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Dogville

 

Jesus schlägt zurück

 

Einige Mutmaßungen zum neuen Film von Lars von Trier

 

“Woman is the nigger of the world…yes she is

If you don’t believe me, take a look at the one you’re with

Woman is the slave of the slaves

Ah, yeah…better scream about it“

(John Lennon)

 

Mit „Dancer In The Dark“ von Lars von Trier war ich viel zu schnell fertig. Schon etwa nach der Hälfte hat mich das peinigende Szenario mit der Koboldgutmenschenmonsterkindfrau Björk über (die von mir und Lars seit „Europa“, „Breaking The Waves“ und „Idioten“ vereinbarte) Gebühr genervt, so dass ich es nur aus Achtung vor Europas hellstem Filmgeist unterließ, den Film öffentlich zu rügen (obwohl er Momente reinster Klarheit besaß). Nach „Dancer“ glaubte ich, Trier wäre nur wieder einer mehr dieser im Grunde symphatischen Regisseure, die sich auf ihren Abwegen nicht beirren lassen (ein Zeichen von Stärke immerhin), denen ich, traurig zwar, doch einiges hoch anrechnen müsse, angelegentlich meiner Grabesansprache, welche wahrscheinlich bevorstünde – bei seinem nächsten Katholiken-Sadomaso-Film. Immerhin hat er die Zusammenarbeit mit Björk später in seinen freundlichsten Kommentaren als „anstrengend“ bezeichnet, was mich ein bisschen versöhnt hat.

 

Dann kam „Dogville“ und mit ihm mein Glaube an den Gläubigen zurück. Von Trier ist ja liebenswerterweise ein provozierend erklärter Katholik, aber eigentlich ein noch strengerer Moralist. In Triers Ethik liegt der Schlüssel für sein Werk. Aber Moralismus, gepaart mit Mystizismus, ist ja schon kaum mehr eine Sache für die Moderne gewesen, geschweige denn für eine abgeklärte Postmoderne. Selbst den Aufklärern wäre vermutlich die infantile Abhängigkeit der Heldinnen von Gott und Glaube in Triers „Stücken“ zu mittelalterlich erschienen, dennoch bietet Trier gar einer (Post-) Postmoderne die Stirn seiner religiösen Parabeln – immerhin in den Fußstapfen anderer großer (Film-) Moralisten und Mystiker schreitend: Andreij Tarkovsky, Carl Theodor Dreyer, literarische Vorgänger sind die Bibel, der moderne Klassiker Franz Kafka (in „Europa“), und nun durften es auch Friedrich Dürrenmatt („Besuch der alten Dame“) und Bertolt Brecht sein. Ausgerechnet Brecht, der wie kaum ein Zweiter für alles Mögliche steht, was mit der Moderne gefallen ist: politische Utopie, erzieherischer Impetus, „Mitdenken“ und „eigene Entscheidung“, Begriffe, über die in Zeiten eines sich zurücklehnenden, über alle Zweifel erhabenen, gleichzeitig alles (besonders das „Ich“) anzweifelnden Dekonstruktivismus, Desillusionismus, Diskursivismus nicht einmal mehr mitleidig gelächelt werden kann; so internalisiert ist uns das Misstrauen in die Autonomie und die Originalität von Individuum und Erzählung.

 

Von Trier macht immer das, was gar nicht schick ist, nun bedient er sich moderner Formen, um in postmodernen Zeiten über Religion und Moral zu sprechen. Trotzdem erntet er größtes Lob. „Dogville“ wird in beinahe jeder Kritik als „Meisterwerk“ bezeichnet. Ich denke, das liegt daran, dass Trier mehr kann (und auch tut), als Altes zu reproduzieren. 

 

Wer ist dieses Phänomen Lars von Trier?

