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Die
Dinge des Lebens
Nur ein Hauch von
Bedeutung
Im Grunde könnte Claude Sautets "Les choses
de la vie" auch "einfach" "Accident" heißen –
was mehr als nur Unfall heißt: Unfall plus Zwischenfall plus Weichenstellung.
Es geht also um ein Ereignis in der Biographie eines Menschen, das ihn aus der
gewohnten Bahn wirft, das ihn Rückschau halten lässt, das sein Leben
in seiner Erinnerung passieren lässt, das ein Resümee hervor treibt,
hervor treiben muss. Dabei handelt es sich also um ein Ereignis, das eine Art
Zwang dazu auslöst, wie es bei Menschen kurz vor ihrem Tode vorkommt –
einen Zwang, in die Retrospektive des eigenen Lebens einzusteigen.
In der Geschichte Sautets trifft ein solches Ereignis
den Straßenbauingenieur Pierre (Michel Piccoli), einen fast gelassen wirkenden
Mann, der von seiner Frau Catherine (Lea Massari) getrennt lebt und eine Beziehung
mit der Übersetzerin Hélène (Romy Schneider) hat. Auf der
Landstraße erwischt es Pierre, als er mit überhöhter Geschwindigkeit
in einen Kleinlastwagen an einer Kreuzung fährt, dem der Motor nicht anspringen
will. Pierres Wagen kommt von der Straße ab, er selbst wird hinaus geschleudert
und liegt – halb bewusstlos – im Gras.
Sautet erzählt
die Geschichte Pierres in Rückblenden, in denen sich Pierre an entscheidende
Ereignisse seines Lebens der letzten Jahre erinnert. Davon überzeugt, den
Unfall zu überleben, glaubt er – halb ohnmächtig, halb wach – an eine
Fortsetzung seines bisherigen Lebens in den gleichen Bahnen. Vor Jahren trennte
er sich von seiner Frau Catherine, mit der einen Sohn, Bertrand (Gérard
Lartigau), hat und lebt seither mit Hélène zusammen. Allerdings
ist dieses Zusammensein für Hélène getrübt durch die
Entscheidung Pierres, sich nicht vollständig von seiner Frau zu trennen.
So will Pierre nicht auf die Annehmlichkeiten einer Yacht und einiger anderer
"Dinge des Lebens" verzichten, etwa die Insel, auf der die Familie
stets Ferien machte, auf die Feste, die dort gefeiert wurden, während Hélène
vergeblich versucht, Pierre zu einem gemeinsamen Urlaub mit ihr zu bewegen.
Pierre erinnert sich an eine Autofahrt mit Hélène,
in der sie ihm ins Gesicht sagte:
"Du liebst mich, weil ich da bin.
Aber wenn du auch nur über die
Straße müsstest, um zu mir zu
kommen, wär’ dir das zu viel.
Du bist nur noch bequem."
Pierre schweigt zu solchen Äußerungen,
wie er stets dazu geschwiegen hatte. Sautet lässt diese verschiedenen Perspektiven
nicht nur nebeneinander existieren; er zeigt, wie unvereinbar Pierres Bedürfnisse
mit denen der anderen sind. Piccoli spielt sehr überzeugend einen Mann,
der sich darstellt wie ein Reisender, ein ewig Suchender, der nie dort ankommt,
wohin er will, weil er nicht weiß, wohin er will. Er weiß nur eines:
Er will bestimmte Dinge seines Lebens nicht aufgeben, keine Kompromisse eingehen,
keinen Rückzieher machen. Aus der Perspektive Hélènes jedoch
ist dieses Verhalten Pierres Bequemlichkeit respektive Entscheidungsunfähigkeit.
In der unfallbedingten Erinnerung Pierres aber erscheint
sein Leben völlig in Ordnung. Selbst den Brief, den er Hélène
kurz vor dem Unfall schreibt, aber nicht abschickt, und in dem er eine Trennung
von ihr erwägt, ist im Grund nur Ausdruck davon, dass er meint, Hélène
könne ihn nicht verstehen, weshalb eine Verbindung mit ihr zu schwierig
werden könnte. Noch als Schwerverletzter denkt er dann aber nur daran,
dass der Brief Hélène nicht erreichen soll – bis ihn Catherine
findet und zerreißt, weil sie ihren Mann vielleicht besser versteht.
Der Tod schleicht sich schneller heran, als Pierre
dies dachte. Und fast schon leise und kaum merkbar, in aller Stille sozusagen,
endet der Film, wie er enden muss: mit zwei Frauen, die einen Mann liebten,
den sie nie wiedersehen werden.
Kein Zweifel: Piccoli und Romy Schneider sind auf
ihre Art wunderbar in diesem Film Sautets. Auch die Wechsel in der Inszenierung
zwischen dem Geschehen nach dem Unfall und den Erinnerungen Pierres sind durch
die Kamera oft exzellent eingefangen.
