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Die
mit der Liebe spielen
L’AVVENTURA (DIE MIT DER LIEBE
SPIELEN) erzählt von Liebe und Ungewißheit. Die äußeren
Ereignisse sind ein Netz mysteriöser Geschichten um Täuschung, Verschwinden
und spekulative Nachforschung. Die inneren Ereignisse der Liebe zwischen Claudia
(Monica Vitti) und Sandro (Gabriele Ferzetti) gehen aus den äußeren
hervor, folgen den objektiven Rätseln wie einer unlösbaren Aufgabe,
changieren aber deren Gewichtung durch ihre subjektive Intensität. Sie
schlagen ihre eigenen Tempi und Richtungen ein mit Pausen, Umwegen und Sackgassen.
Anders als früher erzählt
Antonioni in L’AVVENTURA vollkommen präsentisch. Noch Aldo in DER SCHREI bricht auf seiner Irrfahrt zusammen,
weil er in einer archaischen Obsession die sieben Jahre seiner vor dem Film
liegenden Geschichte mit Irma nicht vergessen kann. Vorgeschichte und Nebengeschichten
sind in L’AVVENTURA dagegen sichtbar als Facetten des rätselhaften Phänomens
in der Beziehung zwischen Claudia und Sandro: Ungewißheit über die
Präsenz des geliebten Menschen und deren Bedeutung, Liebe und ihre Kehrseite:
das Vergessen. Während eines Segelausflugs zu den Liparischen Inseln reißt
Sandros Beziehung zu Anna (Lea Massari) plötzlich mit deren Verschwinden
ab und daraus folgt eine Reise durch Sizilien, doppelt bedeutsam als Spurensuche
nach Anna und neue Liebesgeschichte von Sandro und Claudia, Annas Freundin.
Momente von Wiederholung und Verkehrung verbinden die auseinander entwickelten
und gegeneinander abgesetzten Erlebnissphären der Figuren: Anna resümierte
ihre Zweifel an Sandros Liebe während des Segelausflugs und ist plötzlich
nicht mehr da, Claudia stellt später zweifelnd Fragen zu ihrer irritierenden
Erfahrung mit Sandro, aber deutet am Ende mit einer Geste ihr Bleiben an, als
er, banaler als zu Anfang mit Anna, seine Liebe in einer Momentaffäre vergessen
hatte.
Sinnlich prägnante Oberflächensituationen,
in denen Da-Sein oder Weg-Sein des Partners, demonstratives Suchen und Finden
eine Rolle spielen, sind die Episoden um die Freunde der Protagonistenfiguren,
eine Gruppe wohlhabender Adliger und Geschäftsleute und ihre vernachlässigten
Frauen. Es sind pointierte Minimal-Geschichten mit eigener Dynamik und überraschenden
Kehrtwendungen, die komisch-grausam von Kränkung, Treue und Betrug erzählen.
Die offene Erzählform irritiert
dramaturgische Konventionen, d.h. die klaren hierarchischen Prinzipien von Kausalzusammenhängen
und beschreibt Abweichung von der eingeschlagenen Richtung, Ablenkung vom Gewicht
der Fakten, Verkehrung im Maßstab der Gefühle und Sinne als die Verirrung,
die notwendig der Weg durch ein Labyrinth ist. In den Erfahrungen unterwegs
besteht das Abenteuer, das der Originaltitel anspricht. Claudia erlebt es am
intensivsten, in ihr überschneiden und überlagern sich die Paradoxien
der äußeren und inneren Ereignisse: sie findet klare Gedanken wichtig,
aber Klarheit erfährt sie darüber, daß nichts eindeutig und
gewiß ist und die Zeichen nur vorübergehend einen subjektiven Sinn
erhalten.
Die visuellen Formen des Films
sind komplexe Fortführungen und Erweiterungen von Antonionis Erzählmitteln,
wie differenzierte Sprechweisen in unterschiedlichen Situationen.