 

Ein Religionsstifter, anerkanntermaßen: Das von ihm maßgeblich mitentwickelte Dogma95-Manifest hat nicht nur mehrere Dutzend Regisseure dazu verleitet, ihren Namen im Vor- und Abspann ihrer Filme wegzulassen, auch haben sie sich halb fasziniert und halb ächzend seinen Dogmen unterworfen; zum Teil wegen der Berüchtigkeit ihres Gurus, zum Teil auch wegen eines Hauchs von Echtem, der diese Reduktionsdogmen umweht: Erzähle klar eine klare Geschichte, lenke nicht ab mit Hintergrundmusik, Kulisse, Gewehren oder Spezialeffekten. Er hat auch Dutzende von Nicht-Dogmatikern dazu verführt, berechnend spektakulären Hollywoodschnickschnack zuhause zu lassen, anderes Kino zu machen, das nun auch garnicht nach Hollywood aussah, aber eines, das sehr schnell von Hollywood adaptiert wurde – sobald es sich als gewinnbringend erwies. Nur zwei von einigen Hollywood-Filme seien genannt, die ohne Dogma95 nicht (r)ausgekommen wären: „Blair Witch Project“ und „Traffic“. Und einige andere Filme aus Europa, dessen selbstbewußte Neuorientierung in punkto Filmmaking Trier mitermöglicht hat – Trier UND die Erfindung der handlichen Digitalkamera, die früher oder später sowieso ihre wackligen Spuren im Filmbetrieb hinterlassen hätte…

 

Aber von Trier stand auch einmal auf seiner Feindesseite, in früheren Filmen, wie „Element Of Crime“ oder „Europa“, die die Mittel des Effekt-Kinos, die Künstlichkeit, die Kulisse, die Komposition eines ästhetischen Großprojekts, die Sprache der Bilder für das dänische sowieso, aber auch für das europäische Kino in bis dahin ungesehener Weise ausprobierten, ausreizten, bis zur Erstarrung der Schauspieler, deren streng regulierte Auftritte nur kleine von vielen anderen genau kalkulierten Pinselstrichen des Monomanikers waren (Siehe auch D. Kuhlbrodts Erfahrungsbericht von den Dreharbeiten zu „Europa“ in seiner „Idioten“-Kritik).

 

Von Triers Ehrgeiz treibt ihn in allen seinen Filmen dazu, die Grenzen filmischen Erzählens zu suchen und sie zu überschreiten. Aber er stellt sich auch die andere, für ihn wichtigere, Frage bei jedem Film wieder neu: Was eigentlich ist die Essenz einer filmischen Erzählung? Mit welchen Mitteln erreiche ich Konzentration statt Zerstreuung? Nach seinem an Verweisen und Bezügen übervollen postmodernen „Europa“, wirkte das fremdartig naturalistische „Breaking The Waves“ wie das Werk eines anderen Regisseurs, und „Idioten“ sah zunächst so aus, als hätten es deine Kumpels in den Sommerferien selbst gedreht.  Es sah immer alles nach etwas anderem aus, aber trotz des neuen Konzepts, die Schauspieler beider Filme an der langen Leine improvisieren zu lassen, ist das Ergebnis alles andere als zufällig. Beide Filme folgten in Aufbau und Dramaturgie der christlichen Passionsgeschichte. „Breaking The Waves“ mit seinem Handkamera-Stil in Cinemascope und „Idioten“ mit seinem Heimvideostyling sind daher streng gebaute Tragödien, wie dann auch das sogenannte „Musical“ „Dancer In the Dark“. Die stets neue Form der Inszenierung lenkte zunächst die Aufmerksamkeit auf sich, aber nur, um die Form als Etwas vom Inhalt erkennbar Getrenntes zu verdeutlichen, sie von der Geschichte lösen, um das Illusionäre zu eliminieren und um das Bewusstsein für den Stoff, die Handlung, das Stück, zu schärfen.

 

„Dogville“ nun trägt seinen dramatischen Charakter wie ein Schild vor sich her. Seine rudimentären Kulissen, die in ihrer Reduktion als Kulissen erst wirklich spürbar werden, seine spartanische Ausstattung, seine durchweg nicht zur Identifikation taugenden Figuren, sein allwissend-schmunzelnder Erzähler aus dem Off, der gleichzeitig Evangelist einer Bachschen Passion und distanziert-ironischer Kommentator eines Brechtstücks oder aus Kubricks „Barry Lyndon“ (einem erklärten Lieblingsfilm von Triers) sein könnte, all das soll uns darauf aufmerksam machen, dass hier gespielt wird, durchgespielt wird, eine situative Versuchsanordnung, eine kühle Studie menschlicher Verderbtheit. Mehr denn zuvor zwingt uns von Trier, auf die Aussage, den Gehalt seiner Geschichte zu schauen; die Ausbruchsmöglichkeiten in die Illusion durch ästhetische Sinnesfreuden, durch Einfühlen oder Parteinahme für Figuren sind in uns „Dogville“ versperrt. Brecht’scher „Verfremdungs-Effekt“: zurückgeworfen auf uns selbst sind wir allein mit der Frage: „Wie würden Sie entscheiden?“ Nur selten, als hielte der Ästhet in Lars von Trier seine selbstauferlegten Beschränkungen selbst nicht aus, brechen schönste Kinobilder auf. Wenn z.B. Grace (Nicole Kidman) versteckt auf einem Karren liegt, und die Kamera durch die Plane auf sie hindurchsieht, ist das ein reinste Malerei.

