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Deutschland
im Jahre Null
Keine Stunde Null
"Sie leben in einer Tragödie,
als sei
diese ihr natürliches Lebenselement.
Aber das tun sie nicht aus einer
Seelenstärke oder Überzeugung
heraus,
sondern einfach aus Müdigkeit.
Hier
geht es nicht um eine Anklage
gegen
das deutsche Volk und auch nicht
um seine Verteidigung, sondern
um
eine sachliche Bestandsaufnahme
der Tatsachen. Sollte jedoch jemand
glauben, nachdem er diese Geschichte
von Edmund Köhler miterlebt
hat,
es müsste etwas geschehen,
man
müsste den deutschen Kindern
beibringen, das Leben wieder lieben
zu lernen, dann hätte sich
die Mühe
desjenigen, der diesen Film gemacht
hat, mehr als gelohnt."
(Rossellini im Vorspann
des Films)
Kaum jemand glaubte Rossellini in dem zerrissenen,
zerschlagenen, sich 1945 der bedingungslosen Kapitulation unterwerfenden Deutschland,
dass er mit seinem Film "Germania anno zero", im Herbst 1947 in Berlin
gedreht, solche Absichten verfolgte, wie er sie zu Anfang des Films verkündete.
Jahrelang war der Film – wenn überhaupt – nur in einigen wenigen Kinos
zu sehen und bis heute genießt der Streifen in Deutschland ein Schattendasein
unter den Klassikern des Neorealismus aus Italien. Der Publizist Hans Habe hatte
es 1949 in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt gebracht: "Rossellini
pflückt in diesem Film nicht Blumen vom Grab einer Nation, er erbricht
sich in den Sarg." Das deutsche Volk kam nach Meinung vieler in diesem
Film nicht nur schlecht weg. Es würde vielmehr einem geschlagenen Volk
nochmals der Garaus gemacht. Bei näherer Sicht erweisen sich solche Äußerungen
in Bezug auf den Film als völlig unhaltbar, in Bezug auf die Kritiker allerdings
als bezeichnend.
Die Kamera zeigt uns minutenlang eine zerstörte
ehemalige Reichhauptstadt, ein Berlin, in dem es nur Trümmer, hungernde
Menschen und Besatzungskräfte zu geben scheint. Männer, Frauen und
auch Jugendliche haben 1945 begonnen, den Schutt des "Tausendjährigen
Reiches" wegzuräumen. Auch der vielleicht 12jährige Edmund (Edmund
Moeschke) hat sich einen Arbeitsschein besorgt, obwohl man 15 Jahre alt sein
muss, um einen solchen Schein zu bekommen und ein paar Mark zu verdienen. Er
wird erwischt, nach Hause geschickt. Dort liegt sein herzkranker Vater, der
ein schlechtes Gewissen hat, weil er bettlägerig ist und für den Unterhalt
der Familie nicht aufkommen kann. Eine Mutter gibt es nicht mehr, aber einen
großen Bruder, Karl-Heinz (Franz-Otto Krüger), und eine ältere
Schwester namens Eva (Ingetraud Hinze), die die Stelle der Mutter im Haus übernommen
hat.
Karl-Heinz, gerade mal Anfang 20, war Soldat in der
Wehrmacht. Und jetzt versteckt er sich in der Wohnung der Familie aus Angst
vor der angeblichen Rache der Alliierten und Antifaschisten an allen deutschen
Soldaten. Diese Angst hindert ihn daran, sich Arbeit zu suchen. Eva gefällt
das gar nicht. Und Edmund gefällt es nicht, dass Eva jeden Abend ausgeht,
in Bars, um vielleicht über den Kontakt zu Besatzungssoldaten einen Weg
zu finden, um zu Geld zu kommen.
Edmund ist der einzige in der Familie, der ständig
auf Achse ist, um etwas zu essen zu organisieren und anderes, was die Familie
unbedingt braucht, um zu überleben.
So überredet er den Wohnungsnachbarn Rademacher,
dessen Waage auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Doch anstatt die von Rademacher
geforderten 300 Mark für die Waage zu bekommen, gibt ihm ein böswilliger
älterer Mann nur ein paar Konserven. Rademacher, der die Köhlers eh
nicht mag, reagiert gereizt und wütend. Edmunds Vater solle doch endlich
sterben, um Platz für gesunde Menschen zu machen.
Auch Edmunds Kontakt zu seinen Freunden Jo (Babsi
Schultz-Reckewell) und Christl (Alexandra Manys) bringt für den Unterhalt
der Familie nicht viel ein.