Zur Montage in der Einstellung,
die über Kamerafahrten mehrere Handlungsdimensionen gleitend verknüpft,
kommen in L’AVVENTURA Achsensprünge hinzu, die die Sicht verschiedener
Personen auf dieselbe Situation zeitdehnend voneinander trennen und in der suggestiven
Wirkung zugleich intensivierend verschmelzen, sprechende Zeichen vorsprachlicher
Beziehungen. Das für Antonioni neue Breitwandformat nutzt er zu ungewöhnlichen
Großaufnahmen, in denen der Ausdrucksreichtum der Physiognomien die Erlebnismomente
vieldeutig abbildet. In Szenen der Begegnung mehrerer Personen sind einzelne
oft in optische Einrahmungen inszeniert, die ihre Isolation und Besonderheit
signalisieren. Aufwendiger als je zuvor ist der Film untermalt mit einer Geräuschkomposition
von Wind, Wasser und Eisenbahnlärm, so daß in den emotional dichtesten
Szenen assoziativ die vorhergegangenen gegenwärtig sind[»Ich messe dem Tonband eine enorme Bedeutung zu, und ich
versuche immer, größte Sorgfalt darauf zu verwenden. Und wenn ich
vom Tonband spreche, spiele ich auf natürliche Töne an, Geräusche,
mehr als Musik. Für L’AVVENTURA habe ich eine große Menge von Geräuscheffekten
aufnehmen lassen. Für mich ist das die wahre Musik, die zu den Bildern
paßt.« M.A. im Gespräch mit Andre Labarthe in Cahiers du Cinema,
Nr. 112, Oktober 1960].
Alle diese Mittel schaffen eine Atmosphäre magischer Gleichzeitigkeit,
eine Inversion, die Bewegung in einem Zustand.
Die Musik Giovanni Fuscos, mit
dem Antonioni oft zusammenarbeitete, ist hier noch sparsamer und leiser eingesetzt:
ein sanftes Klarinetten- und Oboen-Motiv. Die Musik ist weicher melancholisch
als die klare Klavier-Melodie, die Aldos Isolation unterstrich und von der satteren
Harmonika des Anfangs von IL GxiDO absetzte und ist nicht so irritierend kontrapunktisch
wie in den Saxophon-Soli der dramaturgisch geschlosseneren Filme zuvor
[Zu Antonionis Zusammenarbeit mit Fusco und seine Kritik an konventioneller
Filmmusik: M. A. in: Die Krankheit der Gefühle 5.105, Giovanni Fusco, Antonioni
und die Musik, in Pierre Leprohon, S.152ff. Darin beschreibt er die heftigen
Diskussionen zwischen ihm und dem Regisseur, der ein Musikkenner ist, und die
erbitterten Auseinandersetzungen um zunehmende Reduktionen].
L’AVVENTURA beginnt mit der dissonanten
Verabschiedung Annas von ihrem Vater. Auf der Straße zwischen Abrißgrundstücken
und der opulenten alten Villa des Ex-Diplomaten geht das Gespräch um die
zunehmende Stadt-Zerstörung über in einen routiniert klingenden Schlagabtausch
zwischen Vater und Tochter, weil sie ihn allein läßt zugunsten Sandros,
der sie nicht heiraten wird. Wie alle Frauen in Antonionis Filmen ist es Anna,
die nicht heiraten will, was der Vater aber für dasselbe hält. Mit
Claudia holt Anna Sandro in Rom ab.
Lea Massari spielt die brünette
Anna gereizt, schroff, impulsiv, Monica Vitti ihre blonde Freundin Claudia offener,
mit im ganzen Film wiederkehrenden Ausbrüchen von Spiellust und Amüsement
über zufällig Beobachtetes.
Anna sieht Sandro selten, ist
unzufrieden über die Trennung, die ihr andererseits – bequem – Raum lasse
für ein eigenes Leben. Sie geht hinauf zu Sandro, obwohl er seine Reisefertigkeit
vom Fenster aus ankündigt, fixiert ihn abschätzend, distanziert sich,
auf den Balkon hinaustretend, von ihm, kleidet sich aus. Sandro zögert,
weil Claudia wartet, und während er den Vorhang schließt, ist Claudias
optische Gegenwart im Fensterausschnitt ein erstes Signal der Dreiecks-Konstellation.
Die subjektive Zeit der folgenden Liebesszene ist dargestellt in der Parallelmontage
von Claudias Besuch einer Galerie und den Bildern des Paares in der Wohnung.
Antonioni zeigt die Köpfe groß am unteren Bildrand, Annas erstaunt-erschreckten,
nie gelösten Gesichtsausdruck gegen den nach außen verweisenden Fensterausschnitt
mit der heraufblickenden Claudia. Später gibt es eine optische Entsprechung
in der Liebesszene zwischen Claudia und Sandro an einem Wegrand in Sizilien.