 

Worum geht’s überhaupt in „Dogville“?

 

Alle Lars-von-Trier-Filme seit „Europa“ behandeln das gleiche Thema, haben beinahe den gleichen Inhalt und das gleiche Fazit:

Thema: Ist ein moralisch gutes Leben in dieser Welt möglich?

Inhalt: Ein Mensch, der Gutes tun will, scheitert an seinen Mitmenschen/der Gesellschaft/der Welt.

Fazit: Ein moralisch gutes Leben ist in dieser Welt unmöglich.

Wohl spätestens seit seiner „Bekehrung“ zum Katholizismus ist das „Gute“ für Trier deutlich christlich konnotiert. Die „guten“ Menschen in seinen Filmen – nach „Europa“, in der Golden Hearts-Trilogie „Breaking The Waves“, „Idioten“ und „Dancer In The Dark“ waren es stets Frauen – eint, dass sie vom unteren Rand der Gesellschaft aus, aus der schwächsten, ohnmächtigsten Position heraus versuchen, moralisch „gut“, selbstlos zu sein. Eine wichtige Rolle dabei spielt der religiöse Aspekt des moralisch Guten, denn befähigt zum Guten sind die Märtyrerinnen seiner letzten drei Filme wenigstens indirekt und unterschwellig immer durch einen Glauben, durch den „Geist“, durch eine Beziehung zu „Gott“.

Am deutlichsten ist dies in „Breaking The Waves“, am wenigsten deutlich wohl in den „Idioten“ zu sehen, deren Gruppe allerdings bei näherem Hinsehen alle Merkmale einer religiösen Glaubensgemeinschaft trägt – auch wenn sie, außer der „heiligen“ Karen, am Ende alle vom „Glauben“ abfallen. Triers Heldinnen sind nicht nur Heilige, sie sind gar oft direkt von ihrem Vater „Gott“ in die Welt geschickte, weibliche „Jesusse“, die, wie Jesus, um ihre Opferrolle wissen und sich ihrem Schicksal überlassen.

 

Zu Beginn von „Dogville“ ist in bezug auf „Grace“ (=Gnade) von einem „Geschenk“ an das Dorf die Rede. Das Dorf erweist sich als nicht dankbar, es nimmt nicht wahr, dass es trotz seiner Unwürdigkeit, seines Egoismus und Sadismus immer wieder neu durch „Gottes“ Gnade, in Form der Vergebung und selbstlosen Liebe von Grace, beschenkt wird. Am Ende überantwortet Dogville den weiblichen Christus gar seinem vermeintlichen Tod, indem es ihn den Besatzern (hier: der Mafia) übergibt, nicht ahnend, dass der „Big Man“, der Pate, der „Godfather“ seinem Namen mehr als entspricht: Der „Big Man“(James Caan) ist der Vater von Grace, wie Gott der Vater von Jesus ist.

 

Die Leidensgeschichten von Graces Vorgängerinnen endeten mit deren Tod, in „Idioten“ mit einer gesellschaftlichen Ausgrenzung, die dem Tod gleichzusetzen war. Den klarsten Hinweis auf eine Auferstehung bekamen wir in „Breaking The Waves“, an dessen Ende reale Glocken in einem offenen Meereshimmel läuten. „Dogville“ nun überspringt kühn und amüsant die Qualen der Kreuzigung selbst (das Martyrium eines Kreuzweges hat Grace/Jesus, in Ketten, allerdings schon hinter sich gelegt), wenn Grace statt in den Märtyrerinnentod direkt in den Himmel (in den Fond der Mafialimousine „sitzend zur Rechten Gottes…“), an die Seite ihres Vaters, geschickt wird. So pointiert und überraschend das Ende von „Dogville“ erscheinen mag – im Prinzip hat Trier das Neue Testament, bzw. das christliche Glaubensbekenntnis, dessen Schlusszeilen sich auf die Offenbarung des Johannes (die Weissagung der Apokalypse), beziehen, nur buchstabengetreu für seine „Bühne“ übersetzt:

 

Ich glaube an Jesum Christum,

Gottes eingebornen Sohn, unsern Herrn,

der empfangen ist vom Heiligen Geist,

geboren von der Jungfrau Maria,

gelitten unter Pontio Pilato,

gekreuziget, gestorben und begraben,

niedergefahren zur Hölle,

am dritten Tage auferstanden von den Toten,

aufgefahren gen Himmel,

sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.

von dannen er kommen wird,

zu richten die Lebendigen und die Toten.