Trotz alldem jedoch kann ich mit "Die Dinge
des Lebens" wenig anfangen. Sautet suggeriert in der ganzen Art der Inszenierung
etwas Bedeutsames, etwas Wichtiges, das sich in einem alltäglichen Geschehen
offenbaren soll – dem Unfall und seinen Folgen. Ich sehe in diesem Versuch nicht
mehr als einen Versuch, letztlich eine Täuschung, die einer Art Selbsttäuschung
geschuldet ist. Es mag nicht nur sein, es ist oft so, dass sich in alltäglichen
Situationen durchaus Dinge finden lassen, die man als Dinge des Lebens filmisch
so aufbereiten kann, dass sie etwas Bedeutendes aussagen, mit denen das Publikum
etwas anfangen kann, etwas "in der Hand" hat, über die es nachdenken
kann, denen es nachempfinden kann.
Anders bei Sautet, bei dem ich nichts wirklich Bedeutendes
erkennen kann. Reduziert man den Film auf die dargestellten Fakten, so bleibt
ein Mann, der auf bestimmte Dinge nicht verzichten kann und will, eine Frau,
die ihn liebt, aber mit dieser seiner Lebensweise nicht einverstanden ist, und
eine Frau, die eine Art freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Ex-Mann
pflegt, ihn möglicherweise immer noch liebt. Was Sautet jedoch daraus macht,
ist unbefriedigend. Denn nur über filmische Zeichen, über nicht mehr
als visuelle, formale Codes dieser Situation – die noch nicht einmal ein wirkliches
Geschehen repräsentiert – etwas abzugewinnen, etwas Substantielles zu entnehmen,
muss scheitern. Und es scheitert.
Exemplarisch dafür ist eine Szene, in der Pierres
Sohn Gérard seinem Vater eine an sich nutzlose Erfindung zeigt, die allerdings,
so sagt er, offenbar reißenden Absatz findet. Pierre reagiert darauf,
wie oft, mit Schweigen. Und während in diesem Schweigen so etwas wie seine
Mentalität zum Ausdruck gebracht werden soll – die wir allerdings schon
zur Genüge aus anderen Szenen kennen -, suggeriert Sautet in dieser Szene
wiederum etwas Bedeutsames, wo nichts an Bedeutung zu finden ist.
Letztlich bleibt damit am Schluss des Filmes etwas,
was andere Kritiker an Sautet rühmen, nämlich der Hauch von etwas
tief Empfundenem, etwas Wichtigem usw. mir ein wenig zu wenig. Ähnliches
gilt für die Tatsache, dass Piccolis Pierre ständig raucht. So viel
wie in diesem Film hat ein Schauspieler wahrscheinlich in anderen Filmen nie
geraucht. Auch in diesem Kettenrauchen liegt dieser Hauch von Wichtigem, das
Pierres Mentalität charakterisieren soll. Für mich sind es gerade
diese zumeist nur äußerlichen Zeichen, die Sautet in "Die Dinge
des Lebens" inflatorisch einsetzt, die dem Film einen Schein geben, hinter
dem aber die eigentliche Geschichte, die sowieso wenig Substanz hat, endgültig
verblasst. Überhaupt leidet der Film daran, dass die Grundidee – Pierre
zwischen (?) zwei Frauen und sein Weg in der Erinnerung an sein Leben – kaum
in den Dialogen, aber noch weniger in den Bildern Widerhall findet. Wenn Romy
Schneider am Schluss nach Pierres Tod aus dem Krankenhaus geht und das Bild
vor unseren Augen verschwimmt, kommt gerade in dieser Schlussszene – unfreiwillig
– zum Ausdruck, was von dem Film bleibt: etwas Verschwommenes ohne wirklichen
Gehalt.
DVD
Sprachen: Deutsch
(Dolby Digital 1.0) Französisch (Dolby Digital 1.0)
Untertitel: Deutsch
Bildformat: 1.66:1,
16:9
PAL
DVD Erscheinungstermin:
22. April 2006
Der Film ist als
Nr. 60 in der Reihe "Süddeutsche Zeitung | Cinemathek" erschienen
und bietet den Film in exzellenter Bild- und Tonqualität zu einem (wie
in dieser Reihe üblich) annehmbaren Preis von € 9,99 im Einzelverkauf.
Wie gewohnt bieten die Filme dieser Reihe kein Bonusmaterial auf der DVD, dafür
aber eine Kurzrezension eines SZ-Redakteurs, in diesem Fall vom Regisseur Hans-Christian
Schmid.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Die
Dinge des Lebens
(Les
choses de la vie)
Frankreich
1970, 82 Minuten
Regie:
Claude Sautet
Drehbuch:
Jean-Loup Dabadie, Paul Guimard
Musik:
Philippe Sarde
Kamera:
Jean Boffety
Schnitt:
Jaqueline Thiédot
Ausstattung:
André Piltant
Darsteller:
Michel Piccoli (Pierre Bérard), Romy Schneider (Hélène),
Gérard Lartigau (Bertrand Bérard), Jean Bouise (François),
Lea Massari (Catherine Bérard), Henri Nassiet (Pierres Vater)
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