Da ist die subjektive Intensität ihres Glücksmoments eingebunden in
ein weites leeres Landschaftsbild.
Sandros Wohnung hat die Rundbögen
eines ehemaligen Klosterraums, – eine optische Korrespondenz zu den vielen Kirchenfassaden
in den folgenden Reiseszenen, die alle beiläufige, nicht thematisierte
Splitter omnipräsenter Alltagskultur bleiben.
Auf der Yacht werden in knappen
Episoden die Freunde eingeführt: Corrado, ein charmanter älterer Zyniker
(James Addams) und seine eher passive Freundin Giulia (Dominique Blanchar).
Raimondo (Renzo Ricci), ein trocken-ehrlicher Mitläufer-Typ haßt
das Tauchen, steigt aber ins Wasser, weil man sich anpassen müsse. Er klagt
komisch, daß die von ihm verehrte Prinzessin Patrizia (Dorothy de Poliolo)
sich nicht verführen lasse, sie sei treu aus Trägheit. Giulia erscheint
anfangs als das hilflose Opfer der zynischen Bemerkungen Corrados – um Corrado
nahe zu sein, beteiligt sie sich an der Suche nach Anna. Patrizia demonstriert
dagegen, wie lästig ihr das Ereignis ist, das sie aus ihrer schattigen
Kabine zwingt. Gegen Ende des Films verkehren sich die Interessen und Sensibilitäten
völlig: Giulia involviert Claudia als Zeugin demonstrativ in eine kindlich-schüchtern
initiierte, eitel-genießerische Liebesszene mit einem jugendlichen Künstler,
der nur schlechte Frauen-Akte malt, – sie hat Anna vergessen. Patrizia dagegen
ist in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Palast und einem noblen Hotel später
eine aufmerksame Zuhörerin und mitfühlende Freundin.
Auf dem Boot geht Anna mit dem
selbstzufriedenen Sandro um, als genügten ihr die Zeichen seiner Zuwendung
nicht. Sie nimmt ein Bad im Meer, zwingt zum Mitmachen und sorgt für ein
hektisches Ende, als sie behauptet, einen Haifisch gesehen zu haben. Sie erklärt
alles zum Spaß gegenüber Claudia in der Kajüte und schenkt der
Freundin ein Kleid, das diese später wie ein magisches Relikt an die Verschwundene
erinnern wird.
Die Yacht ankert bei einer steil
aufragenden, unbewohnten Felsinsel, die Gruppe zerstreut sich. Anna hat einen
Streit mit Sandro, den er abwehrt, weil Worte nichts helfen würden. Man
kann die Anspielungen Annas als Differenzen über ihre Sexualität verstehen,
die Sandro nicht begreifen will. Sie spricht von ihren Gefühlen, die sich
verändert hätten, – vier Wochen seien eine zu lange Zeit. Er hält
alles für die übliche Angst, die sich gebe, wenn sie erst verheiratet
seien und spielt an auf die Verführung vom Vortag als ein Beweis ihrer
Gefühle. Anna verläßt ihn wütend. Man hört ein Motorboot
in der Mittagsstille.
Die folgende lange Sequenz beschreibt
in einer in sich schlüssigen Dramaturgie die ergebnislose Suche nach Anna
auf der steinigen Insel, die wachsende Unruhe, die wechselnd intensive emotionale
Beteiligung der Personen, die Zeitdauer bis zum anderen Morgen mit der Übernachtung
von Claudia, Sandro und Corrado in einer Fischerhütte, das rätselhafte
Auftauchen eines Fischers, der mehr vom entfernten Australien erzählt als
die Hinweise auf Annas heimliches Verlassen der Insel zu konkretisieren. Claudias
Beunruhigung zeigt sich in waghalsigen einsamen Kletteraktionen, Sinnestäuschungen
(sie hält Giulia für Anna), Vorwürfen gegen Sandro und beschönigenden
Beschreibungen von Annas Beziehung zu ihm. Sandros Interesse wird ihr in einer
beiläufigen wortlosen Begegnung klar, wenn er beim Stolpern ihren Arm faßt
und der Blickwechsel zwischen ihnen die bestürzende Anziehung mit zweimaligem
Achsensprung in der Montage verdichtet. Sandro küßt Claudia mit Eroberergeste
in der Kajüte, wo sie ihm kaum ausweichen kann. Polizeiboote und ein Hubschrauber
bringen keine Aufklärung, wirken eher wie technische Spielzeuge – von ähnlich
fremdem Sensationswert wie das Transistorradio, das in einer späteren Szene
im Zug ein Bauernmädchen mehr interessiert als der dazugehörige hartnäckige
Verehrer.