 

„Dogville“ ist also nichts anderes als eine Verfilmung dessen, woran jeder bekennende Christ glaubt.

Die Rache von Grace und ihrem Vater mag alttestamentarisch scheinen, aber sie ist neutestamentarischen Ursprungs, und Jesus ist nicht nur für die Menschheit gestorben, wie es die Theologie immer so freudig verkündet – die Menschheit, jedenfalls der sündige und unbelehrbare  Teil davon, wird am Ende auch für Jesus, Gott, sterben müssen; in „Dogville“ muss ein verderbtes Dorf sterben, damit die Welt ein wenig besser wird, dergleichen ist ganz im Sinn und Stil der Johannes-Offenbarung.

 

Die Idee zu „Dogville“ kam von Trier durch das „Lied der Seeräuber-Jenny“ (Brecht/Weill) aus der "Dreigroschenoper". Das Lied der Seeräuber-Jenny" klingt tatsächlich wie eine Zusammenfassung des Films. Aber auch in der Brechtschen Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" gibt es eine Jenny. Der Name der Stadt Mahagonny soll auf ein sündhaftes Land „Magog“, wiederum beschrieben in der Johannes-Offenbarung, zurück gehen. Mahagonny, die „Goldstadt“, ist ein Ort der „geregelten Laster“ und „zeitlosen Vergnügungen“, gegründet für „all jene, die in der Welt der Arbeit keinen Raum zum Genuß finden“. „Ein Eldorado voll Gin und Whisky, Mädchen und Knaben“, in dem sich die Menschen bewußt dem „Geld als letzte Ordnungsinstanz“ unterwerfen. Maghagonny endet mit dem „Sich-Selbst-Verzehren der Genießenden“, die Oper ist eine „apokalyptische Vision des kapitalistischen Ethos“ (alle Zitate: „Kindlers neues Literaturlexikon“), und sie spielt, genauso wie „Dogville“, in einem abgeschiedenen Teil der USA. Das wahre, unmenschliche Gesicht der Stadt des Genusses Mahagonny tritt erst völlig nach einem Hurrikan zutage.

Der große Börsenkrach geschah 1929, 1930 fand die Uraufführung der Brecht-Oper statt. In den dreißiger Jahren, der Zeit der großen amerikanischen Depression, also quasi als Fortsetzungsgeschichte von „Mahagonny“ spielt „Dogville“. Nicht nur in seiner formalen Umsetzung also knüpft der Film bei Brecht an. Aber in „Dogville“ hilft Christus persönlich beim Untergang der sich selbst zugrunde richtenden Menschheit kräftig nach, indem er sie auslöschen lässt. 

So ist „Dogville“ zum Teil Brecht, damit teilweise Kapitalismuskritik, zum anderen Teil – und das stärker als bei Brecht – Exegese, also beinahe eine brave, buchstabengetreue Bibelauslegung. So ernst Trier dabei das Neue Testament nimmt, so kritisch hinterfragt er aber auch in seiner Adaption von Passion und Gericht Christi dessen moralische Qualitäten und kommt dabei zu einem mehr als durchwachsenen Jesusbild. 

 

Hatten sich die Film-Vorläufer von „Dogville“ an der Frage wundgearbeitet, wie konsequent ein Mensch in seiner Moral sein kann – das hieß, wie fest in seinem Glauben, wie unbeirrbar in seiner Demut und Vergebung – so fragt „Dogville“ nach der Moralität der demütigen Moral selbst.  Dass der Weg der Vergebung, des Prinzips, seine Feinde zu lieben, kein Zuckerschlecken ist, haben wir zur Genüge durch von Triers bisherige Filme erfahren, dass aber die Methode, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, auch mit der Arroganz des Gnade Erteilenden einhergehen könnte, dass eine permanente Unterordnung und Verfügbarkeit sogar eine Einladung zu Sadismus und Machtmissbrauch sein könnte, das ist neu in einem Werk des von Trier.

