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Dogville

 

Natürlich, "Dogville" ist ein Meisterwerk. Der Kanon der Filmkritik benutzt zur Umschreibung von "Dogville" dieses Wort ebenso, wie er es bei jedem anderen Meisterwerk gebraucht. Doch "Dogville" ist kein "solches" Meisterwerk; kein Meisterwerk in dem Sinn, wie Mizoguchis "Ugetsu" ein Meisterwerk ist, oder Beethovens "Eroica", oder die Gemälde Vermeers. "Genialisch" mag das Wort sein, das Lars von Triers kontroversen Entwurf zur Schlechtigkeit des Menschen am besten umschreibt. Und "genialisch" ist kaum ein Meisterwerk in der klassischen Bedeutung des Wortes. Gustav Mahler etwa mag auf seine ganz eigene Art so etwas wie "genialisch" gewesen sein; Pier Paolo Pasolini und Jackson Pollock sowieso. Gemein ist ihnen allen, dass sie spalten und gleichzeitig in einem Punkt vereinen: Man verehrt sie frenetisch, oder verachtet sie leidenschaftlich – nur Indifferenz, das kann ihnen kaum jemand entgegenbringen. Man mag sich schwer tun, das Wort "genialisch" in Einklang zu bringen mit einem "Meisterwerk", scheint doch in "genialisch" schon das Teuflische, "diabolisch", mitzuklingen; wirkt doch die literarische Figur des Dr. Frankenstein wie des Wortes Erfinder selbst. Doch das ist es, was "Dogville" ist. Genialisch. Und ein Meisterwerk.

 

Das äußere Gerüst der Handlung von "Dogville" ist dabei schnell umrissen, denn irgendwo kennt man es ja eh schon: Die schöne Grace (eine ausnahmslos hervorragende, äußerst facettenreich interpretierende Nicole Kidman) verirrt sich auf der Flucht vor "Gangstern" in ein vollkommen abgeschiedenes, amerikanisches Bergdorf mit dem schon alles über seinen Charakter verratenen Namen Dogville. Selten kommt überhaupt einmal ein Mensch nach Dogville und die Bewohner sind Fremden gegenüber mehr als skeptisch. Doch der junge Tom Edison (Paul Bettany), selbsterklärter Vordenker und Dorfpoet, nimmt sich Grace und ihrem Wunsch, doch vorerst im Dorf bleiben zu können, wohlwollend an. Er legt ihr nahe, doch einige der Arbeiten im Dorf zu übernehmen und den Bewohnern zur Hand zu gehen. Unter dieser Prämisse willigen Dogvilles gerade einmal 15 Einwohner ein und lassen Grace für sich arbeiten. Aus Arbeit wird Ausnutzung, aus freundschaftlicher Zuneigung sexueller Missbrauch. Im Verlaufe des Films vergeht sich fast das ganze Dorf an Grace, die ihr Martyrium lanze Zeit duldend erträgt.       

 

Es scheint nicht fair, wie manche es taten, an Lars von Trier und seine Filme mit dem Anspruch heranzutreten er und sie müssen oder wollten das Kino neu erfinden. Seine damals vollmundig verkündete intellektuelle Provokation vom Dogma95 mag dazu verleiten, aber von Trier ist ein Künstler, der seinem eigenen Reifungsprozess ehrlich gegenübersteht. Dogma scheint er Lebewohl gesagt zu haben – zumindest für ihn selbst und sein filmisches Schaffen war das nur ein Abschnitt, ein Kommen und Gehen. Nun ist er mit "Dogville" an einem Punkt angekommen, den viele als die extremste Reduktion des Kinos und seiner Mittel begreifen wollen, mit der uns von Trier – oder irgendein anderer Filmemacher – je konfrontiert hat. Dies ist mit Sicherheit nicht der Fall. Ja, "Dogville" hat nur ein Mindestmaß an Kulissen und Requisiten, ja, die Häuser des titelgebenden Dorfes sind bloß mit Kreidestrichen auf einen schwarzen Bühnenboden gemalt und Türen und Gärten werden zwar gebraucht und bearbeitet, bleiben für den Zuschauer aber stets nur hör- und nicht sichtbar. Aber "Dogville" ist deshalb noch lange kein "Antikino", kein brachialer Ikonoklasmus und mit Verlaub gesagt ist jeder mir bekannte Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet um ein Vielfaches "reduzierter", als "Dogville". Von Triers Film bleibt dagegen stets in höchstem Maße filmisch; ihn als eine "Theaterabfilmung" zu bezeichnen, erscheint daher absurd, ist doch so etwas wie eine "Theaterabfilmung" schon in sich ein Paradoxon. Denn Theater findet einzig und allein auf der Bühne statt. Der selektierende Effekt der Kameraführung und Schnittsetzung (und der ist in "Dogville" von großer formaler Schönheit) macht die Filmkunst aus, während das Theater auch dadurch bestimmt ist, daß der Zuschauer in den allermeisten Fällen eine fixe Position im Raum hat. Die Wahl des Blickwinkels ist so zum einen zwar beschränkter als im Kino, andererseits bleibt dieses Aussuchen dem Zuschauer aber auch gänzlich selbst überlassen, während der Filmschnitt diese Macht oftmals verlagert. "Dogville" hat daher zwar Anleihen aus dem Theater, ist aber selbst natürlich ganz und gar Kino. Diese Anleihen allerdings sind ein essentieller Bestandteil seiner Wirkung. 

