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Dead Man

 

Gegenentwurf zum Mythos der Eroberung des Westens

 

„Es empfiehlt sich nicht, in Begleitung eines Mannes zu reisen, der bereits tot ist.“

 

Brachialer Schmerz reißt Dich aus der Bewusstlosigkeit: ein über Dich gebeugter Indianer in Kriegsbemalung, dessen schief sitzender Federschmuck mehr an eine Narrenkappe erinnert, stochert mit einem Messer gefährlich nahe an Deinem Herzen herum. Es dämmert Dir wieder, dass Du vor drei Tagen aus Cleveland mit der Dampflokomotive in den Wilden Westen aufgebrochen bist, um eine Stelle in einer Metallfabrik des verwunschenen Ortes „Machine“ anzutreten, einer Art Vorhölle, wo die Wolken so tief hängen, als stünden sie kurz davor, rostige Nägel zu schütten. Nach dem Tod Deiner Eltern hast Du alle Brücken hinter Dir abgebrochen, Dein letztes Geld zusammengekratzt, um der Hoffnung Raum zu geben, in eine neue Existenz hinein zu wachsen: doch statt Dich zu beschäftigen, hat man hat Dich achtkantig aus dem Eisenwerk geworfen, Du hast Dich Trost suchend mit dem falschen Mädchen eingelassen, auf die deren Freund das Feuer eröffnet hat, als Du mit ihr auf dem Bett gesessen bist. Das stählerne Projektil hat erst heiß ihren Körper durchbohrt, bevor es in Deinem eigenen Brustkasten erkaltet Halt gemacht hat. Aber schon fällst Du wieder in abgründige Ohnmacht, das Reich der großen Geister bedrohlich streifend.

 

[*]

 

Dead Man erzählt die Geschichte einer Reise eines Mannes, die ihn mit Umständen  konfrontiert, denen er weder körperlich noch geistig gewachsen ist. Schauplatz ist der äußerste Westen Amerikas, irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ohne ein Dach über dem Kopf und schwer verwundet kreuzt „William Blake“ den Weg des Indianers „Nobody“, der glaubt, es handle sich um den britischen Dichter gleichen Namens, mit dessen Gedichte er Bekanntschaft gemacht hat, als er vorübergehend ins viktorianische England verschleppt gewesen ist. Unter der Anleitung des kauzigen Nobody, der ebenfalls aus seinem gewohnten Lebensraum herausgerissen ist, hangelt sich William Blake mit kargen Gesten und knappen Sätzen als Todgeweihter durch abgestorbene Wälder und entseelte Landschaften, bewährt sich in Situationen, die mal ins Komische mal ins Blutrünstige kippen. Die hereinbrechenden Widersprüchlichkeiten voller Chaos und Rohheit verwandeln den einfältigen Blake in einen Gesetzlosen, der auf seinem Weg verwahrloste Spießgesellen und grobschlächtige Kopfgeldjäger über den Haufen schießt, obwohl seine Kräfte wegen der lebensbedrohlichen Verletzung mehr und mehr schwinden. Getrübten Wahrnehmungssinns nimmt William Blake zunehmend die zugedachte Rolle als Reinkarnation des Dichters an, während Nobody ihn, anfangs zu Pferd, später im Kahn, zu derjenigen Stelle des Großen Wassers befördert, wo er den Übergang zum Totenreich vermutet.

 

Jim Jarmusch, der Hexenmeister unabhängigen Filmschaffens hält in einem kraftstrotzenden Mosaik dem Amerika zur Zeit des Wilden Westens einen überaus hässlichen Spiegel vor. Hier gibt es keinen Revolverhelden, der irgendwelche Kunststückchen inszeniert, kein Indianer trägt typische Eigenarten zur Schau, was Anlass zu mannigfachen Spekulationen gibt, kultisch wie mystisch wie spirituell. Doch wie bei anderen Kultfilmen versickert die Sinnsuche: überall lauert unvorhersehbares Übel, wuchert Brutalität, regiert Zerbrechlichkeit, Rechtlosigkeit – ein Menschenleben scheint nichts wert. Robby Müllers Kameraführung überzeugt diesmal mit kontrastreichen, schwarzweißen Bebilderungen bei spärlicher Beleuchtung, die den Effekt der Trostlosigkeit verdreckter Zustände verdichtet, vielleicht der Arbeit eines Heizers nachempfunden, dem Kohlenstaub und Flammen ständig entgegenschlagen. In diese Richtung zielt auch die feinnervige Musikuntermalung Neil Youngs, dessen flackernde Gitarrenriffs noch lange metallen nachhallen, vergleichbar mit dem Anfahrtsgeräusch alter Dampflokomotiven, wenn die massiven Eisenräder, bald wie in Zeitlupe, bald wie im Zeitraffer über blanke Stahlschienen schleifen, bevor sie greifen.

 

berti.r

 

[*] Filmtrailer: http://www.madman.com.au/actions/trailer.do?method=view&videogramId=2637

 

Dieser Text ist zuerst erschienen bei: www.ciao.de

Zu diesem Film gibt’s im archiv mehrere Texte

 

 

 

Dead Man

(Dead Man)

USA 1995, 121 Minuten

Regie: Jim Jarmusch

Drehbuch: Jim Jarmusch

Musik: Neil Young

Director of Photography: Robby Müller

Schnitt: Jay Rabinowitz

Produktionsdesign: Bob Ziembicki

Darsteller: Johnny Depp (William „Bill“ Blake), Gary Farmer (Nobody / Niemand), Robert Mitchum (John Dickinson), Lance Henriksen (Cole Wilson, Kopfgeldjäger), Michael Wincott (Conway Twill, Kopfgeldjäger), Eugene Byrd (Johnny „The Kid“ Pickett, Kopfgeldjäger), Iggy Pop (Salvatore „Sally“ Jenko, Jäger), Billy Bob Thornton (Big George Drakoulious, Jäger), Jared Harris (Benmont Tench, Jäger), Mili Avital (Thel Russell), Gabriel Byrne (Charles Ludlow Dickinson), Alfred Molina (Händler in der Poststation), Crispin Glover (Maschinist), John Hurt (John Scholfield, Büroleiter bei Dickinson), John North (Buchhalter bei Dickinson), Mark Bringleson (Lee, Marshall), Jimmy Ray Weeks (Marvin, Marshall), Michelle Thrush (Niemands Freundin)

 

 

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