 

Grace, die uns den Eigensinn von Jesus verdeutlicht – der ja in dieser Version des Evangeliums zuhause, also vor seinem Vater, Gott, ausgebüchst ist, um Mensch zu werden und den Menschen als Mensch zum Guten zu verhelfen – begreift, dass ihre Selbstlosigkeit und ihr selbstauferlegtes Leiden anmaßend sind, weil sie an die anderen nicht dieselben Maßstäbe anlegt, die sie für sich selbst anlegen würde. Graces Mission ist ja eigentlich deshalb keine Mission, weil sie nicht von ihrem Vater geschickt wurde, sondern in dieser Trierschen Version das selbstverliebte Spiel eines besserwisserischen Kindes, welches nicht auf seinen Vater hören wollte, – der schon seit Tausenden von Jahren weiß, dass menschliches Versagen auf dem Fuß bestraft gehört.

 

Trier rechnet – vermittelst der zur Debatte gestellten Christus-Figur Grace – ab, nicht nur mit einer unmoralischen Welt, sondern auch mit einer Geisteshaltung der Toleranz und Vergebung, die es sich in ihrem selbstgefälligen Leiden bequem macht, sich geradezu darin gefällt, und gleichzeitig den Menschen Unrecht tut, weil sie ihnen die eigene Verantwortlichkeit für ihr Handeln nicht abverlangt und zugesteht, indem sie sie nicht zur Rechenschaft zieht. Die Mitmenschen sind für den Vergebenden nicht ebenbürtig, nicht gleichwertig. Die Politik der Vergebung ist deshalb eine ungerechte und egoistische, weil sie die Menschen nicht für voll nimmt – und im Kern ist sie sogar deshalb eine nicht einmal christliche, weil sie ja eigentlich nicht einmal daran glaubt, dass die Menschen sich bessern können…

 

Und hier beginnt der interessanteste Teil des Films, weil von Trier endlich einmal damit anfängt, die Grundzüge und Konsequenzen der christlichen Lehre, die er in seinen Filmen immer wieder in verschiedenen Varianten verarbeitet, reflektiert hat, zu kritisieren, oder besser: innovativ weiterzudenken. Bisher waren Triers Glaubens-Parabeln bis hin zum blanken Horror (Horror, ein nicht zu unterschätzender Bestandteil christlicher Herrschaft: am sichtbarsten am Kruzifix) innerhalb der Evangelien des Neuen Testaments befangen, nun scheint er bei Nietzsche nachgeschlagen zu haben, denn der Vorwurf der christlichen Arroganz und Ungerechtigkeit könnte ähnlich auch von Nietzsche stammen. Sein Schritt einer kritischen Distanz zum christlichen Urprinzip der Feindesliebe muss für Trier Einiges bedeutet haben. Dieser Schritt ist für den Katholiken Trier mindestens ein emanzipatorischer, in Anbetracht der letzten Filme Triers aber geradezu revolutionär.

 

Zusammengefasst mag der erste Teil der Lehre von „Dogville“ lauten: Der Mensch lernt nichts, solange man versucht, dessen Fehler zu erdulden, unter ihnen zu leiden, ohne sich zu wehren. Im ersten Ansatz erklärt von Trier also das Prinzip „Vergebung“ für falsch.

 

Gesetzt den (naheliegenden) Fall, dieses Dörfchen Dogville stehe nicht nur für ein waste land (hysterische Stimmen haben den Film sofort als USA-feindlich erkannt), irgendeinen Teil der Welt (der Film kommt ja mit Grace zum Ergebnis, dieser Ort müsse ausgemerzt werden, „damit die Erde ein bisschen besser wird) sondern für die Menschheit an sich (was ja beim ganz exemplarisch-abstrakten Gehalt der sozialen Strukturen im Dorf Dogville sich anbietet), ist der zweite Schritt von „Dogville“ aber ein viel größerer, denn dann impliziert er die Erkenntnis, dass es keinen Anlaß mehr gibt, auf das Gute im Menschen, oder auf eine Läuterung der Menschheit zu hoffen. Die Menschheit ist alle Aufopferung nicht wert, weil sie unfähig ist, zum richtigen, d.h. moralisch guten Leben, zu finden. Ohne diese Erkenntnis würde Grace sich nicht entschließen, dem Menschengeschlecht von Dogville ein wütendes Ende zu bereiten.