Gegenstände bekommen eine
tief interpretierte, aber nur augenblicklich fesselnde Bedeutung: die Bibel,
Annas Bordlektüre, veranlaßt deren Vater zu der Spekulation, daß
ein Selbstmord ausgeschlossen sei; die antiken Vasen, die vor Anker gegangene
Froschmänner vorzeigen, werden von Corrado bildungsbürgerlich nach
ihrem Wert geschätzt, aber Giulia läßt eine besonders hübsche,
die er ihr kaufen soll, in Scherben fallen.
Die Gruppe löst sich auf,
um getrennt weiter zu suchen. Die folgenden Sequenzen sind in sich abgeschlossene
Etappen der Reise, auf der sich Annas Spuren verlieren und Claudia und Sandro
sich kennenlernen. Sie sind erzählt als zeitliche Abfolge von äußeren,
zufälligen, abschweifenden Ereignissen, deren Reste und Überschüsse
aber in die Stimmungsschwankungen und Wortauseinandersetzungen hinüberwirken.
So beschreibt L’AVVENTURA paradox, daß Ablenkung äußerlich
entdramatisiert und dem inneren Drama Bewegung gibt.
Sandro verfolgt das Verhör
abgerissener Schmuggler-Typen durch Carabinieri in deren barockem Palazzo, wo
sein Blick auf die üppigen Fresken und die Bretterverschläge als ernüchternd-häßlichem
Türersatz fällt.
Auf dem Bahnhof trifft er Claudia,
die ihn fortschickt. Sie trägt andere Kleidung, einen schwarzen Pullover
vor der hell/dunkel abgesetzten Wand des Warteraums, – Kontrapunkt zur grau
changierenden Naturkulisse der Insel und Zeichen einer neuen Geschichte. Sandro
springt auf ihren Zug auf, sie scheint ihn erwartet zu haben und ihre Fahrt
erzählt einen fortlaufenden Stimmungswechsel zwischen Claudias Melancholie,
Sandros Erobererattitüde und Voyeursgenuß über die belauschten
Fahrgäste der zweiten Klasse.
Sandro sucht in der Stadt allein
einen Reporter auf und schließt sich blind fasziniert einer Meute Männer
an, die die geplatzten Rocknähte und die absurde Illustrierten-Geschichte
eines Starlets skandalhungrig genießen, – der Werbe-Auftritt einer raffinierten
Prostituierten, wie der Reporter erklärt. In Patrizias Villa wird Claudia
Ohrenzeugin der Cliquen-Konversation, in der Annas Geschichte nur noch Stoff
für frivole Witze ist. Sie und Patrizia nähern sich an über ein
Verwandlungsspiel, sie tauschen die Haarfarbe mit Perücken für einen
kurzen Moment aus. Giulia nötigt Claudia dagegen, den posenhaft-verkrampften
Auftakt zu ihrem Seitensprung mitanzusehen.
Das Paar Sandro/Claudia trifft
sich wieder bei einem Apothekerehepaar. Aber statt konkrete Spuren, die zur
verschwundenen Anna führen könnten, bekommen sie nur Einblick in eine
Eifersuchtsszene, bei der die Frau alle Informationen ihres Mannes als aufschneiderisch
und gockelhaft uminterpretiert und er sie durch sein Verhalten gegenüber
Claudia bestätigt. Eine böse pointierte Episode der durchschnittlichen
Ehekatastrophe. Unmittelbar darauf ein verliebt-einverständiger Blicktausch
des neuen Paares Sandro/Claudia über ihr Auto hinweg.
Auf der Fahrt verirren sich die
beiden in eine, im kalten Beton-Stil neugebaute Siedlung im Schatten des Ätna,
die verlassen daliegt und hohle Echos zurückwirft. Atmosphärisch beklemmend
ist eine rätselhafte Kamerafahrt inmitten der Häuser hinter dem abfahrenden
Paar her, als habe sich die tote Kulisse in Bewegung gesetzt. Wieder in der
Stadt, läßt Claudia Sandro allein zu den Carabinieri gehen, wird
auf der Straße – surreal übersteigert inszeniert – von den einheimischen
Männern bedrängt und flüchtet in einen Laden, – aus Scham, weil
ihr die Anfechtung als Zeichen ihrer Schuld gegenüber Anna erscheint.