 

Die Form von "Dogville" ist kein Akt der Rebellion eines vorlauten Unruhestifters, der gerne und prinzipiell einmal gegen alles und jeden aufrühren möchte – und das nur um des Aufrührens Willen selbst wegen. Sie ist weitgehend auch kein Versuch, auf irgendetwas hinzuweisen, das eventuell ansonsten in den formalen Beschaffenheiten eines effektgeladenen, visuell ausladenden Kinos untergehen könnte. Die Idee hinter der Form von von Triers neuem Film ist eine sehr viel intelligentere, komplexere. Denn mehr als Reduktion evozieren die fehlenden Wände, die aufgemalten Straßennahmen und Häusergrundrisse, die nicht vorhandenen, aber sich knarrend öffnenden Türen ein Gefühl von unbedingter Künstlichkeit. Eine gewollte, bis zur Verfremdung führende Verkünstlichung, die vor allem – und daraus zieht der Film viel von seiner Größe – auf eines hinauszielt, nämlich auf eine grundlegende Distanzierungsmöglichkeit für den Zuschauer und gar den Filmemacher selber. Mit diesem Zug begeht von Trier auf wundersame Weise gleichzeitig sowohl eine Annäherung, als auch eine Entfernung vom Theater Bertolt Brechts. Denn wo Brechts Werk stets auch einen "missionarischen" Gedanken hatte, ein drängendes Bedürfnis, etwas aufzuzeigen, steht von Triers "Dogville" bereits sehr weit jenseits davon. Von Triers Charaktere sind hier derartig identifikationsferne Abbilder einer – zum Ende hin brutal ins Gegenteil verzerrten – Idee, dass sich immer mehr der Gedanke aufdrängt, dieser Film sei nicht im Zustand größter, möglichst nachvollziehbarer Wut (wie bei Brecht) entstanden, sondern mit dem Lächeln eines Zynikers auf den Lippen. Einem äußerst grimmigen zwar, aber einem, das sich und "Dogville" vor aller finalen Bitterkeit entschieden verschränkt und den Film stattdessen pointiert, ihn quasi mit einem schmutzigen, die vermeintliche, fast politische "Aussage" des Films munter karikierenden "Gag" enden läßt. Dies mag auf die Art nihilistisch sein, wie Beckett nihilistisch war, aber nichtsdestoweniger kommt man auch bei Beckett nicht umhin, gelegentlich das Lachen nicht gänzlich unterdrücken zu können.    

 

Ob "Dogville" tatsächlich ein Kommentar zum gegenwärtigen Amerika ist, oder ein generelles Statement über das genuin Böse im Menschen, spielt nicht einmal eine allzu große Rolle, denn die finale Wendung ist ein derart wuchtiges, biblisches Überwürfnis aller bis dahin erstellten Resultate und Schlüsse, die sich der Zuschauer geknüpft hat, dass es sehr viel mehr anregt zu einer ganz grundlegenden philosophischen Diskussion über die Rechtmäßigkeit und Platzierung von Rache in einem Gedankenuniversum, das durchaus so etwas wie eine "Arroganz der Vergebung" kennt. Hier, in den letzten Minuten des Films, zahlt sich Lars von Triers formales Konzept voll aus und macht "Dogville" zum "genialischen Meisterwerk": Was in der Form, dieser aberwitzig zelebrierten, genussvollen und zuvor ausgiebig debattierten Ausrottungssequenz an Beckett’sche Absurdität grenzt, ist gleichzeitig – dank der durch die Verkünstlichung entstandenen Distanz zum Gezeigten – ein ideal ausgearbeitetes Vordringen zu einer freidenkerischen Annäherung an die moralischen Fragen, die die Schluss- und Schlüsselszene aufwirft. Es ist – so hätte es der ewigschlaue und gleichzeitig in seinem Gerede hilflose Tom Edison ausgedrückt – eine fantastische "Veranschaulichung" und "Dogville" ist hier überhaupt nicht mehr absurd. Lars von Trier hält den Film in genau dieser Schwebe zwischen "körperlicher" Nähe und wohltuender geistiger Distanz, die beide der theaternahen Form zwar zuzuschreiben sind, nichts aber gemein haben mit einer "Theaterabfilmung". Er erfindet nicht das Kino neu, aber er spielt mit einigen seiner faszinierendsten Möglichkeiten.

 

Janis El-Bira

 

Dieser Text ist nur in der filmzentrale erschienen

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken

 

Dogville

USA/Frankreich/Schweden 2003. R, B: Lars von Trier. P: Vibeke Windelov. K: Anthony Dod Mantle. Sch, T: Molly Malene Stensgaard. A: Peter Grant. Ko: Manon Rasmussen. Pg: Zentropa, Isabella, Something Else, Memfis, Trollhattan, Pain Unlimited, Sigma/Zoma. V: Concorde. L: 178 Min. Da: Nicole Kidman (Grace), Harriet Andersson (Gloria), Lauren Bacall (Ma Ginger), Paul Bettany (Tom Edison Jr.), James Caan (The Big Man), Philip Baker Hall (Tom Edison Sr.).

 

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