 

Aktueller Erkenntnisstand: Gott hat allen Grund auf die Menschheit böse zu sein, weil sie nichts mit seinen Plänen zu tun haben will. Mutmaßung: Aber mit dem Scheitern der Menschheit scheitert schließlich auch Gott, a) dessen Methoden den Menschen zum Guten zu erziehen versagen müssen, weil er, Gott, b) vergessen hat, den Menschen mit der Fähigkeit oder dem Willen zum Guten auszustatten,- so dass ihm nur noch die verärgerte Auslöschung der Menschheit bleibt. Diese programmatische, da von Gott geplante Zerstörung seiner eigenen Geschöpfe aber ist die Kapitulation Gottes, das Eingeständnis eigenen Versagens – mal ganz frei und atheistisch weitergesponnen das alles.

 

Das globale Dörfchen „Dogville“ ist in Wahrheit ein verkorkstes „Godville“, eine misslungene Schöpfung, die Perversion (Umkehrung) einer göttlichen Welt. Nicht nur wütend, sondern auch gekränkt und enttäuscht, aufgrund eigenen Versagens, zerstören Vater und Tochter diese Menschheit, ihre selbstgebastelten Puppen, die ihnen nichts als Ärger bereiten (eine Allegorie dazu im Film selbst sind noch einmal die Porzellanfiguren, die Grace so wie ihre Kinder liebt); allerdings mit einem wunderbar nachvollziehbaren Furor, der, je mehr er uns mitreißt, desto schön zermürbender an unsere political correctness – aber auch an die dieses „Gottes“ – appelliert.

 

Ich komme noch einmal auf Trier als Moralisten zurück: In Wahrheit ist er natürlich Gott – zumindest der seines „Dogville“ – und wenn er Lust hat, die doofe Menschheit niederzumetzeln, dann ist das nach seinen letzten Filmen nur allzu verständlich. Trier ist endlich richtig wütend geworden. Er hat sich endlich – wenigstens ein paar herzerfrischende Filmminuten lang – von diesem selbst als „arrogant“ bezeichneten Vergebungs- und Leidensprinzip befreit. Die Wucht der Rache von „Dogville“ steht auch im direkten Verhältnis zum unmenschlichen Grad des Leidens der „goldenen Herzen“ aus den letzten Trier-Filmen. Aber Triers Wut ist beides: eine persönliche und auch eine fundamental moralische Wut, die man – das ist ein Angebot des Films – befreit mitvollziehen kann, wenn man sich über den Zustand der Welt immer schon geärgert hat.

Und schliesslich haben wir dann doch so etwas wie eine Identifikationsfigur: Hier können wir uns wie Grace/Jesus, wie Gott in Dogville, nämlich als Rächer, fühlen, der all den gemeinen, verlogenen, Egoisten dieser Welt endlich die Strafe zukommen lässt, die ihnen gebürt. Denn sie haben es nicht besser verdient.   

 

Auch „Dogville“ behandelt wie alle anderen Trier-Filme die Frage nach dem Menschsein, nach Humanität, Freiheit, und Freiheit zur Moral im globalen Sinn, der Vereinfachung halber veranschaulicht anhand christlicher Synonyme. Gottes/Jesus’ Wut in „Dogville“ ist die verklausulierte Wut eines vielschichtig reflektierenden Regisseurs. Und mehr noch: Sie ist das Postulat eines Perspektiven- und Prämissenwechsels. Weil „Dogville“ das Scheitern des christlichen Gottes darstellt, impliziert der Film eine Abkehr vom Glauben an einen väterlichen Gott mit seinen schwachen, ewigen Kindern, und so auch eine Kritik an fundamentalen moralisch-religiösen Paradigmen einer Gesellschaft, die ihre Kultur aus christlichen Werten erschaffen hat, und (paradoxerweise) die Zuwendung zu einem Glauben, eher aber ein Appell, an eine erwachsene, sich selbst gegenüber verantwortliche, Menschheit. So gesehen ist „Dogville“ Statut für ein autonomes Erwachsensein, welches mit der Absage an christliche, protestantische Moralvorstellungen unserer europäischen (und damit der Wurzeln auch der US-amerikanischen) Kultur, die z.B. das Leistungsprinzip und damit die Grundlagen für all das Kapitalistische, was danach folgte, vermittelst Demut, Frömmigkeit und Fleiß, Selbstkasteiung und erhebendem Schuldgefühl, transportierten, einhergehen muss.