Eines Tages trifft er seinen ehemaligen Lehrer Enning
(Erich Gühne) wieder, der Tür an Tür mit einem Ex-General namens
von Laubitz (Franz von Treuberg) wohnt. Enning bemüht sich um seine Ex-Schüler,
auch um Edmund, dem er den Auftrag gibt, eine alte Schallplatte mit einer Hitler-Rede
an Soldaten der Alliierten zu verkaufen. Edmund gibt er zehn Mark für den
erfolgreichen Verkauf. Und er gibt ihm noch etwas mit auf den Weg: Als der Junge
von seinem kranken Vater erzählt, der inzwischen im Krankenhaus liegt,
um sich zu erholen und etwas Besseres zu essen zu bekommen, meint Enning zu
Edmund: Er könne den Lauf der Dinge nicht verhindern. Das Kranke und Alte
müsse sterben, um dem Jungen und Gesunden Platz zu machen für dessen
ungehinderte Entfaltung. Enning ist noch immer Nationalsozialist.
Weil Edmund sich diesen Satz von Enning nicht nur
einprägt, sondern geradezu verinnerlicht, stiehlt er im Krankenhaus eine
Flasche mit Gift und verabreicht es seinem inzwischen wieder zu Hause liegenden
Vater, der daraufhin schnell stirbt. Dann allerdings überkommen ihn Zweifel,
die ihn durch ganz Berlin treiben. Zwei Tage lang irrt er durch die Straßen,
trifft Jo und Christl, geht zu Enning und erzählt diesem, er habe getan,
was Enning gesagt habe. Doch Enning reagiert empört, abweisend und sagt,
so habe er das nicht gemeint.
Verzweifelt rennt Edmund aus dem Haus, irrt wieder
durch Berlin und begibt sich in ein Haus, das dem seiner Familie gegenüberliegt.
Dann springt er in den Tod.
Der Drang, dieses äußerlich gesehen melodramatische
Geschehen in jener Weise zu inszenieren, die man neorealistisch nennt, ergibt
sich aus einem "einfachen" Umstand: dem Unwillen vieler Regisseure
zur Theatralisierung, dem Hass auf jede Form des Propagandafilms, wie er insbesondere
von den Nationalsozialisten gepflegt wurde, und dem aus dem Kriegs- und Vernichtungsgeschehen
des "Dritten Reiches" resultierenden Wunsch nach einer möglichst
dokumentarischen, authentischen Schilderung solcher und anderer Geschichten.
So zeigt die Kamera ein erschütterndes Bild
einer zerstörten Großstadt, die einmal – neben München und Nürnberg
– Zentrum der Verbrecherbande war, die sich anschickte, die Welt in Trümmer
zu legen. Und in dieser "Stunde Null" zeigt Rossellini einen Jungen,
der fast sein ganzes bisheriges, kurzes Leben nichts anderes kennen gelernt
hat als Krieg und Zerstörung, Propaganda und Menschenverachtung – ein Junge
aber auch, dem der Überlebenswille im Blut zu liegen scheint, eben weil
er keine anderen Umstände kennt.
Rossellini zeigt überzeugend, wie sich dieser
"an sich" normale Überlebenswille in Verbindung mit dem Satz
Ennings und der dahinter stehenden Ideologie zum Tötungswillen verändert.
Der Satz Ennings gehört zu den zentralen Aussagen einer Ideologie, die
Menschen – nicht etwa Dinge! – in "wert" und "unwert" klassifiziert.
Damit allein aber ist einer "Ethik" Tür und Tor geöffnet,
die nach dem Maßstab handelt, alles tun zu dürfen, und damit maßlos
wird. Dass Edmund dies in sich aufnimmt, ist die andere Seite der Geschichte,
die einerseits auf den Beginn der NS-Herrschaft rekurriert, also auf die Erziehung
zum Töten, andererseits aber auch deutlich macht, dass mit dem Untergang
dieser Herrschaft das entsprechende Denken und Handeln längst nicht ebenso
verschwunden ist und unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen weiter
wirken kann. Zu diesen Voraussetzungen gehört hier auch ein Erfahrungshorizont,
der bestimmt ist von Armut, Angst, Kampf ums
nackte Überleben.
Edmund wird zum Opfer seines Ex-Lehrers, der Vater
wird zum Opfer seines Sohnes, und der Sohn – zur Besinnung gekommen, aber in
der Einsamkeit seiner furchtbaren Tat verzweifelt – sieht keine andere Lösung
als den eigenen Tod. Damit ähnelt Edmund all jenen, die anfangs von der
"Größe" Hitlers überzeugt waren und zu spät merkten,
auf was sie sich eingelassen hatten, wie es Edmunds Vater an einer Stelle des
Films einmal äußert.
