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Dogville
Er hat’s wieder getan! Lars von Trier hat, nach Dancer in the Dark, erneut ein cineastisches Meisterwerk abgeliefert. Es
reduziert die Kino-Mittel radikal. Und nach dem Sehen erkennt man, dass der
ganze Rummel um die „Dogma“-Bewegung nichts anderes als ein satirisches Seitenprojekt
in der großen Kino-Versuchswerkstatt des Lars von Trier gewesen ist.
Dogville sieht auf den ersten Blick aus wie eine Mischung aus
einem unfertigen Bühnenset und einer Sprech- und Kostümprobe, wiedergegeben
so direkt wie möglich von einem Filmteam. In einer großen Halle sind
die Grundrisse eines Dorfes aufgemalt, einige sparsame Requisiten liefern Markierungen
für die Lebensweisen und Beziehungen der Bewohner. Den Rest, wie zum Beispiel
Türen und Fenster, muss man sich denken. Die von-Trier-üblichen Reißschwenks
verbinden die Dialoge; ein Off-Erzähler, mit ein wenig „Our Little Town“-Parodie, verbindet die zehn Kapitel, die mit altmodischen
Überschriften versehen sind, als gelte es, die literarische Konstruktion
der Fabel hämisch (und irreführend) auszustellen. Es gibt keinen Menschen,
den man auch nur ein bisschen mögen könnte. Es dauert drei Stunden,
in denen sich an diesen Grundmaterialien nichts ändert. Und das Ganze ist,
wie gesagt, ein cineastisches Meisterwerk.
Wie schafft von Trier es, einen so zu packen? Nicole
Kidman spielt Grace (Grace = Gnade!), eine junge Frau, die auf der Flucht vor
Gangstern ist. Mehr erfährt man erst einmal nicht. In dem kleinen Dorf
Dogville am Rande der Rocky Mountains findet sie Unterschlupf
in der Zeit der wirtschaftlichen (und moralischen) Depression. Hier geht’s wirklich
nicht weiter, die alte Silbermine am Ende des Dorfes ist auch das Ende der Welt.
Erst können die Bewohner nicht viel mit ihr anfangen, sie haben sich in
ihrem Elend eingerichtet. Aber dann bietet sie ihnen an, jedem von ihnen bei
irgendetwas zur Hand zu gehen: bei der Pflege des Gartens, bei der Apfelernte,
bei der Kindererziehung. Grace wird vielleicht zu alledem, was gefehlt hat,
in Dogville.
Die Gangster haben unterdessen den korrupten Polizeiapparat
in Gang gesetzt, ein Sheriff kommt ins Dorf und hängt Fahndungsplakate
auf. Die Haltung der Dorfbewohner beginnt sich zu ändern. Sie verlangen
mehr Arbeit, mehr Unterwerfung, die Macht sexualisiert sich, und die Sexualität
wird sadistisch – und damit ist die
Katastrophe vorbereitet. Ein Lehrstück, bei dem Grace nur als ein besonders
passives Objekt, wie eine Teorema-Figur
scheint, die für jeden und jede in Dogville etwas anderes bedeuten kann. Die interessanteste und
tückischste Figur in diesem kargen Spiel ist der Schriftsteller Tom (Paul
Bettany): der Künstler als opportunistischer Manipulator. Ein böses
Selbstbildnis auch. Grace wird von einer fröhlichen Bereicherung zu einer
Sklavin der zähesten Begierden, gepeinigt und gedemütigt. Man nimmt
ihr auch das Liebste, eine Sammlung von Figuren, die sie sich als einzige Art
der Belohnung für ihre Arbeit zusammengekauft hat. Auch ein Fluchtversuch
scheitert an Gier und Bosheit der Dogville-Menschen.
Im letzten Kapitel erst dreht sich alles um: Die Gangster
erscheinen im Dorf, und es stellt sich heraus, dass der Boss (James Caan) der
Vater von Grace ist. Was wird sie, da sie nun wieder mit dem Vater und seiner
mächtigen Gewalt vereint ist, mit den Menschen tun, die so mit der „Gnade“
umgegangen sind?
Dass Trier wieder einmal seiner Obsession für leidende
Frauen nachgibt, kann man kritisieren. Oder auch nicht. In Dancer in the Dark, seinem Musical mit Björk, ging er damit an die
Grenze zum Transzendentalen, in Dogville bleibt er auf der Ebene der materialistischen Analyse.
Und nicht erst das letzte Kapitel weist deutlich genug auf Bert Brecht. Allerdings:
Worin die Lehre in diesem Lehrstück besteht, das ist nicht mehr ganz so
einfach zu bestimmen.
Deutlich dagegen die Kino-Lektion: das Sichtbarmachen
durch das Verschwinden-Lassen. Lars von Trier macht mit dem Kino, was Kandinsky
mit der Malerei macht, Robert Walser mit der Literatur und Captain Beefheart
mit dem Blues. Ganz direkt erscheinen die Bewegungen der Kamera, die der Regisseur
selbst geführt hat, wie wuchtige Pinselstriche, abgebrochen und neu angesetzt,
aber immer mit Bedacht, in einem strengen, körperlichen Rhythmus. Die malerische
Geste bleibt sichtbar, der Atem in der Musik, der Bleistift im Text. Nicht die
Erzählung, sondern das Material einer Erzählung wird ausgebreitet,
nicht das Bild, sondern woraus es besteht. Trier lässt nicht nur das „Überflüssige“
beiseite, das formale Experiment will vielmehr auf das hinaus, was jenseits
der formalen Experimente liegt. Deshalb kann man bei Dogville, obschon doch so gar nichts „real“ erscheint, immer
wieder vor Schmerz und Zorn aufstöhnen, während man zugleich die Schönheit
der Wort/Bild-Komposition erkennt, die sich von aller Konvention befreit, indem
sie einfach benennt.
Eine besondere Gemeinheit ist dann noch der Abspann,
der Fotos vom elenden Amerika zeigt, vom Ende des Menschen auf den Straßen
der Ghettos, vom White Trash in den Appalachen, von Ausbeutung und Gewalt. Und
dazu singt David Bowie „Young Americans“. Nein, es war keine allgemein menschliche
Metapher, scheint dieser Nachspann zu sagen, ich habe wirklich „Amerika“ gemeint
mit meiner Klage und Anklage. Aber mehr noch ist es ein Hinweis, wie der Widerspruch
aufzulösen sei, zwischen der Abstraktion und dem Konkreten im Kino.
Georg Seeßlen
Lars von Trier setzt in Dogville seinen Weg der Reduktion der filmischen Mittel unbeirrbar
fort. Vielleicht treibt er damit eine Menge Leute aus dem Kino. Aber diejenigen,
die bleiben, können ein kleines Wunder erleben: ein Kino, das an den Grenzen
der Bilder beginnt.
Diese Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere kritiken
Dogville
USA/Frankreich/Schweden
2003. R, B: Lars von Trier. P: Vibeke Windelov. K:
Anthony Dod Mantle. Sch,
T: Molly Malene Stensgaard. A: Peter Grant. Ko: Manon Rasmussen. Pg: Zentropa,
Isabella, Something Else, Memfis, Trollhattan, Pain Unlimited, Sigma/Zoma. V:
Concorde. L:
178 Min. Da: Nicole Kidman (Grace), Harriet Andersson (Gloria), Lauren Bacall
(Ma Ginger), Paul Bettany (Tom Edison Jr.), James Caan (The Big Man), Philip
Baker Hall (Tom Edison Sr.).
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