Beim Ausblick auf die Stadt von
einem Campanile aus bringt sie das Gespräch auf Sandros Beruf. Er ist Architekt
in einer Zeit, in der Bauten nicht mehr entworfen, sondern am Reißbrett
entstehen. Mit Berechnungen verdient er viel Geld, aber Claudia traut ihm gute
Entwürfe zu. Das Persönliche geht über in die Entdeckung eines
Spiels: mit den quergespannten Seilen auf dem Turm bringen sie zufällig
die Glocken zum Läuten.
Mit der Schlagermusik eines vorbeifahrenden
Lautsprecherwagens tanzt Claudia im Hotelzimmer verspielt verführerisch
um Sandro und wird abrupt ernst und melancholisch, wenn sie von ihm eine wörtliche
Liebeserklärung verlangt und mit einer komischen Geste, die Hände
in ihre Bademanteltaschen vergraben, allein zurückbleibt, so als genüge
es ihr, mit der Ungewißheit zu leben.
Sandro provoziert in einer Aufwallung
von jugendlicher Aggressivität einen Architekturschüler, der eine
Kirchenfassade skizziert, indem er dessen Zeichnung zerstört. Die Aufmerksamkeit
wird abgelenkt von einem nicht endenwollenden Zug uniformierter Schüler.
Im Hotel setzt sich die unterströmige Aggression fort in einer unvermittelten
Annäherung an Claudia, die sie abwehrt: ein Lebenszeichen an Annas Vater
zu schicken scheint ihr wichtiger.
Das Paar kommt im Trubel des 5-Uhr-Tees
in einem großzügigen Hotel in Taormina an. Claudia ist irritiert
und müde, zieht sich zum Schlafen zurück, während Sandro sich
unter die Gesellschaft mischt. Ein sanftes Lautenorchester begleitet sein Schlendern.
Er genießt die lasziven Blicke einzelner Frauen, begegnet der Prostituierten
wieder. Man sieht ihn abends im Foyer, wo schrille Geräusche auf den abseits
stehenden Fernsehapparat deuten. Claudia versucht vergeblich, Schlaf zu finden,
macht sich nachts auf, um Sandro zu suchen, läuft durch die langen leeren
Gänge des Hotels und findet ihn schließlich mit der Prostituierten.
Sie läuft davon, hinaus auf eine weite Terrasse. Im Morgenlicht sieht man
ihr verstörtes Gesicht, Bäume im Wind, eine Kirchenruine. Sandro folgt
ihr weinend, setzt sich auf eine Bank. Claudia nähert sich, bleibt hinter
der Bank stehen. Man sieht ein Bild, dessen Hintergrund zur rechten Hälfte,
Sandros Seite, eine steil aufragende Hausmauer zeigt, zur linken, Claudias Seite,
einen Ausblick freigibt auf den Ätna. Abrupt in Naheinstellungen springend,
sieht man ihre zögernde Hand, die sich langsam auf Sandros Hinterkopf legt.
Bei der Uraufführung von
L’AVVENTURA in Cannes 1960 provozierte der Film tumultartige Szenen. Ein Teil
der Kritiker und Regisseure reagierte auf die >feindseligen Kundgebungen<
mit einer Ehrenerklärung für Antonioni, die u.a. Roberto Rossellini
unterzeichnete .[abgedruckt in Pierre Leprohon, S.157] Man warf ihm die willkürliche Vernachlässigung schlüssiger
Erzählmuster vor, weil der Fall um Annas Verschwinden nicht nur nicht geklärt
wird, sondern in einem weiteren Sinn seine dramaturgische Funktion verliert.
Andererseits begründete der Film cineastische Legendenbildungen und zahllos
variierte Etiketten zu Antonionis Avantgardismus. Immer unspezifischer verlor
sich die Kritik an inhaltliche Topoi von der Einsamkeit, schönen Trostlosigkeit
und der Kommunikationsarmut der modernen Menschen bei Antonioni; man sprach
vom »inneren Realismus« und seiner »experimentellen Regie«.
