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Die mit der Liebe spielen

L’AVVENTURA (DIE MIT DER LIEBE SPIELEN) erzählt von Liebe und Ungewißheit. Die äußeren Ereignisse sind ein Netz mysteriöser Geschichten um Täuschung, Verschwinden und spekulative Nachforschung. Die inneren Ereignisse der Liebe zwischen Claudia (Monica Vitti) und Sandro (Gabriele Ferzetti) gehen aus den äußeren hervor, folgen den objektiven Rätseln wie einer unlösbaren Aufgabe, changieren aber deren Gewichtung durch ihre subjektive Intensität. Sie schlagen ihre eigenen Tempi und Richtungen ein mit Pausen, Umwegen und Sackgassen.

Anders als früher erzählt Antonioni in L’AVVENTURA vollkommen präsentisch. Noch Aldo in DER SCHREI bricht auf seiner Irrfahrt zusammen, weil er in einer archaischen Obsession die sieben Jahre seiner vor dem Film liegenden Geschichte mit Irma nicht vergessen kann. Vorgeschichte und Nebengeschichten sind in L’AVVENTURA dagegen sichtbar als Facetten des rätselhaften Phänomens in der Beziehung zwischen Claudia und Sandro: Ungewißheit über die Präsenz des geliebten Menschen und deren Bedeutung, Liebe und ihre Kehrseite: das Vergessen. Während eines Segelausflugs zu den Liparischen Inseln reißt Sandros Beziehung zu Anna (Lea Massari) plötzlich mit deren Verschwinden ab und daraus folgt eine Reise durch Sizilien, doppelt bedeutsam als Spurensuche nach Anna und neue Liebesgeschichte von Sandro und Claudia, Annas Freundin. Momente von Wiederholung und Verkehrung verbinden die auseinander entwickelten und gegeneinander abgesetzten Erlebnissphären der Figuren: Anna resümierte ihre Zweifel an Sandros Liebe während des Segelausflugs und ist plötzlich nicht mehr da, Claudia stellt später zweifelnd Fragen zu ihrer irritierenden Erfahrung mit Sandro, aber deutet am Ende mit einer Geste ihr Bleiben an, als er, banaler als zu Anfang mit Anna, seine Liebe in einer Momentaffäre vergessen hatte.

Sinnlich prägnante Oberflächensituationen, in denen Da-Sein oder Weg-Sein des Partners, demonstratives Suchen und Finden eine Rolle spielen, sind die Episoden um die Freunde der Protagonistenfiguren, eine Gruppe wohlhabender Adliger und Geschäftsleute und ihre vernachlässigten Frauen. Es sind pointierte Minimal-Geschichten mit eigener Dynamik und überraschenden Kehrtwendungen, die komisch-grausam von Kränkung, Treue und Betrug erzählen.

Die offene Erzählform irritiert dramaturgische Konventionen, d.h. die klaren hierarchischen Prinzipien von Kausalzusammenhängen und beschreibt Abweichung von der eingeschlagenen Richtung, Ablenkung vom Gewicht der Fakten, Verkehrung im Maßstab der Gefühle und Sinne als die Verirrung, die notwendig der Weg durch ein Labyrinth ist. In den Erfahrungen unterwegs besteht das Abenteuer, das der Originaltitel anspricht. Claudia erlebt es am intensivsten, in ihr überschneiden und überlagern sich die Paradoxien der äußeren und inneren Ereignisse: sie findet klare Gedanken wichtig, aber Klarheit erfährt sie darüber, daß nichts eindeutig und gewiß ist und die Zeichen nur vorübergehend einen subjektiven Sinn erhalten.

Die visuellen Formen des Films sind komplexe Fortführungen und Erweiterungen von Antonionis Erzählmitteln, wie differenzierte Sprechweisen in unterschiedlichen Situationen.

