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Der diskrete Charme der Bourgeoisie

…und das psychotische Universum des Luis Buñuel

 

In den Filmen von Buñuel ist es mit der Wirklichkeit so eine Sache: bisweilen existiert sie nur als Diskurs der jeweils Anderen. So besonders in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ von 1972. Die Ereignisse, die die Welt dieses Films konstituieren, sind größtenteils einander abwechselnde Träume der Protagonisten, zwischen deren Perspektiven die Erzählung hin und her geworfen wird. Wir wachen aus dem einen Traum auf und sind sofort in einem anderen, der sich wiederum nur als Traumwelt erweist. Eine imaginäre Wirklichkeit, die sich in immer neuen Spiegelungen endlos selbst reflektiert, ein Durcheinandergleiten gegenseitiger Verweisungen ohne festen Haltepunkt. Die symbolische Ordnung ist in Privatbilderwelten aufgespalten.

 

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: eine Gruppe von sechs Angehörigen der Bourgeoisie – bestehend aus zwei reichen französischen Ehepaaren, einer jungen Frau sowie dem Botschafter von Miranda – plant ein stilvolles Essen im kleinen Kreis, das jedoch aufgrund ständiger Zwischenfälle und Missverständnisse immer wieder verschoben werden muss. Mal kommen die Gäste am falschen Tag, mal müssen die Gastgeber noch miteinander schlafen, woraufhin die anderen Gäste nach 20 Minuten vergeblichen Wartens ratlos wieder abziehen. Soweit die Haupthandlung, die sich in zahlreiche Nebenstränge aufspaltet, in denen unter anderem Geistliche, Kommissare, Gefängniswärter, Terroristen und melancholische Soldaten eine Rolle spielen. Eine absurde Handlung, in der die dekadente Welt der Obrigkeit einmal mehr gnadenlos auf die Schippe genommen wird.

 

Das Besondere aber ist die Erzählweise des Films, die ab der zweiten Hälfte zu einem Großteil aus Träumen der verschiedenen Protagonisten besteht. Der eine Bourgeois träumt das Leben des anderen und umgekehrt. Um genau zu sein: einmal träumt sogar der eine Bourgeois, dass ein anderer Bourgeois etwas geträumt habe. Mit jedem dieser Rahmenwechsel der Erzählung wird der gesamte Wirklichkeitsstatus des bisherigen Films in Frage gestellt, und entsteht zugleich ein neuer, Konsistenz verleihender Bezugspunkt – zumindest für kurze Zeit.

 

Irgendwo inmitten dieser Aneinanderreihung von Traumsequenzen wird die Bourgeoisie einmal von der Kriminalpolizei verhaftet, weil der Botschafter – ein auch ansonsten wenig empfehlenswertes Subjekt – ausgiebig mit Kokain handelt. „Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie.“ – Aber was für ein Gesetz eigentlich? Die Gesetze sind hier allzu deutlich nur eine unmittelbare Verkörperung der jeweils herrschenden Klasse. „Befehl ist Befehl“, man ahnt: hinter der zivilisierten Oberfläche der bürgerlichen Ordnung lauern durchaus unappetliche Klassenverhältnisse, niedergeschlagene Aufstände, Gefolterte und Ermordete. Oder, wie es der Botschafter von Miranda mit einem Lächeln auf den Lippen zu formulieren weiß: „Wir haben im Grunde nichts gegen Studenten, im Gegenteil. Aber … was macht man, wenn einem zuhause die Schmeißfliegen um die Ohren brummen? Man nimmt eine Fliegenklatsche und Batsch-Batsch.“

 

Gegen Ende wird die Bourgeoisie dann – im Traum des Botschafters – von seltsam neurotischen Gangstern erschossen, die in Buñuels Welt neben Pfaffen, Bonzen und Polizisten eine ebenfalls prominente Stellung einnehmen. Der Film klingt schließlich mit einer bereits einige Male vorher gezeigten Szenerie aus, in der die sechs Bourgeois gemächlich schweigend eine Landschaft durchschreiten, die aus einem Spitzweg-Gemälde stammen könnte. Ist dieses banale Szenario nun die „Wirklichkeit“? Der ganze Begriff ist bereits obsolet geworden. Es fehlt, um es mit Lacan auszudrücken, der Herrensignifikant, der alles zusammenhält und legitimiert.

 

Letztlich ist es ein psychotisches  Universum, das uns Buñuel – im Grunde seit seinem ersten Film „Ein andalusischer Hund“ (1929) – präsentiert. Überall lauern psychotische Elemente, bisweilen gar die berühmten „Partialobjekte“ wie etwa die abgehackte, aber lebendige Hand in „Der Würgeengel“ (1962). In „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ ist diese psychotische Dimension am deutlichsten ausgeprägt: jeder der Träume der Protagonisten endet im Trauma. Ein Bourgeois träumt, plötzlich (zusammen mit der gesamten Bourgeoisie des Films) auf einer öffentlichen Bühne inmitten eines Theaterstücks zu stehen, aber er hat keine Rolle zu sprechen: „Mein Gott, wie komm ich denn auf die Bühne? Ich kenne meinen Text gar nicht!“ Das Publikum beginnt schon ungemütlich zu werden.