Den Hilfsbegriff des inneren Realismus
nahm Antonioni selbst gern auf, um seine Arbeit zu beschreiben. In einem Gespräch
mit Michele Manceaux (1960) erläutert er seine Offenheit, die Drehbuchvorlage
durch die Valeurs der Lichtverhältnisse und besonderen Gegebenheiten seiner
Originalschauplätze mit der physischen Präsenz der Schauspieler erst
zur inszenatorischen Form zu verbinden. Innerer Realismus ist dabei die Orientierungsrichtung
seiner ästhetischen Absichten, die ihn dazu bringt, nichts dem Zufall zu
überlassen, weil der nie gut für ihn funktioniert habe: »Von
dem Moment an, wenn es uns inspiriert, wird das Wirkliche in jedem Fall unser
Feind Nummer Eins.« [Michèle Manceaus, An Interview with M.A., Sight
and Sound, Nr. l, Winter 1960/61]
Der Begriff »innerer Realismus«
setzte auch Antonionis nach DER SCHREI geäußerte Überlegungen
fort, mit denen er seine Differenz zum Neorealismus rechtfertigte und sich vom
»Problem des Fahrrads« distanzierte, das die Hauptfigur in de Sicas
Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) bewegt hatte: »Als
die Realität nach dem Kriege so brennend und unmittelbar auftrat, lenkte
der Neorealismus die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen den Menschen
und der Wirklichkeit. Gerade diese Beziehung war wichtig, und sie schuf einen
Situationsfilm. Heute dagegen, wo die Realität so oder so in normale Bahnen
gelangt ist, scheint es mir weit interessanter zu prüfen, was in den Menschen
von ihren vergangenen Erfahrungen geblieben ist.« [Ausschnitt aus einem Gespräch aus Cinema 58, Sept./Okt.
58, in Pierre Leprohon,S.78].
In Cannes gab Antonioni eine Erklärung
ab, eine intellektuelle Standortbestimmung, mit der er die Figuren von L’AVVENTURA
in einen weit-gespannten Horizont stellte: er beschreibt ihre Befindlichkeit
aus dem Widerspruch zwischen einer zukunftserobernden Wissenschaft und erstarrten
moralischen Maßstäben, die als versteinert erkannt, aber aus Feigheit
und Trägheit aufrechterhalten werden. Er vergleicht den Renaissance-Menschen
als aktiven Menschen der Technik, der zugleich schöpferisch und würdevoll
sei, mit dem nach-kopernikanischen voller Angst und Schrecken und dem schweren
Gepäck von überholten Gefühlen, die keine Lösung anbieten.
Diese Gefühle seien bis zur Erschöpfung viviseziert worden, statt
neue zu finden: »Was, glaubt man, bedeutet der Erotismus, der heute in
Literatur und Schau-Spiel vorherrscht? Er ist ein Symptom, das am leichtesten
greifbare vielleicht in der Krankheit der Gefühle. Aber man wäre nicht
erotisch, das heißt am Eros erkrankt, wenn der Eros gesund wäre,
und unter gesund verstehe ich passend, der Größe und der Bedingung
des Menschen angemessen. Es ist jedoch ein Unbehagen da, und wie bei jedem Unbehagen
reagiert der Mensch, aber er reagiert schlecht, nur auf den erotischen Anstoß
hin, und ist unglücklich. Die Katastrophe in L’AVVENTURA ist ein erotischer
Anstoß dieser Art, unglücklich, kläglich, unnütz. Kritisch
zu wissen, wie es der Protagonist von L’AVVENTURA weiß, daß der
erotische (An-)Trieb, dem er unterliegt, vulgär und überflüssig
ist, genügt nicht und nützt nichts. Es bricht der Mythos zusammen,
daß es genüge zu wissen, sich kritisch zu kennen, sich in allen Verzweigungen
und Verwicklungen zu analysieren.«
[vorgetragen während des Gesprächs in Krankheit der Gefühle,
S.96ff].