Zur Montage in der Einstellung, die über Kamerafahrten mehrere Handlungsdimensionen gleitend verknüpft, kommen in L’AVVENTURA Achsensprünge hinzu, die die Sicht verschiedener Personen auf dieselbe Situation zeitdehnend voneinander trennen und in der suggestiven Wirkung zugleich intensivierend verschmelzen, sprechende Zeichen vorsprachlicher Beziehungen. Das für Antonioni neue Breitwandformat nutzt er zu ungewöhnlichen Großaufnahmen, in denen der Ausdrucksreichtum der Physiognomien die Erlebnismomente vieldeutig abbildet. In Szenen der Begegnung mehrerer Personen sind einzelne oft in optische Einrahmungen inszeniert, die ihre Isolation und Besonderheit signalisieren. Aufwendiger als je zuvor ist der Film untermalt mit einer Geräuschkomposition von Wind, Wasser und Eisenbahnlärm, so daß in den emotional dichtesten Szenen assoziativ die vorhergegangenen gegenwärtig sind[»Ich messe dem Tonband eine enorme Bedeutung zu, und ich versuche immer, größte Sorgfalt darauf zu verwenden. Und wenn ich vom Tonband spreche, spiele ich auf natürliche Töne an, Geräusche, mehr als Musik. Für L’AVVENTURA habe ich eine große Menge von Geräuscheffekten aufnehmen lassen. Für mich ist das die wahre Musik, die zu den Bildern paßt M.A. im Gespräch mit Andre Labarthe in Cahiers du Cinema, Nr. 112, Oktober 1960]. Alle diese Mittel schaffen eine Atmosphäre magischer Gleichzeitigkeit, eine Inversion, die Bewegung in einem Zustand.

Die Musik Giovanni Fuscos, mit dem Antonioni oft zusammenarbeitete, ist hier noch sparsamer und leiser eingesetzt: ein sanftes Klarinetten- und Oboen-Motiv. Die Musik ist weicher melancholisch als die klare Klavier-Melodie, die Aldos Isolation unterstrich und von der satteren Harmonika des Anfangs von IL GxiDO absetzte und ist nicht so irritierend kontrapunktisch wie in den Saxophon-Soli der dramaturgisch geschlosseneren Filme zuvor [Zu Antonionis Zusammenarbeit mit Fusco und seine Kritik an konventioneller Filmmusik: M. A. in: Die Krankheit der Gefühle 5.105, Giovanni Fusco, Antonioni und die Musik, in Pierre Leprohon, S.152ff. Darin beschreibt er die heftigen Diskussionen zwischen ihm und dem Regisseur, der ein Musikkenner ist, und die erbitterten Auseinandersetzungen um zunehmende Reduktionen].

L’AVVENTURA beginnt mit der dissonanten Verabschiedung Annas von ihrem Vater. Auf der Straße zwischen Abrißgrundstücken und der opulenten alten Villa des Ex-Diplomaten geht das Gespräch um die zunehmende Stadt-Zerstörung über in einen routiniert klingenden Schlagabtausch zwischen Vater und Tochter, weil sie ihn allein läßt zugunsten Sandros, der sie nicht heiraten wird. Wie alle Frauen in Antonionis Filmen ist es Anna, die nicht heiraten will, was der Vater aber für dasselbe hält. Mit Claudia holt Anna Sandro in Rom ab.

Lea Massari spielt die brünette Anna gereizt, schroff, impulsiv, Monica Vitti ihre blonde Freundin Claudia offener, mit im ganzen Film wiederkehrenden Ausbrüchen von Spiellust und Amüsement über zufällig Beobachtetes.

Anna sieht Sandro selten, ist unzufrieden über die Trennung, die ihr andererseits – bequem – Raum lasse für ein eigenes Leben. Sie geht hinauf zu Sandro, obwohl er seine Reisefertigkeit vom Fenster aus ankündigt, fixiert ihn abschätzend, distanziert sich, auf den Balkon hinaustretend, von ihm, kleidet sich aus. Sandro zögert, weil Claudia wartet, und während er den Vorhang schließt, ist Claudias optische Gegenwart im Fensterausschnitt ein erstes Signal der Dreiecks-Konstellation. Die subjektive Zeit der folgenden Liebesszene ist dargestellt in der Parallelmontage von Claudias Besuch einer Galerie und den Bildern des Paares in der Wohnung. Antonioni zeigt die Köpfe groß am unteren Bildrand, Annas erstaunt-erschreckten, nie gelösten Gesichtsausdruck gegen den nach außen verweisenden Fensterausschnitt mit der heraufblickenden Claudia. Später gibt es eine optische Entsprechung in der Liebesszene zwischen Claudia und Sandro an einem Wegrand in Sizilien. Da ist die subjektive Intensität ihres Glücksmoments eingebunden in ein weites leeres Landschaftsbild.