Edmund wird zum Täter, zum Mitläufer und
Handlanger einer Ideologie und zum Opfer eben derselben Ideologie. Vor allem
dies, die Einsicht, dass 1945 in Deutschland nicht irgendeine "Stunde Null"
angebrochen war, sondern die seelischen, politischen, kulturellen und ethischen
Trümmer noch lange nicht beseitigt waren, muss in der deutschen Publizistik
den Widerstand gegen Rossellini ausgelöst haben. Noch heute glauben viele,
der Nationalsozialismus sei ein singuläres Ereignis gewesen, etwas, was
nie wieder kommen könne, in welcher Form auch immer.
Bereits 1947 räumt Rossellini mit diesem falschen
Schein auf – und kaum einer in dem zerbombten Land hört auf ihn, stellt
sich dem. Er lässt Laienschauspieler auftreten, die in grandioser Weise
das Leben nach der Kapitulation in Berlin darstellen können. Die Authentizität
des Films bezieht sich aber nicht nur darauf, sondern auch auf die Aussage des
Films und seine implizit im Vorspann geäußerte Hoffnung. Die melodramtische
Zuspitzung der Geschichte lässt bereits erahnen, dass Rossellini nicht
ewig und immer im Neorealismus "stecken" bleiben, das er ihn fortentwickeln
wird – nicht zu jener Art Melodrama à la Douglas Sirk, aber zu einem
Drama, das das Individuum (noch) stärker in den Mittelpunkt rücken
wird, etwa in seinen Filmen mit Ingrid Bergman.
Dass der Film auch heute hierzulande eher ein Schattendasein
führt, mag auch daran liegen, dass heute kaum noch jemand glaubt, etwas
wie der NS könne sich wiederholen. Dies verkennt, dass es nicht um Wiederholung
geht, sondern um die Bedeutung einer zentralen Annahme des NS – die Einteilung
von Menschen in "wertes" und "unwertes" Leben. Diese Annahme
ist Grundvoraussetzung für eine entfesselte Macht der Vernichtung, diese
wiederum nicht unbedingt an eine Ideologie wie den NS gebunden. In den modernen
Naturwissenschaften herrscht beispielsweise teils die Auffassung, dass das,
was Wissenschaft möglich macht, auch dazu berechtigt, es zu tun – eine
"Ethik" also, die von dem Satz ausgeht: Was man machen kann, darf
(und soll) auch gemacht werden. Gerade die Überlegungen z.B., Menschen
bewusst in der Weise zu "produzieren", dass man ihre genetischen Codes
manipuliert, um ein wie auch immer gewünschtes "Ergebnis" zu
erzielen, gehen schnurstracks in eine Richtung, die der Unterteilung "wertes"
und "unwertes" Leben sehr nahe kommt.
Auch aus solchen Gesichtspunkten lässt sich
rückschließen, warum eine derart deutliche und authentisch dargebotene
Kritik an dem mörderischen Ideologem vom "unwerten" Leben schon
damals auf heftige Kritik in Deutschland stieß.
Roberto Rossellini
wäre am 8. Mai 2006 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses Tages
erschien jetzt die DVD "Roberto Rossellini Anniversary Edition" mit
den vier Filmen "Reise in Italien", "Stromboli", "Deutschland
im Jahre Null" und "Paisà", die bei jpc € 25,99 kostet.
Die DVD-Edition enthält ein ausführliches Booklet zum Regisseur und
seinen Filmen.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen in: follow me now
Deutschland
im Jahre Null
(Germania
anno zero)
Italien
1948, 78 Minuten
Regie:
Roberto Rossellini
Drehbuch:
Roberto Rossellini, Max Kolpé, Sergio Amidei
Musik:
Renzo Rossellini
Kamera:
Robert Juillard
Schnitt:
Eraldo da Roma
Produktionsdesign:
Piero Filippone
Darsteller:
Edmund Moeschke (Edmund Köhler), Ernst Pittschau (Vater), Ingetraud Hinze
(Eva Köhler), Franz-Otto Krüger (Karl-Heinz Köhler), Erich Gühne
(Herr Enning, Lehrer), Alexandra Manys (Christl), Babsi Schultz-Reckewell (Jo),
Heidi Blänkner (Frau Rademacher), Hans Sangen (Herr Rademacher)
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