zur startseite
zum archiv
Für Odysseus war es noch widriger Götterwille, der ihn zu den Grenzen der damals bekannten Welt trieb, wo er sich, unter anderem, gegen Tod bringende Sirenen und Menschen fressende Zyklopen behaupten musste. Für den Großstädter des 21. Jahrhunderts, nachdem alle Frontiers eingeholt, alle weißen Flecken längst von den Landkarten getilgt sind, ist es die Zivilisationsmüdigkeit, die ihn dazu treibt, sich auf die Suche nach dem großen Abenteuer zu machen, das er an den vermeintlichen Grenzen seiner bekannten Welt sucht. Im Adrenalinrausch wird der romantische Traum von der Rückkehr zur Natur geträumt, die man vorher mit größter Mühe aus seinem Umfeld verdrängt hat. Die Konfrontation mit der Gefahr, das Unberechenbare, das Unkontrollierbare der archaischen Natur bieten eskapistische Gegenpole zur Sicherheit und Vorhersehbarkeit des Alltags.
War das
Abenteuer Wildnis im Kino vor dreißig Jahren noch Männersache, etwa
in John Boormans Deliverance, so darf
sich heute eine reine Frauentruppe hinab begeben in die Unterwelt. Daran aber,
dass im Unbekannten hinter den fiktiven Frontiers blutrünstige Monster
lauern können, haben alle zivilisatorischen und emanzipatorischen Prozesse
seit Homer nichts geändert. Leider bleibt die Beschäftigung mit Abenteuerlust
und Abenteuerindustrie in The
Descent
nur Vorwand.
Sarah
(Shauna Macdonald) hat Mann und Tochter bei einem Autounfall verloren. Ein Jahr
später fährt sie, nach wie vor von Alpträumen geplagt, mit ein
paar Freundinnen zum Caving, zum Höhlenklettern, in die Appalachen. Leider
steht ihr Unternehmen offenbar unter keinem guten Stern. Juno (Natalie Jackson
Mendoza), Sportskanone und Adrenalinjunkie, beschließt kurzerhand, über
den Rest der Gruppe hinweg, der Abenteuerindustrie ein Schnippchen zu schlagen.
In ihrem Entdeckernarzissmus reicht es ihr nicht, durch langweilige Reiseführerhöhlen
zu kraxeln, Neuland möchte sie erschließen, sehen was niemand vor
ihr sah.
Es geht
also auch um das Trauma einer Frau und wie sie es zu überwinden hofft.
„Descent“ heißt übersetzt „Abstieg“ aber auch „Abstammung“. Sarah
muss zurückkehren an den Ursprung, tief in den Schoß von Mutter Erde,
ins Katakombensystem des eigenen Unbewussten, um ihre Dämonen zu besiegen
und neu geboren werden zu können. Man kann dabei auch an Freuds Analogie
zwischen Pompeji und menschlichem Seelenleben (Verschüttung = Verdrängung;
Ausgrabung = Aufdeckung des Verdrängten in der Analyse) denken. Schade
eigentlich, dass auch der psychologische Komplex nur Vorwand bleibt.
Denn so
sehr der Film immer wieder, mit nerviger Beharrlichkeit zum Trauma seiner Hauptfigur
zurückkehrt, so sehr bleibt doch der Unfall, in dem Freund und Tochter
von Heizungsrohren durchbohrt werden, Selbstzweck. Hauptfunktion dieses tongebenden
Schockmoments, ehe fünf Minuten Filmzeit verstrichen sind (auf dem Fantasyfilm
Fest mit Applaus goutiert) besteht eben genau darin, einen tongebenden Schockmoment
zu liefern, ehe fünf Minuten Filmzeit verstrichen sind. So sehr Neil Marshall
vielleicht vorhatte, sein Frauengespann von den üblichen Abziehbildcharakteren
des Slasher- und Backwoodfilms zu emanzipieren, bleiben sie doch stereotyp und
dem Diktat des Spannungsbogens unterworfen. Die Traumatisierte verhält
sich immer genau so traumatisiert, die Draufgängerin genau so draufgängerisch
und die Englischlehrerin genau so lehrerhaft-vernünftig wie nötig,
um die Handlung stets dahin zu treiben wo sie hin soll: auf schnellstem Wege
von Schock zu Schock, von Klimax zu Klimax.