Sandros Wohnung hat die Rundbögen eines ehemaligen Klosterraums, – eine optische Korrespondenz zu den vielen Kirchenfassaden in den folgenden Reiseszenen, die alle beiläufige, nicht thematisierte Splitter omnipräsenter Alltagskultur bleiben.

Auf der Yacht werden in knappen Episoden die Freunde eingeführt: Corrado, ein charmanter älterer Zyniker (James Addams) und seine eher passive Freundin Giulia (Dominique Blanchar). Raimondo (Renzo Ricci), ein trocken-ehrlicher Mitläufer-Typ haßt das Tauchen, steigt aber ins Wasser, weil man sich anpassen müsse. Er klagt komisch, daß die von ihm verehrte Prinzessin Patrizia (Dorothy de Poliolo) sich nicht verführen lasse, sie sei treu aus Trägheit. Giulia erscheint anfangs als das hilflose Opfer der zynischen Bemerkungen Corrados – um Corrado nahe zu sein, beteiligt sie sich an der Suche nach Anna. Patrizia demonstriert dagegen, wie lästig ihr das Ereignis ist, das sie aus ihrer schattigen Kabine zwingt. Gegen Ende des Films verkehren sich die Interessen und Sensibilitäten völlig: Giulia involviert Claudia als Zeugin demonstrativ in eine kindlich-schüchtern initiierte, eitel-genießerische Liebesszene mit einem jugendlichen Künstler, der nur schlechte Frauen-Akte malt, – sie hat Anna vergessen. Patrizia dagegen ist in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Palast und einem noblen Hotel später eine aufmerksame Zuhörerin und mitfühlende Freundin.

Auf dem Boot geht Anna mit dem selbstzufriedenen Sandro um, als genügten ihr die Zeichen seiner Zuwendung nicht. Sie nimmt ein Bad im Meer, zwingt zum Mitmachen und sorgt für ein hektisches Ende, als sie behauptet, einen Haifisch gesehen zu haben. Sie erklärt alles zum Spaß gegenüber Claudia in der Kajüte und schenkt der Freundin ein Kleid, das diese später wie ein magisches Relikt an die Verschwundene erinnern wird.

Die Yacht ankert bei einer steil aufragenden, unbewohnten Felsinsel, die Gruppe zerstreut sich. Anna hat einen Streit mit Sandro, den er abwehrt, weil Worte nichts helfen würden. Man kann die Anspielungen Annas als Differenzen über ihre Sexualität verstehen, die Sandro nicht begreifen will. Sie spricht von ihren Gefühlen, die sich verändert hätten, – vier Wochen seien eine zu lange Zeit. Er hält alles für die übliche Angst, die sich gebe, wenn sie erst verheiratet seien und spielt an auf die Verführung vom Vortag als ein Beweis ihrer Gefühle. Anna verläßt ihn wütend. Man hört ein Motorboot in der Mittagsstille.

Die folgende lange Sequenz beschreibt in einer in sich schlüssigen Dramaturgie die ergebnislose Suche nach Anna auf der steinigen Insel, die wachsende Unruhe, die wechselnd intensive emotionale Beteiligung der Personen, die Zeitdauer bis zum anderen Morgen mit der Übernachtung von Claudia, Sandro und Corrado in einer Fischerhütte, das rätselhafte Auftauchen eines Fischers, der mehr vom entfernten Australien erzählt als die Hinweise auf Annas heimliches Verlassen der Insel zu konkretisieren. Claudias Beunruhigung zeigt sich in waghalsigen einsamen Kletteraktionen, Sinnestäuschungen (sie hält Giulia für Anna), Vorwürfen gegen Sandro und beschönigenden Beschreibungen von Annas Beziehung zu ihm. Sandros Interesse wird ihr in einer beiläufigen wortlosen Begegnung klar, wenn er beim Stolpern ihren Arm faßt und der Blickwechsel zwischen ihnen die bestürzende Anziehung mit zweimaligem Achsensprung in der Montage verdichtet. Sandro küßt Claudia mit Eroberergeste in der Kajüte, wo sie ihm kaum ausweichen kann. Polizeiboote und ein Hubschrauber bringen keine Aufklärung, wirken eher wie technische Spielzeuge – von ähnlich fremdem Sensationswert wie das Transistorradio, das in einer späteren Szene im Zug ein Bauernmädchen mehr interessiert als der dazugehörige hartnäckige Verehrer.