Dieses gedankliche Modell ist
eine kontinuierliche Spur durch Antonionis folgende Filme, aber so wie sich
L’AVVENTURA nicht in dieser Eigeninterpretation erschöpft, treffen deren
Sujets und Ästhetiken jeweils differierende Aussagen. Die futuristischen
Vor-Zeichen moderner Technik im Stadtbild sind in LA NOTTE noch bloße Signale von Veränderung, in L’ECLISSE in
der Schlußmontage dagegen von einer nicht in Symbole zu übersetzenden,
unheimlichen atmosphärischen Dichte. In DESERTO ROSSO bricht der Widerspruch
zwischen industrialisierten Lebenszonen und psychischer Sensibilität in
zwei Sphären auseinander, in der die Depression der weiblichen Hauptfigur
sie eher zum Opfer macht. In BLOW-UP wird die im weiteren Sinne gezeigte erotische Qualität sinnlicher
Bewegung am Ort des jeweiligen Augenblicks von den Frauen aus L’AVVENTURA und
LA NOTTE übertragen auf den männlichen Protagonisten. Er ist Solipsist,
und seine einzige Liebesbeziehung ist die zu seiner Kamera.
Die Ebenen in L’AVVENTURA, auf
denen die gegenständliche Welt den Subjekten nicht als totaler Verblendungszusammenhang
entgegentritt, sondern sie ihr zerstreut nur noch einen transitorischen, punktuellen
und individuellen Sinn zumessen können, werden in BLOW-UP zu einem bodenlosen
Spiel um Technizismen, interessegeleitete Wahrnehmungen und phantasmagorische
Ablenkungen weiterentwickelt. In IDENTIFICAZIONE DI UNA DONNA schließlich
wird das Interesse des Protagonisten für Astronomie und Science-Fiction
in einer sarkastischen Wendung als Kompensation eines Filmregisseurs erzählt,
der sich derart von seinen Schwierigkeiten mit Liebesfilmen und realen Frauen
erholt.
Antonionis Ergänzung in der
Erklärung zu L’AVVENTURA, er schildere die Figuren seiner »Erzählung
in Bildern« weder moralisch denunzierend noch zynisch als Gefühls-Anarchisten,
sondern allenfalls in einem Prozeß gegenseitigen Mitleidens, wird zu einem
widersprüchlichen Moment im offenen Ende von LA NOTTE.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Die mit
der Liebe spielen
L’AVVENTURA
Italien 1959
Regie: Michelangelo Antonioni – Sujet: Michelangelo Antonioni. – Buch: Michelangelo Antonioni, Elio Bartolini, Tonino
Guerra. – Kamera: Aldo Scavarda. – Kamera-Führung: Luigi Kuveiller. – Schnitt:
Eraldo Da Roma. – Ton: Claudio Maielli. – Musik: Giovanni Fusco. – Bauten: Piero
Poletto. – Kostüme: Adriana Berselli. – Regie-Assistenz: Franco Indovina,
Gianni Arduini, Jack O’Connell.
Darsteller: Gabriele Ferzetti (Sandro), Monica Vitti (Claudia), Lea
Massari (Anna), Renzo Ricci (Annas Vater), James Addams (Corrado), Dorothy De Poliolo (Gloria Perläns). Lelio Luttazzi (Raimondo),
Giovanni Petrucci (Junger Maler), Esmeralda Ruspoli (Patrizia), Enrico Bologna,
Franco Cimino, Giovanni
Danesi, Rita Molé, Renato Pinciroli,
Angela Tomasi Di Lampedusa, Vincenzo Tranchina. – Produktion: Cino Del Duca, Produzioni Cinematografiche
Europée, Rom/Société Cinematographique Lyre, Paris. – Produzent: Amato Pennasilico. – Gesamtorganisation:
Angelo Corso. – Produktionsleitung: Luciano Perugia. – Gedreht von September 1959 bis Anfang Januar 1960 in
Rom und Siziilien (Lipari, Milazzo, Catane, Taormina). – Format: 35 mm, sw. – Original-Länge: 145 min. – Deutsche
Länge: 102 min. – Uraufführung:17.5.1960, Filmfestival
Cannes. – Römische
Erstaufführung: 2.11.1960. – Deutsche Erstaufführung: 7.2.1961. –
TV: 1.8.1972 (ARD); 1.3.1978, 2.12.1981 (S3); 28.3.1978, 11.2.1982 (HR III);
10.12.1981 (WDR III). – Verleih: offen.
TV-Titel:
Das Abenteuer. Das Fernsehen strahlte den Film in der Originallänge aus.
– In manchen Quellen findet sich auch ein Hinweis auf eine von Antonioni für
den italienischen Markt gekürzte Fassung von 99 min.
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