Im Mittelteil
weiß Marshall mit diesem Effektbewusstsein noch durchaus zu punkten. Gekonnt
wird mit minimalistischen Mitteln die klaustrophobische Enge der Gänge
und Grotten eindringlich in Szene gesetzt. Ein ums andere mal wird der Zuschauer
in seinem Kinosessel veranlasst, die Schultern zusammen zu ziehen und die Luft
anzuhalten. Wenn sich die Frauen durch die Gänge quetschen wird oft nur
ein Drittel des Leinwandkaders ausgeleuchtet. Immer scheint etwas Bedrohliches
in den dunklen Ecken und schattigen Winkeln zu liegen, die vom flackernden Licht
der Taschenlampen oder vom Fluoreszieren der Brennstäbe, den einzigen Lichtquellen
im ewigen Schwarz, nicht erreicht werden. Beängstigend ist gerade das,
was im Verborgenen bleibt und wenn man schließlich schmerzhaft erfährt,
was da in der Finsternis lauert, führt es notwendig zur Enttäuschung.
„Crawlers“,
so erfahren wir im Abspann, heißen die Kreaturen, die in etwa aussehen
wie eine Ork-Gollum-Kreuzung, blind und perfekt an das Leben in der Dunkelheit
angepasst sind. Immer blutrünstiger geht es nun zu, wenn die Abenteurerinnen
den Kampf aufnehmen und dabei schnell dezimiert werden. Nach einem Bad im Blut
der Opfer der Crawlers sieht Sarah gar aus wie die blutüberströmte
Titelfigur am Ende von Brian de Palmas Stephen-King-Verfilmung Carrie. Das,
was man im Finale von The
Descent,
trotz des megahektischen Schnitts und der miserablen Lichtverhältnisse,
zu sehen bekommt ist eine eigenwillige Art von ultrablutigem Hochglanzhorrorkitsch.
Wo es
De Palma noch verstand, Kitsch, Brutalität und Filmzitate in ein Zeichensystem
zu integrieren, das in seinen besseren Filmen zu einer grundlegenden Reflexion
über das menschliche Sehen im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit durch
die Kamera wird, bleibt The
Descent,
so tief er auch zu graben versucht, doch stets an der Oberfläche der Dinge
haften. Alles bleibt Material, Mittel zum Zweck, der nicht hinterfragt oder
reflektiert wird. Im Gegensatz zu Juno bleibt Marshall mit seiner Taktik, den
Zuschauer in einem fort und ohne Atempause zu erschrecken und zu ekeln, ihm
nie eine Möglichkeit zu geben durchzuatmen und genauer darüber nachzudenken,
was er da gerade in der Dunkelheit gesehen hat, immer auf sicherem Pfade. So
wie Sarah am Ende an der Bewältigung ihres Traumas scheitert, scheitert
der Regisseur an der zwangsläufigen Substanzlosigkeit eines Films, der
alle seine Ansätze dem oberflächlichen Schockeffekt opfert. Kein Weg
führt aus dieser Höhle raus. So erschließt sich hinter der fiktiven
Frontier kein Neuland. Nichts, was niemand zuvor gesehen hat. Alles bleibt kontrolliert
und berechenbar. Nirgends tut sich ein Gegenpol zur vorhersehbaren Unsicherheit
des Genrealltags auf.
Konsequent
an allen Möglichkeiten und Ambitionen vorbei inszeniert bleibt unappetitliche,
zugegebenermaßen, extrem spannende, Horrorhausmannskost, die einen etwas
faden Nachgeschmack hinterlässt, wie alles, was man einfach schon zu oft
gegessen hat.
Dieser
Text ist nur in der filmzentrale erschienen
Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte
The
Descent
(UK
2005)
Regie:
Neil Marshall
Buch:
Neil Marshall
Produktion:Christian
Colson
Musik:
David Julyan
Kamera:
Sam McCurdy
Schnitt:
Jon Harris
Besetzung
(In alphabetischer Reihenfolge):
MyAnna
Buring, Craig Conway, Natalie Jackson Mendoza, Molly Kayll, Stephen Lamb, Shauna
Macdonald, Oliver Milburn, Saskia
Mulder, Nora-Jane Noone, Alex Reid, Leslie Simpson, Mark Smith
Länge:
99 min
zur startseite
zum archiv