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Dancer in the Dark

 

 

Hybride Tränen

 

 

Wie, wenn Lars von Trier das alles nur ironisch meinen würde? Wenn alles ein einziger großer Scherz wäre? Wenn er es einfach nur einmal mehr allen hätte zeigen wollen, die ihm gläubig noch die absurdeste Absurdität abnehmen, wenn er sich seinen Scherz machen würde, mit den Kritikern, den Festivaljurys und allen anderen, die einfach nicht aussprechen möchten, was sie sehen, sondern sehen, was sie glauben wollen?

Sage keiner, dass Lars von Trier nicht ein großer Ironiker sei. Dass er keiner ist, der die Gesetze des Kinos bis in ihre Details durchschaut, und alle Register ziehen kann, der mit dem Pathos spielt. Lars von Trier mag vieles sein, aber er ist immer auch ein Rationalist, einer der weiß, was er tut und der die Vernunft schätzt – und sei es nur, um ihre Grenzen zu überschreiten. Katholik, aber kein Mystiker.

 

Kann man denn eine solche Geschichte überhaupt ernst meinen: Vom Opfergang der jungen Selma, einer Heiligen möglicherweise, so selbstlos und ohne Harm, so engelsgleich wie sie ist. Und so nett, so putzig, so offen zu allen. So herzergreifend. Und dann noch gespielt von Björk, diesem isländischen Wunder mit ihrer hellen, bezaubernden Stimme, so licht und klar. Wenn Björk singt, scheint die Welt stillzustehen. "I ve seen it all" lässt sie wissen, dass es nicht mehr zu sehen gibt, dass es Todsünde wäre, noch mehr zu wollen.

 

Und dann ist da die böse Welt: Amerika als ein sich verdüsternder Traum. Der Kapitalismus, der schnöde, verkörpert von herzlosen Vorarbeitern, Ärzten, die man betrügen muss, weil sie die Augenkranke vor sich selbst schützen wollen, ohne zu sehen, dass sie ihr dadurch erst alles nehmen. Und die Maschinen, die 1964 noch so richtig hart und metallisch klirrten, Malmzähne eines Industriezeitalters, das heute vorbei ist. Besonders böse der Polizist, der doch Arm des Gesetzes sein sollte, und um Selmas Schicksal weiß. Er wird zum Vollender der Tragödie, und das irdische Gesetz zum Werkzeug des Teufels.

 

Und es gibt noch die Eskapismen: Amerika, das trotzdem Traum bleibt, mit seinen technischen Möglichkeiten, den Ärzten, die Heilung versprechen für versehrte Körper. Und seinem Sound of Music, der Heilung verspricht für die Seelen auch der Erniedrigten; Verheißung des Glücks – im Kino zumindest. "It’s a musical, of course they dance." Kann man das ernst meinen? Vielleicht schon, wenn man Lars von Trier heißt.

 

Man kann nun sagen: "Geniestreich". Ein Melodram, so perfekt, wie sonst nur Vorabendserien. Der dänische Regisseur hat dann einfach einen herausfordernden, aufwühlenden Film gemacht. Wer reinkommt, ist drin. "Die Welt braucht solche Filme" hat einer in Cannes geschrieben.

Was aber, wenn man nicht "aufgewühlt" ist? Ist man dann nur einer von den ganz Abgebrühten, Übercoolen, die zu intensiven Erlebnissen nicht mehr fähig sind? Moralisierende Ästhetik: wer es nicht schön findet, ist eigentlich ein schlechter Mensch.

 

Man kann alles aber auch so sehen: Prätention von der allerersten Minute an. Die fünfminütige schwarze Zumutung am Beginn (Andacht, bitte, jetzt kommt die Kunst), Tagträume (Magie!), Kamerakreisen und Zeitlupe (Poesie!), Wackelkamera (Sehen wird plötzlich nicht mehr selbstverständlich), reaktionäre Opfermythen (Frau einmal mehr als Hysterikerin und schöne Leiche), außerdem eine behinderte Mutter (Natur!), auch noch Ausländerin, die in ihrer Person also all jene sentimentalen Affekte vereint, auf die die kunstduseligen Bildungsbürger in Europas Städten am liebsten hereinfallen. Und Björk, die so gut ist, "gerade weil sie keine Schauspiel-Ausbildung hat". Von wegen – so ein Quatsch!

 

Was also? Die Spannung zwischen beiden Möglichkeiten ist der Reiz dieses Films. Ernst, wo er ausgesprochen, gar eingefordert wird, funktioniert nicht mehr. Darum kann man nur noch auf ihn anspielen, darf nicht mehr glauben. Ernst ohne Pathos heißt diese Gratwanderung. Von Trier spielt frech mit dem Kanon. Und mit den Mythen des Kinos. Der Traum des Musicals ist der Traum vom utopischen Ausweg. Davon, das man das Blut wieder abwaschen kann, danach. Ein Traum.

 

Nein, Lars von Trier kann das alles nicht ernst meinen.

 

 

Rüdiger Suchsland

 

Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:

artechock : FILM- UND KUNSTMAGAZIN

Zu diesem Film gibt’s im archiv  mehrere Texte

 

 

Dancer in the Dark

(Dancer in the Dark)

Dänemark 2000, 140 Minuten (DVD: 134 Minuten)

Regie: Lars von Trier

Drehbuch: Lars von Trier

Musik: Björk, Mark Bell, Richard Rodgers

Kamera: Robby Müller

Schnitt: François Gédigier, Molly Marlene Stensgård

Darsteller: Björk (Selma Jezkova), Catherine Deneuve (Kathy), David Morse (Bill Houston), Peter Stormare (Jeff), Joel Grey (Oldrich Novy), Cara Seymour (Linda Houston), Vladica Kostic (Gene Jezkova), Jean-Marc Barr (Norman), Vincent Paterson (Samuel), Siobhan Fallon (Brenda), Zeljko Ivanek (Staatsanwalt), Udo Kier (Dr. Pokorny)

 

Internet Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0168629

 

 

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