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Darjeeling
Limited
Sonderzug ins
Unvorhersehbare
"Darjeeling Limited", der neue Film
von Wes Anderson, lässt drei Brüder durch Indien reisen – eine spirituelle
Reise, angetrieben von wunderbar neurotischem Drive.
Der Vater ist tot. Die Mutter
ist fort. Die Söhne nehmen so viele Schmerzmittel, dass es reicht, eine ganze Herde
Elefanten zu betäuben. "Darjeeling Limited", der neue Film von
Wes Anderson, ist trotzdem eine Komödie. Wie in seinem bisherigen Oeuvre
– "The Life Aquatic
with Steve Zissou" (2004), "The Royal Tenenbaums" (2001),
"Rushmore" (1998) und "Bottle Rocket" (1995) – verschränkt
der Regisseur das Traurige mit dem Komischen, die nonchalante Geste mit dem
Schmerz. Noch bevor der Hauptfilm überhaupt beginnt, macht sich diese Mischung
bemerkbar. "Darjeeling Limited" hat einen Vorfilm, "Hotel Chevalier".
Gleich in der zweiten Einstellung ist ein Hotelzimmer zu sehen. Rechts das Bett,
links ein Flachbildschirm, gelb ist die vorherrschende Farbe. Auf dem Bett ein
Paar nackter Füße. Auf dem Screen zwei Paar Füße in Stiefeln,
schwarzweiß. Sie gehören zu Leichen. Der Film im Fernsehen ist "Stalag
17" von Billy Wilder, er spielt in einem deutschen Kriegsgefangenenlager
am Ende des Zweiten Weltkriegs. "Droppen Sie dead", fährt der
Lagerkommandant die inhaftierten US-Soldaten immer mal wieder an und meint es
als Scherz.
Die Füße auf dem Bett
gehören Jack (Jason Schwartzman), dem jüngsten der drei Whitman-Brüder.
Im Hauptfilm wird er zusammen mit Francis (Owen Wilson) und Peter (Adrien Brody)
in einem Zug namens Darjeeling Limited durch Indien reisen. Noch hat er sich
– vielleicht aus Trauer um den toten Vater, vielleicht eines gebrochenen Herzens
wegen, vielleicht wegen allgemeinen Überdrusses – in Paris im Hotel Chevalier
verschanzt. In seinem Zimmer sammelt er allerlei: eine Schautafel mit Rennpferden,
den postkartengroßen Nachdruck eines Gemäldes von Tizian, das einen
Fettleibigen zeigt, einen Koffer, den kleine Bilder exotischer Tiere schmücken,
eine Schwarzweißfotografie von indischen Maharadschas, präparierte
Schmetterlinge hinter Glas. Einige dieser disparaten Abbildungen und Objekte
nehmen vorweg, dass "Darjeeling Limited" in Indien spielen wird; zugleich
machen sie in ihrer Summe etwas deutlich: Andersons Film ist eine Wunderkammer,
geboren aus der Fantasie eines Sammlers und Bastlers.
In einer späteren Szene,
gegen Ende des Films, hebt ein Travelling den Fortgang der Handlung für
ein, zwei Minuten auf; die Kamera fährt von links nach rechts an einem
Zug entlang, der nur zum Teil aus Waggons, zu einem anderen Teil aus nachgebauten
Schauplätzen des Films besteht, aus Lehmhütten zum Beispiel oder aus
dem gelben Zimmer des Pariser Hotels. Anderson versetzt die Figuren und die
Orte des Films in eine lebensgroße Modelleisenbahn und lässt sie
so Revue passieren. In "The Life Aquatic with Steve Zissou" gab es
eine vergleichbare Zäsur. Dort war es eine Einstellung, die einen Schiffsbauch
im Querschnitt zeigte. Mit Kombüse, Kabinen und Maschinenraum schaute er
wie eine Puppenstube aus.
Die Schmetterlinge in Jacks Zimmer
erzählen außerdem von einer Schönheit, die, damit sie bewahrt
werden kann, ihr Leben lässt. Darin klingt eines der treibenden Motive
des Filmes an. Wie geht der Sammler mit seinen Sammelstücken um? Was geschieht,
wenn der Bastler seine drolligen, verspielten Modelle baut, wo eben noch Unordnung
herrschte? Wenn der Filmemacher der Komposition unterwirft, was eben noch chaotisch
war? Und, Gegenfrage, was geschähe, täte er es nicht? "Darjeeling
Limited" spielt diese Fragen auf vielen Ebenen durch – etwa in der Figur
Jacks, der als Schriftsteller genau das niederschreibt, was ihm, seiner einstigen
Geliebten oder seinen Brüdern widerfährt. Trotzdem behauptet er: "Alle
Figuren in dieser Geschichte sind frei erfunden." Es ist ein widersprüchliches,
bereicherndes und zerstörerisches Zusammenspiel zwischen Gegenständen
und deren Fixierung im Abbild, zwischen Fluss und Festhalten, zwischen Leben
und Kunst. "Darjeeling Limited" selbst stellt sich dabei umso mehr
auf die Seite der Kunst, als sich die Fantasiewelt, die Anderson entwirft, hermetisch
gegen alles abdichtet, was jenseits des Bildkaders liegt.