Gegenstände bekommen eine tief interpretierte, aber nur augenblicklich fesselnde Bedeutung: die Bibel, Annas Bordlektüre, veranlaßt deren Vater zu der Spekulation, daß ein Selbstmord ausgeschlossen sei; die antiken Vasen, die vor Anker gegangene Froschmänner vorzeigen, werden von Corrado bildungsbürgerlich nach ihrem Wert geschätzt, aber Giulia läßt eine besonders hübsche, die er ihr kaufen soll, in Scherben fallen.

Die Gruppe löst sich auf, um getrennt weiter zu suchen. Die folgenden Sequenzen sind in sich abgeschlossene Etappen der Reise, auf der sich Annas Spuren verlieren und Claudia und Sandro sich kennenlernen. Sie sind erzählt als zeitliche Abfolge von äußeren, zufälligen, abschweifenden Ereignissen, deren Reste und Überschüsse aber in die Stimmungsschwankungen und Wortauseinandersetzungen hinüberwirken. So beschreibt L’AVVENTURA paradox, daß Ablenkung äußerlich entdramatisiert und dem inneren Drama Bewegung gibt.

Sandro verfolgt das Verhör abgerissener Schmuggler-Typen durch Carabinieri in deren barockem Palazzo, wo sein Blick auf die üppigen Fresken und die Bretterverschläge als ernüchternd-häßlichem Türersatz fällt.

Auf dem Bahnhof trifft er Claudia, die ihn fortschickt. Sie trägt andere Kleidung, einen schwarzen Pullover vor der hell/dunkel abgesetzten Wand des Warteraums, – Kontrapunkt zur grau changierenden Naturkulisse der Insel und Zeichen einer neuen Geschichte. Sandro springt auf ihren Zug auf, sie scheint ihn erwartet zu haben und ihre Fahrt erzählt einen fortlaufenden Stimmungswechsel zwischen Claudias Melancholie, Sandros Erobererattitüde und Voyeursgenuß über die belauschten Fahrgäste der zweiten Klasse.

Sandro sucht in der Stadt allein einen Reporter auf und schließt sich blind fasziniert einer Meute Männer an, die die geplatzten Rocknähte und die absurde Illustrierten-Geschichte eines Starlets skandalhungrig genießen, – der Werbe-Auftritt einer raffinierten Prostituierten, wie der Reporter erklärt. In Patrizias Villa wird Claudia Ohrenzeugin der Cliquen-Konversation, in der Annas Geschichte nur noch Stoff für frivole Witze ist. Sie und Patrizia nähern sich an über ein Verwandlungsspiel, sie tauschen die Haarfarbe mit Perücken für einen kurzen Moment aus. Giulia nötigt Claudia dagegen, den posenhaft-verkrampften Auftakt zu ihrem Seitensprung mitanzusehen.

Das Paar Sandro/Claudia trifft sich wieder bei einem Apothekerehepaar. Aber statt konkrete Spuren, die zur verschwundenen Anna führen könnten, bekommen sie nur Einblick in eine Eifersuchtsszene, bei der die Frau alle Informationen ihres Mannes als aufschneiderisch und gockelhaft uminterpretiert und er sie durch sein Verhalten gegenüber Claudia bestätigt. Eine böse pointierte Episode der durchschnittlichen Ehekatastrophe. Unmittelbar darauf ein verliebt-einverständiger Blicktausch des neuen Paares Sandro/Claudia über ihr Auto hinweg.

Auf der Fahrt verirren sich die beiden in eine, im kalten Beton-Stil neugebaute Siedlung im Schatten des Ätna, die verlassen daliegt und hohle Echos zurückwirft. Atmosphärisch beklemmend ist eine rätselhafte Kamerafahrt inmitten der Häuser hinter dem abfahrenden Paar her, als habe sich die tote Kulisse in Bewegung gesetzt. Wieder in der Stadt, läßt Claudia Sandro allein zu den Carabinieri gehen, wird auf der Straße – surreal übersteigert inszeniert – von den einheimischen Männern bedrängt und flüchtet in einen Laden, – aus Scham, weil ihr die Anfechtung als Zeichen ihrer Schuld gegenüber Anna erscheint.