 

Jeder ist getrieben von einer jeweils individuellen Angst vor dem Trauma, dem Angriff von außen, dem Zusammenbruch der eigenen Konsistenz: ein bedrohtes, traumatisches Universum, das die herrschende Klasse da bewohnt. Aber sie nimmt es mit Gelassenheit, eben das ist ihr diskreter Charme. „Was rauchen Sie denn da so genießerisch, Colonel?“ – „Erstklassiges Marihuana! Möchten Sie einen Zug?“

 

Am spürbarsten ist das drohende Trauma im Gefängnis, in das die Bourgeoisie zeitweise eingesperrt wird. Dort hat ein Kommissar das Sagen, der von seinem Kollegen träumt, der (im Traum) längst tot ist, aber einst für seine Foltermethoden bekannt war und der irgendwann „bei einer Demonstration erledigt“ wurde. An jedem 14. Juni, dem „Tag des blutigen Kollegen“, kehrt er als blutüberströmter Zombie ins Gefängnis zurück, „um für seine Sünden zu büßen“, und öffnet dabei alle Zellentüren – da bekommt nicht nur die inhaftierte Bourgeoisie weiche Knie, sondern auch der Zuschauer. Buñuels Film hat an dieser Stelle deutliche Horrorfilm-Anleihen, vom Stil her auf ganz ähnliche Weise wie einige Sequenzen aus den späten Hitchcock-Filmen wie „Marnie“ (1964) oder der im selben Jahr wie Buñuels Film gedrehte „Frenzy“ (1972). Nach dem Erwachen fragt ihn sein Kollege, der Gefängniswärter: „Was ist denn mit Ihnen los, Kommissar?“ – „Hm? Ach nein nein, es war nichts. Ich habe geträumt, Sie hätten die Bande aus dem Loch gelassen.“ – „Wer, ich?“ – „Ja, Sie. Und Sie sahen aus wie’n frisch geschlachteter Bulle.“ Nach einer Pause fügt er hinzu: „Ach, diese Träume sind aber auch manchmal… zu albern.“

 

Das symbolische Universum stürzt ein, aber sofort wird alles verdrängt und als alberner Traum abgetan. Doch jeder hier hat solche Träume, jeder träumt das eigene Trauma gleichermaßen wie das Leben der Anderen und verleiht dadurch den Filmereignissen erst ihre Existenz. Wirklichkeit ist hier, wenn mehr als eine Person davon träumt. So etwa die Grundsituation des Films und seine Personen: eine Gruppe Menschen, die sich immer wieder zum Essen verabredet. Der eine ist Botschafter und Drogendealer, die anderen sind gesellschaftlich eher funktionslos: zwei Ehepaare mit mehr oder weniger großem Sinn für die Feinheiten eines trockenen Martini. Und es gibt die jüngere Schwester einer der Frauen, die nicht so recht in die Runde passt und wahrscheinlich eher mit den Terroristen paktieren würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte. Womöglich wäre sie als eine Art skeptisch-distanzierte Außensicht auf das System Bourgeoisie entzifferbar, als Außen im Inneren des Systems – wenn sie nur nicht ständig betrunken wäre. Ein geordnetes Universum entsteht aus diesen Grundelementen jedenfalls nicht. Außer in Bezug auf die Klassenzusammensetzung seiner Figuren und seine eigene politische Intention bleibt der Film in der Schwebe der aufeinander verweisenden Traumwelten der Protagonisten. Ein Labyrinth der Interpretation, und: „Wenn Mao das gesagt hat, dann hat er Freud falsch verstanden.“

 

Die Formel des Gesetzes, das Substrat der Verschwörung, der Konsistenz verleihende Name-des-Vaters wird am Ende sogar per Telefonat ausgesprochen: als nämlich der Innenminister (Michel Piccoli, der übrigens exakt aussieht wie Jean Baudrillard zwanzig Jahre später) den Kommissar anweist, die gefangene Bourgeoisie wieder freizulassen. Hier ist man kurz davor zu erfahren, wie die Hochleistungsstromnetze der Oberleitung geknüpft sind und wer die Fäden des Weltgeschehens in der Hand hält. Aber Flugzeug- und sonstiger Lärm übertönt die Preisgabe dieses absoluten Geheimnisses vor dem Zuschauer – und vermutlich wäre die unterschlagene Information ebenso trivial gewesen wie die Unterhaltungen der Bourgeoisie, die Buñuel spöttisch nachzeichnet. Das Element, das die verlorengegangene Ordnung des Diskurses zusammenhalten könnte, der Herrensignifikant, ist in Wirklichkeit völlig bedeutungslos.

 

In einer Szene muss der Bischof einem alten Mann aus der Unterschicht „die letzte Ölung geben“, der sich bei Abnahme der Beichte als der Mörder seiner, des Bischofs, Eltern entpuppt. Er war Gärtner der Familie, der von seinen Herren geschlagen und misshandelt wurde, bis eines Tages das Maß voll war, wie der im Sterben Liegende mit letzter Kraft berichtet. Großzügig erteilt der Bischof ihm daraufhin im Namen Gottes die Absolution: „Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit vergibt allen reuigen Sündern. Gott selbst hat es gefallen, uns beide jetzt zusammenzuführen. Und nun schließe die Augen, halte innere Einkehr und bete, dass unser Heiland Jesus Christus dir verzeihe, ebenso wie ich selber dir deine Sünden verzeihe. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, gehe hin in Frieden.“ Dann, beim Hinausgehen, erschießt er ihn mit einer Schrotflinte. Kein Gott, der ihn bestraft. Aber im Hintergrund des Films wartet, wie immer bei Buñuel, das Proletariat mit Gewehren auf seinen Einsatz.

 

Samuel Strehle

 

Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken

 

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

(Le Charme discret de la Bourgeoisie)

Frankreich, 1972

Regie: Luis Buñuel

Buch: Luis Buñuel / Jean-Claude Carriere

Darsteller: Fernando Rey, Delphine Seyrig, Stéphane Audran, Bulle Ogier, Jean Pierre Cassel und als Gast: Michel Piccoli

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