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Ein andalusischer Hund

 

 

Der Film beginnt mit einem Schock. Wir sehen einen Mann (Luis Buñuel), der sein Rasiermesser schärft und auf den Balkon tritt. Er betrachtet den Mond, der von einer dünnen Wolke geschnitten wird. Die Kamera kehrt zurück zu dem Mann, der jetzt hinter einer Frau steht und mit dem Rasiermesser wie selbstverständlich den Augapfel der Frau aufschneidet. Die ausquellende Flüssigkeit sehen wir in Großaufnahme. Diese legendäre Eröffnungsszene in ihrer nüchtern vollzogenen Grausamkeit wirkt noch heute. Der Zuschauer meint den Schnitt im eigenen Auge zu spüren und er ist doch nur Auge, während vor ihm dem Film auf der Leinwand abläuft.

 

Was folgt sind die siebzehn dichtesten und rätselhaftesten Minuten der Filmgeschichte. Ein Radfahrer in seltsamer Kleidung kippt auf der Straße einfach um. Eine Frau spielt inmitten einer Menschenmenge mit einer menschlichen Hand und wird dann von einem Auto überfahren. Aus einem Loch in einer Hand krabbeln Ameisen. Die Liste ließe sich beliebig verlängern und man könnte so die ganze Szenenfolge des Films auflisten. Doch was bedeutet dies alles? Es bedeutet nichts. Der Film entstand aus der Zusammenarbeit der beiden jungen Künstler Luis Buñuel und Salvador Dali und sollte ein surrealistisches Fanal sein. Ausgangspunkt waren ganz persönliche Traumbilder von Buñuel und Dali. Ausdrücklich durfte kein Motiv enthalten sein, das eine rationale Erklärung zulässt. „Wir mussten alle Türen zum Irrationalen öffnen“, sagt Buñuel.

 

So folgt der gesamte Film der Logik des Traums. Jede räumliche und zeitliche Kontinuität wird aufgelöst. Texttafeln gaukeln uns willkürlich anmutende Zeitsprünge vor und führen gleichzeitig jeden zeitlichen Ablauf ad absurdum. Eine Tür, die eben noch in ein anderes Zimmer führte, öffnet sich beim nächsten Mal auf eine Strandlandschaft. Personen wechseln von einem Moment zum anderen den Charakter. Der Film will bewusst provozieren und widerspricht jeder Zuschauererwartung. Doch nicht nur der naive Zuschauer wird enttäuscht, sondern auch der Interpret, der die Bilder auf eine tiefere Bedeutung hin auflösen will.

 

Es gibt nur eine einzige Szene, deren Symbolismus einigermaßen eindeutig ist: die Szene nämlich, in der ein Mann sich in eindeutig sexueller Absicht einer Frau nähern will, jedoch kaum vom Fleck kommt, da er an Seilen ein Klavier mit zwei toten Eseln und zwei angebundenen Priestern hinter sich her schleppen muss. Das Klavier und die Priester können als religiöse und bürgerliche Bindungen interpretiert werden, die das Triebleben bremsen oder einengen. Freuds Theorie von Es und Über-Ich war damals noch frisch. Doch was ist mit den toten Eseln? Vielleicht hat unsere bürgerliche Zivilisation ja auch etwas mit toten Eseln zu tun. Der wütende Angriff auf die Bigotterie und Heuchelei des katholischen Großbürgertums wird ein durchgehendes Thema in Buñuels gesamtem Lebenswerk bleiben. Viel schärfer wird Buñuel dies in seinem nächsten Film „L’age d’or“ („Das goldene Zeitalter“) zum Ausdruck bringen.

 

Der gesamte Film verweigert sich jedoch einer Auflösung. Die Bilder bleiben stehen, als das, was sie sind. Der „Chien andalou“ ist so ein meisterhaftes Experiment mit den Möglichkeiten des Films. Der Inhalt des Films ist identisch mit seiner Form. Es gibt keine Bedeutung die dahinter steht. Die einzigartige Wirkung des Films entsteht daraus, dass der Zuschauer trotzdem zwangsläufig einen Zusammenhang zwischen all den Bildern sucht. Alles, was wir sehen, ist für sich genommen natürlich und alltäglich. Es werden keine phantastischen Elemente eingeführt. Und trotzdem widerspricht die Zusammenstellung völlig unserer Erfahrung. Wir sehen eine absurde Traumwelt, deren Personen alles ganz selbstverständlich nehmen.

 

 

Siegfried König

 

Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte

 

 

Ein andalusischer Hund

(Un Chien Andalou)

Frankreich 1929, Regie: Luis Buñuel, Buch: Luis Buñuel, Salvador Dali, Kamera: Albert Duverger, Produzent: Luis Buñuel, Salvador Dalì. Mit: Pierre Batcheff, Simone Mareuil, Jaime Miravilles, Luis Buñuel, Salvador Dali, Robert Hommet.

 

 

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