Beim Ausblick auf die Stadt von einem Campanile aus bringt sie das Gespräch auf Sandros Beruf. Er ist Architekt in einer Zeit, in der Bauten nicht mehr entworfen, sondern am Reißbrett entstehen. Mit Berechnungen verdient er viel Geld, aber Claudia traut ihm gute Entwürfe zu. Das Persönliche geht über in die Entdeckung eines Spiels: mit den quergespannten Seilen auf dem Turm bringen sie zufällig die Glocken zum Läuten.

Mit der Schlagermusik eines vorbeifahrenden Lautsprecherwagens tanzt Claudia im Hotelzimmer verspielt verführerisch um Sandro und wird abrupt ernst und melancholisch, wenn sie von ihm eine wörtliche Liebeserklärung verlangt und mit einer komischen Geste, die Hände in ihre Bademanteltaschen vergraben, allein zurückbleibt, so als genüge es ihr, mit der Ungewißheit zu leben.

Sandro provoziert in einer Aufwallung von jugendlicher Aggressivität einen Architekturschüler, der eine Kirchenfassade skizziert, indem er dessen Zeichnung zerstört. Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt von einem nicht endenwollenden Zug uniformierter Schüler. Im Hotel setzt sich die unterströmige Aggression fort in einer unvermittelten Annäherung an Claudia, die sie abwehrt: ein Lebenszeichen an Annas Vater zu schicken scheint ihr wichtiger.

Das Paar kommt im Trubel des 5-Uhr-Tees in einem großzügigen Hotel in Taormina an. Claudia ist irritiert und müde, zieht sich zum Schlafen zurück, während Sandro sich unter die Gesellschaft mischt. Ein sanftes Lautenorchester begleitet sein Schlendern. Er genießt die lasziven Blicke einzelner Frauen, begegnet der Prostituierten wieder. Man sieht ihn abends im Foyer, wo schrille Geräusche auf den abseits stehenden Fernsehapparat deuten. Claudia versucht vergeblich, Schlaf zu finden, macht sich nachts auf, um Sandro zu suchen, läuft durch die langen leeren Gänge des Hotels und findet ihn schließlich mit der Prostituierten. Sie läuft davon, hinaus auf eine weite Terrasse. Im Morgenlicht sieht man ihr verstörtes Gesicht, Bäume im Wind, eine Kirchenruine. Sandro folgt ihr weinend, setzt sich auf eine Bank. Claudia nähert sich, bleibt hinter der Bank stehen. Man sieht ein Bild, dessen Hintergrund zur rechten Hälfte, Sandros Seite, eine steil aufragende Hausmauer zeigt, zur linken, Claudias Seite, einen Ausblick freigibt auf den Ätna. Abrupt in Naheinstellungen springend, sieht man ihre zögernde Hand, die sich langsam auf Sandros Hinterkopf legt.

 

Bei der Uraufführung von L’AVVENTURA in Cannes 1960 provozierte der Film tumultartige Szenen. Ein Teil der Kritiker und Regisseure reagierte auf die >feindseligen Kundgebungen< mit einer Ehrenerklärung für Antonioni, die u.a. Roberto Rossellini unterzeichnete .[abgedruckt in Pierre Leprohon, S.157] Man warf ihm die willkürliche Vernachlässigung schlüssiger Erzählmuster vor, weil der Fall um Annas Verschwinden nicht nur nicht geklärt wird, sondern in einem weiteren Sinn seine dramaturgische Funktion verliert. Andererseits begründete der Film cineastische Legendenbildungen und zahllos variierte Etiketten zu Antonionis Avantgardismus. Immer unspezifischer verlor sich die Kritik an inhaltliche Topoi von der Einsamkeit, schönen Trostlosigkeit und der Kommunikationsarmut der modernen Menschen bei Antonioni; man sprach vom »inneren Realismus« und seiner »experimentellen Regie«.