Mit dem realen Subkontinent hat
das Indien in "Darjeeling Limited" deshalb wenig zu tun, eher mit
Filmen wie Michael Powells und Emeric Pressburgers "Black Narcissus"
(1947) oder Jean Renoirs "The River" (1951). Doch daran ist etwas
paradox. Die genannten Filme kreisen um Figuren, denen der Aufenthalt in Indien
hilft zu begreifen, dass im Leben nicht alles plan- und bestimmbar ist. Sei
es die Höhenluft, die in "Black Narcissus" die Sinne verwirrt,
seien es die Arhythmien des Herzens und der Biss einer Schlange in "The
River" – das Unvorhergesehene tritt ein, und es lässt einem keine
andere Wahl, als es hinzunehmen.
So ähnlich sieht es auch
Francis, der Älteste der Whitman-Brüder. Die Reise nach Indien hat
er als spiritual
journey
konzipiert. Dem Unbekannten, dem Neuen will er sich öffnen, selbst wenn
es, wie er einmal sagt, schockierend und schmerzhaft sein sollte. Zugleich legt
er Wert auf einen minutengenauen Reiseplan. Um 7.00 Uhr aufstehen, um 7.15 Uhr
duschen, um 7.30 Uhr frühstücken, zwischen 10 Uhr und 11.45 Uhr den
Tempel der tausend Bullen besichtigen.
Die Lust an der Offenheit und
die Sehnsucht nach Kontrolle kommen sich also beständig in die Quere. Das
verleiht dem Film und den Figuren einen wunderbar neurotischen Drive. Und was
für Francis Whitman gilt, das gilt für Wes Anderson umso mehr. Seine
sorgsam arrangierte Fantasiewelt, seine detailversessene Mise en scène,
seine durchkomponierten Einstellungen, sein aus Symmetrien und Analogien gewonnener,
lakonischer Bildwitz: All das wird auf eine harte Probe gestellt, und das nicht
nur, weil der Regisseur und sein Team im indischen Bundesstaat Rajasthan drehten
und der Wunsch nach Kontrolle in Städten wie Udaipur oder Jodhpur ins Leere
läuft. Mehr noch, weil "Darjeeling Limited" den Kontrollverlust
zwar fürchtet, ihn aber ebenso sehr herbeisehnt.
Eines Morgens macht der Zug einfach
Halt. Er habe sich verfahren, heißt es. Die Whitman-Brüder stehen
in ihren pastellfarbenen Pyjamas neben den Gleisen im Wüstensand. "Wie
kann ein Zug sich verfahren?", fragt Jack wütend. Francis ruft voller
freudiger Erregung: "Ist das nicht symbolisch? Wir haben unseren Standpunkt
noch nicht bestimmt!" Bevor er den Plan zur Indienreise fasste, hatte Francis
mit Not einen Motorradunfall überlebt. Jetzt versteckt sich sein Kopf unter
einem Gebilde aus Mullbinden und Metallschienen. Einmal nimmt er den Verband
probehalber ab. Dabei kommen so viele Wunden zum Vorschein, dass er die Bandagen
schnell wieder anlegt. "Das muss noch eine ganze Weile heilen." Gegen
Ende von "Darjeeling Limited" sagt er wie nebenbei: "Ich habe
das Motorrad absichtlich an dem Hügel entlangschrammen lassen."
Peter ist nicht weniger niedergeschlagen,
obwohl – oder weil – er in wenigen Wochen Vater wird. Er leidet an der schwer
fassbaren Melancholie, die für die Figuren Andersons so charakteristisch
ist. Jack kann seine Geliebte nicht vergessen, sodass er noch in der indischen
Wüste ihren Anrufbeantworter abhört. Aus fast jeder Interaktion der
Brüder wird ersichtlich, dass ihr seit Kindertagen eingeschliffene Verhaltensmuster
zugrunde liegen. Alte Verletzungen kehren wieder, alte Eifersucht, altes Dominanzgebaren.
Zugleich ist Andersons Kosmos einer der süßen Regressionen, steht
die Kindheit für eine bessere, glücklichere Zeit. Die Helden suchen
nach dem Ort, an dem sie nicht erwachsen werden müssen.
In dem Maße, wie der Film
sich zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen Chaos und Komposition
hin und her bewegt, in dem Maße ist auch der Zuschauer hin und her gerissen:
Lässt er sich vom Los der Whitmans rühren oder amüsieren? Nimmt
er ihren Ennui ernst, oder schmunzelt er darüber? Oder verwirft er das
Entweder-oder, weil er erkennt, dass bei Anderson immer beides koexistiert –
das Traurige in der skurrilen Pointe, die Melancholie im schadenfrohen Bildwitz,
der Schmerz über Tod und Verlust in einer slapstickhaften Schlägerei?
"Geschichten und Bilder"
hat Georg Seeßlen einmal geschrieben, seien "so etwas wie Teddybären.
Begleiter in Phasen, wo ich meine Einsamkeit spüre." Wenn das stimmt,
dann haben die Zuschauer den Brüdern etwas Entscheidendes voraus. Die Whitmans
haben Pillen, Hustensaft und Tropfen, um sich zu trösten. Wir haben etwas
Besseres: "Darjeeling Limited".
Cristina Nord
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz
Darjeeling
Limited
USA
2007 – Originaltitel: The Darjeeling Limited – Regie: Wes Anderson – Darsteller:
Owen Wilson, Adrien Brody, Jason Schwartzman, Anjelica Huston, Irrfan Khan,
Natalie Portman – Prädikat: besonders wertvoll – FSK: ab 6 – Länge:
105 min. – Start: 3.1.2008
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