder gleich eine Ohrfeige.
Wir nehmen
wahr, daß die von uns beobachteten Versuchspersonen sowohl durch die Versuchsanordnung
bedingt (die Ästhetik und Dramaturgie des Films) als auch durch die ästhetisch
und dramaturgisch umgesetzte Realität (Hardware, Zellenbauten, emotionale
Einkerkerung) weitgehend wortlos, sprachlos und kommunikationsunfähig sind.
Paradoxer-, aber einsichtigerweise brandet in die Hanekeschen Isoliertrakte
eine Kommunikationsflut. Zu Beginn des Films erfahren wir in einer fast komplett
wiedergegebenen TV-News-Sendung alles über die neuesten Massaker in Sarajewo
und sonstwo in der Welt. Im Zimmer des vereinsamten Rentners läuft das
Fernsehen rund um die Uhr. Michael Jacksons persönliche Botschaften werden
in die häusliche Zelle übertragen. Die Konsumpassage wirbt für
sich selbst.
Für
unsere menschlichen Versuchskaninchen erweisen sich all diese Polit-, Konsum-
und Gewaltbotschaften als weitere, den Weg versperrende Wand, und genauso nimmt
die Kamera der „71 Fragmente“ die vorgeblichen Kommunikationsspender auf, Monitore
bildfüllend und angeschnitten: die Medien als Kommunikationssperren.
Die Familie,
die Gruppe oder sonst eine gesellschaftliche Einheit, glaubt man Hanekes Bildern,
hat den von außen hineingetragenen Gewalt-Viren nichts mehr entgegenzusetzen.
Schutzlos und ohne jede Gegenwehr ist sie den täglichen Angriffen von außen
ausgeliefert. Dieses Fazit treibt einem die Zornesröte auf die Wangen.
Haneke empört den Zuschauer, der nicht getröstet oder sonstwie mit
vordergründigen (psychologischen) Erklärungen abgespeist wird. Dabei
sind wir es doch von der Erklärwut der landläufigen Fernsehästhetik
gewöhnt, daß alles Böse genannt und gebannt, unsere Phantasie
sorgsam an die Kette gelegt wird und wir beruhigt ins Bett geschickt werden.
Da Haneke
aber, und dies zu Recht, die übliche Fernsehdramaturgie gerade als lebensbedrohlichen
Phantasie- und Kommunikationskiller vorgestellt hat, angesichts dessen freilich
der Amoklauf bleibt, beläßt er es in seiner Trilogie und damit auch
in den „71 Fragmenten“ bei der moralischen Provokation. Empörung über
das, was zu sehen und zu hören ist, und was leider die Realität ist.
Was mit der Empörung anzufangen ist, ist Sache des Zuschauers. Und da dieser
auch dank der öffentlichen Medien weitgehend seiner Fähigkeit beraubt
wurde, mit Hilfe seiner Phantasie zu bemerken, wie sehr er bereits zivilisatorisch
geschädigt, emotional verkümmert und der lebenswichtigen Kommunikation
beraubt ist, genau deshalb wird er möglicherweise auf den Haneke-Bildern
sitzen bleiben. Was natürlich der erste Erfolg des moralischen Dispositivs
der „71 Fragmente“ wäre. Bleiben die Bilder, gären sie, gehen sie
nach, dann stellt sich die Frage nach dem, was fehlt in aller Schärfe.
Das kann sich dann jeder selbst beantworten, ohne daß man einem erklärungswütigen
Pädagogen glauben muß – und ohne daß der Film dies elendigerweise
ausspricht. Selbstverständlich gehören alle Käfigtüren geöffnet,
und zwar sofort, denn was in der zivilisatorischen und metaphorischen Isohaft
fehlt, das ist etwas wie die Freiheit, aber auch Erlösung und sonstige
Transzendenz.
Im Film betet jemand unvermittelt und geniert-heimlich zu Gott. Ein anderer sehnt sich nach der verlorenen kindlichen Unschuld. Eine in sich extrem befangene Frau lächelt einmal, kurz verschämt. – In Latenzen blitzt etwas wie Hoffnung auf. Hoffnung zum Selbermachen. Hilfe fürs Sichhelfen. – Vielleicht ist es ein wenig altmodisch, wie der Filmmoralist Haneke auf das Lernen vertraut, auf das Selbermachen und die eigene Verantwortung. Das Vertrauen auf den Film als Bild- und Tonmedium (und nicht als TV-Wortbotschaft, der ungefragt geglaubt werden muß). Ein großer, gelungener, bitterer, hilfreicher Film. Mich traf es wie der Blitz, wieder in den Alltag entlassen. Verfremdet meine Welt. Bin ich im 72. Fragment? Und selbst beantworten muß ich wohl die drei Fragen: Wo bin ich? Wer bin ich? Was mache ich hier?
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Verleih:
Sputnik
absolut
MEDIEN (Video)
Erstaufführung:
Nov. 1995/Sept.
1997 Video
Fd-Nummer:
31597
Produktionsfirma:
Veit Heiduschka/Wege
Filmproduktionsges.
Produktion:
Veit Heiduschka
Regie:
Michael
Haneke
Buch:
Michael
Haneke
Kamera:
Christian
Berger
Schnitt:
Marie
Homolkova
Darsteller:
Gabriel
Cosmin Urdes
Lukas
Miko
Otto Grünmandl
Anne Bennent
Udo Samel
Branko
Samarovski