Den Hilfsbegriff des inneren Realismus nahm Antonioni selbst gern auf, um seine Arbeit zu beschreiben. In einem Gespräch mit Michele Manceaux (1960) erläutert er seine Offenheit, die Drehbuchvorlage durch die Valeurs der Lichtverhältnisse und besonderen Gegebenheiten seiner Originalschauplätze mit der physischen Präsenz der Schauspieler erst zur inszenatorischen Form zu verbinden. Innerer Realismus ist dabei die Orientierungsrichtung seiner ästhetischen Absichten, die ihn dazu bringt, nichts dem Zufall zu überlassen, weil der nie gut für ihn funktioniert habe: »Von dem Moment an, wenn es uns inspiriert, wird das Wirkliche in jedem Fall unser Feind Nummer Eins.« [Michèle Manceaus, An Interview with M.A., Sight and Sound, Nr. l, Winter 1960/61]

Der Begriff »innerer Realismus« setzte auch Antonionis nach DER SCHREI geäußerte Überlegungen fort, mit denen er seine Differenz zum Neorealismus rechtfertigte und sich vom »Problem des Fahrrads« distanzierte, das die Hauptfigur in de Sicas Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) bewegt hatte: »Als die Realität nach dem Kriege so brennend und unmittelbar auftrat, lenkte der Neorealismus die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen den Menschen und der Wirklichkeit. Gerade diese Beziehung war wichtig, und sie schuf einen Situationsfilm. Heute dagegen, wo die Realität so oder so in normale Bahnen gelangt ist, scheint es mir weit interessanter zu prüfen, was in den Menschen von ihren vergangenen Erfahrungen geblieben ist [Ausschnitt aus einem Gespräch aus Cinema 58, Sept./Okt. 58, in Pierre Leprohon,S.78].

In Cannes gab Antonioni eine Erklärung ab, eine intellektuelle Standortbestimmung, mit der er die Figuren von L’AVVENTURA in einen weit-gespannten Horizont stellte: er beschreibt ihre Befindlichkeit aus dem Widerspruch zwischen einer zukunftserobernden Wissenschaft und erstarrten moralischen Maßstäben, die als versteinert erkannt, aber aus Feigheit und Trägheit aufrechterhalten werden. Er vergleicht den Renaissance-Menschen als aktiven Menschen der Technik, der zugleich schöpferisch und würdevoll sei, mit dem nach-kopernikanischen voller Angst und Schrecken und dem schweren Gepäck von überholten Gefühlen, die keine Lösung anbieten. Diese Gefühle seien bis zur Erschöpfung viviseziert worden, statt neue zu finden: »Was, glaubt man, bedeutet der Erotismus, der heute in Literatur und Schau-Spiel vorherrscht? Er ist ein Symptom, das am leichtesten greifbare vielleicht in der Krankheit der Gefühle. Aber man wäre nicht erotisch, das heißt am Eros erkrankt, wenn der Eros gesund wäre, und unter gesund verstehe ich passend, der Größe und der Bedingung des Menschen angemessen. Es ist jedoch ein Unbehagen da, und wie bei jedem Unbehagen reagiert der Mensch, aber er reagiert schlecht, nur auf den erotischen Anstoß hin, und ist unglücklich. Die Katastrophe in L’AVVENTURA ist ein erotischer Anstoß dieser Art, unglücklich, kläglich, unnütz. Kritisch zu wissen, wie es der Protagonist von L’AVVENTURA weiß, daß der erotische (An-)Trieb, dem er unterliegt, vulgär und überflüssig ist, genügt nicht und nützt nichts. Es bricht der Mythos zusammen, daß es genüge zu wissen, sich kritisch zu kennen, sich in allen Verzweigungen und Verwicklungen zu analysieren [vorgetragen während des Gesprächs in Krankheit der Gefühle, S.96ff].