 

Aber er ist auch die verfilmte deutliche und vehemente Verurteilung einer egoistischen und unmenschlichen Menschheit, die, gerade, weil sie eben doch für ihre Fehler verantwortlich zu machen ist, ihre Unmoralität nicht mehr als „gottgegebenes Schicksal“ oder als dessen weltliche Entsprechung, als „Determination“ relativieren und diffusieren kann. Mit diesem Film leistet von Trier für das emotionale Bewusstsein der persönlichen Freiheit etwa das, was Sartre oder Camus intellektuell dazu beigetragen haben mochten. Aufregend und neu für Trier ist dabei, dass in sein pessimistisches und durchaus immer noch apokalyptisches Weltbild die Energie einer begründeten, moralischen Wut eingeflossen ist, die so lange nicht möglich war, solange sie durch jenen immanent christlichen Fatalismus blockiert war, der – wie eben auch das selbstauferlegte Martyrium – den moralischen, Eigenanteil am schlimmen Schicksal einer sich selbst gegenüber verantwortlichen Menschheit, verwässert hat.

 

Die Fotos, mit denen der Abspann des Films unterlegt ist, zeigen die Opfer einer Geselllschaft, deren oberste Werte deklariert christlicher und kapitalistischer Art sind. Menschen im sozialen Abseits der USA, von der Depressionszeit bis in die Gegenwart. David Bowie singt dazu „Young Americans“, ein kämpferisches Lied (dazu einer meiner Bowie-Lieblingssongs), dessen Text mich, offen gesagt, überfordert. Ich habe keine einzige Zeile darin mit einer nicht nebulösen, rätselhaften Aussage gefunden. Vermutlich geht es darin aber um so etwas wie einen Aufruf zum Aufruhr in einer schlechten und unüberhörbar amerikanischen Welt : Mit dem wiederholten Appell „I want the Young Americans“ endet es. Mit den Fotos und David Bowie kommt der Film in unserer Gegenwart an. Der Abspann ist reinster Protest und beste Agitation mit den rockenden Mitteln der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung in den USA der 60-er Jahre.

 

Grace ist nicht nur ein „Geschenk“, sie ist auch eine Asylsuchende, ein politischer Flüchtling, dem kein wirkliches, dauerhaftes Asyl gewährt wird, eine Schwächste der Schwachen, wie weiland Jesus und wie unzählige Migranten im reichen Teil der heutigen Welt, im sogenannten „vollen Boot“. Diese „USA“, in deren Rocky Mountains während der Depressionszeit „Dogville“ verortet ist, taugen als Beispiel für Triers Beschreibung einer Situation ebenso wie sein „Europa“, denn diese Dogville-Verhältnisse herrschen global, und sie sind nicht zufällig auf ein Heute übertragbar. Dass „Dogville“ also viel mehr als eine Amerikakritik ist, sollte unübersehbar sein. Trier hat übrigens schon gedroht, je länger sich die Amerikaner über seine „amerikafeindlichen“ Filme („Dancer In The Dark“ war angeblich ja auch schon einer) aufregen werden, desto mehr „Amerikafilme“ werde er drehen. Nach „Dogville“ sollen aber auf jeden Fall noch zwei „Amerikafilme“ folgen, wieder eine Trilogie, also.

 

Nichts gegen ein Leistungsprinzip übrigens, wenn Leistung so aussieht, wie dieser Film. Mein persönlicher Dank an Lars von Trier. Und wenn er mir im nächsten Film zeigt, dass er noch lange nicht fertig ist mit seinem Christentum, dann danke ich ihm erst recht: Dafür, dass ich in „Dogville“ so vieles sehen konnte, was er gar nicht gedreht hat. Denn erst darin beweist sich wahre Meisterschaft: Jedem Zuschauer seinen eigenen Film zu schenken.

 

Andreas Thomas

 

Dieser Text ist auch erschienen bei: ciao.de

 

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken

 

 

Dogville

DK/S/GB/F/BRD/NL-Coproduktion

Regie: Lars von Trier

Buch: Lars von Trier

Länge: 178 min

Jahr: 2003

Darsteller: Nicole Kidman, Harriet Andersson, Lauren Bacall, Udo Kier, James Caan, John Hurt, Ben Gazzara u.a.

Filmstart in Deutschland: 23.10.2003

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