Dieses gedankliche Modell ist eine kontinuierliche Spur durch Antonionis folgende Filme, aber so wie sich L’AVVENTURA nicht in dieser Eigeninterpretation erschöpft, treffen deren Sujets und Ästhetiken jeweils differierende Aussagen. Die futuristischen Vor-Zeichen moderner Technik im Stadtbild sind in LA NOTTE noch bloße Signale von Veränderung, in L’ECLISSE in der Schlußmontage dagegen von einer nicht in Symbole zu übersetzenden, unheimlichen atmosphärischen Dichte. In DESERTO ROSSO bricht der Widerspruch zwischen industrialisierten Lebenszonen und psychischer Sensibilität in zwei Sphären auseinander, in der die Depression der weiblichen Hauptfigur sie eher zum Opfer macht. In BLOW-UP wird die im weiteren Sinne gezeigte erotische Qualität sinnlicher Bewegung am Ort des jeweiligen Augenblicks von den Frauen aus L’AVVENTURA und LA NOTTE übertragen auf den männlichen Protagonisten. Er ist Solipsist, und seine einzige Liebesbeziehung ist die zu seiner Kamera.

Die Ebenen in L’AVVENTURA, auf denen die gegenständliche Welt den Subjekten nicht als totaler Verblendungszusammenhang entgegentritt, sondern sie ihr zerstreut nur noch einen transitorischen, punktuellen und individuellen Sinn zumessen können, werden in BLOW-UP zu einem bodenlosen Spiel um Technizismen, interessegeleitete Wahrnehmungen und phantasmagorische Ablenkungen weiterentwickelt. In IDENTIFICAZIONE DI UNA DONNA schließlich wird das Interesse des Protagonisten für Astronomie und Science-Fiction in einer sarkastischen Wendung als Kompensation eines Filmregisseurs erzählt, der sich derart von seinen Schwierigkeiten mit Liebesfilmen und realen Frauen erholt.

Antonionis Ergänzung in der Erklärung zu L’AVVENTURA, er schildere die Figuren seiner »Erzählung in Bildern« weder moralisch denunzierend noch zynisch als Gefühls-Anarchisten, sondern allenfalls in einem Prozeß gegenseitigen Mitleidens, wird zu einem widersprüchlichen Moment im offenen Ende von LA NOTTE.

 

Claudia Lenssen

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1987.

Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.

 

Die mit der Liebe spielen

L’AVVENTURA

Italien 1959

Regie: Michelangelo Antonioni – Sujet: Michelangelo Antonioni. – Buch: Michelangelo Antonioni, Elio Bartolini, Tonino Guerra. – Kamera: Aldo Scavarda. – Kamera-Führung: Luigi Kuveiller. – Schnitt: Eraldo Da Roma. – Ton: Claudio Maielli. – Musik: Giovanni Fusco. – Bauten: Piero Poletto. – Kostüme: Adriana Berselli. – Regie-Assistenz: Franco Indovina, Gianni Arduini, Jack O’Connell.

Darsteller: Gabriele Ferzetti (Sandro), Monica Vitti (Claudia), Lea Massari (Anna), Renzo Ricci (Annas Vater), James Addams (Corrado), Dorothy De Poliolo (Gloria Perläns). Lelio Luttazzi (Raimondo), Giovanni Petrucci (Junger Maler), Esmeralda Ruspoli (Patrizia), Enrico Bologna, Franco Cimino, Giovanni Danesi, Rita Molé, Renato Pinciroli, Angela Tomasi Di Lampedusa, Vincenzo Tranchina. – Produktion: Cino Del Duca, Produzioni Cinematografiche Europée, Rom/Société Cinematographique Lyre, Paris. – Produzent: Amato Pennasilico. – Gesamtorganisation: Angelo Corso. – Produktionsleitung: Luciano Perugia. – Gedreht von September 1959 bis Anfang Januar 1960 in Rom und Siziilien (Lipari, Milazzo, Catane, Taormina). – Format: 35 mm, sw. – Original-Länge: 145 min. – Deutsche Länge: 102 min. – Uraufführung:17.5.1960, Filmfestival Cannes. – Römische Erstaufführung: 2.11.1960. – Deutsche Erstaufführung: 7.2.1961. – TV: 1.8.1972 (ARD); 1.3.1978, 2.12.1981 (S3); 28.3.1978, 11.2.1982 (HR III); 10.12.1981 (WDR III). – Verleih: offen. TV-Titel: Das Abenteuer. Das Fernsehen strahlte den Film in der Originallänge aus. – In manchen Quellen findet sich auch ein Hinweis auf eine von Antonioni für den italienischen Markt gekürzte Fassung von 99 min.

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