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Da
habt ihr mein Leben
Die außergewöhnliche DEFA-Chronik „Die
Kinder von Golzow“ (1961-2003) begleitet die unterschiedlichen Lebenswege von
13 Menschen, denen gemeinsam ist, dass sie in einem brandenburgischen Örtchen
östlich von Berlin nahe der deutsch-polnischen Grenze aufwuchsen. Im 13.
Teil der Reihe kommentiert die Protagonistin Marieluise retrospektiv Ausschnitte
aus den filmischen Zeugnissen ihres bisherigen Lebens und trägt damit dazu
bei, ein Gesamtbild anzufertigen, das sich einer nie zu erreichenden Vollständigkeit
wenigstens annähert. Das Verdienst des Filmes ist aber nicht nur die gute
Idee, sondern in erster Linie der Schritt zur Epochen verschlingenden Umsetzung,
in die die Macher Winfried und Barbara Junge einen Teil ihres eigenen Lebens
investiert haben. Auch Marieluise hat ihr Leben (und vielleicht auch einen Teil
ihrer Intimsphäre) investiert, es aber nicht für den Film weggeworfen
oder verschenkt, wie es der Titel vermuten lässt. Sie ließ es schließlich
nicht von ihm lenken. Dass man sich im Bewusstsein der Präsenz einer Kamera
etwas anders gibt, ist ja natürlich, auf die wichtigen Entscheidungen im
Leben hat das Gefilmt-Werden aber keinen Einfluss.
Das Ergebnis ist vor allem eine auf präziser
Beobachtung basierende Auseinandersetzung mit der DDR, mit dem Antagonismus
von Theorie und verunglückter Umsetzung von Sozialismus. In den Mittelpunkt
der Dokumentation wird der Mensch gerückt, der als Versuchskaninchen für
die Realisierung einer staatlichen Ordnung herhalten durfte, die ursprünglich
für ihn bestimmt war, sich aber immer weiter von ihm entfernte, den Mensch
als solchen nicht mehr wahrnahm, Vertrauen durch Misstrauen substituierte und
nicht, wo es nötig war, regulierte, sondern durchgreifend kontrollierte.
„Da habt ihr mein Leben“ ist aber keine bloße Abschlachtung dieses Staats
aus heutiger Sicht, sondern lässt selbst in den älteren eingespielten
Archivaufnahmen – notwendigerweise verhüllte – Kritik durchscheinen, die
aus dem Selbsterleben entstand und noch ohne rückblickende Besserwisser-Attitüde
auskam. Es geht aber auch um das Leben an sich, das sich nicht vorbestimmen
lässt, das sich dynamisch windet und nur schwer in vorgepresste Formen
drücken lassen will. Dieser Eindruck wird hier natürlich durch die
Raffung der Ereignisse und die Fokussierung auf die wesentlichen Wendepunkte
in Marieluises Leben verschärft.
Aber der Reihe nach: Wir sehen Marieluise als Schülerin
beim fehlerfreien Vortrag eines Goethegedichts. Eine tiefere Auseinandersetzung
z.B. mit dem Freiheitsbegriff Goethes und der DDR-Interpretation von Freiheit
fand aber sicherlich nicht statt. Vielmehr werden durch das blinde und unreflektierte
Deklamieren der Klassiker, die hauptsächlich als Schmuckstück in Bücherregalen
eine akzeptierte Nische finden sollten, unter dem Vorwand von Bildungsvermittlung
doktrinäre Mechanismen eingeübt, die Fähigkeit zum eigenständigen
Denken aber läuft Gefahr, dezidiert dezimiert zu werden.
Trotz aller Manipulation des Volkes, die schon im
Kindesalter begann, war es aber nicht nur die intellektuelle Elite, die sich
aufgefordert fühlte, Fragen zu stellen und sich mir dem Sozialismus à
la DDR und seinen Missständen zu beschäftigen, sondern mit anderen
Voraussetzungen auch der kleine Mann. Marieluises Vater, ein Melker, usurpiert
als einfacher Arbeiter ein sakrales Recht auf Mitsprache, das Höheren vorbehalten
ist und äußert bezüglich der Produktionseffizienz unaufgefordert
Verbesserungsvorschläge, zu denen er gar nicht befugt ist und die nur allein
deshalb nicht berücksichtigt werden. Er erkennt zwar Fehler im System (z.B.
wenig Mitbestimmung, hierarchische Strukturen), die dem offiziellen Gedanken
von Volksherrschaft widersprechen und eher an eine Oligarchie erinnern lassen,
versteht diese aber als abstellbare Mängel, die – nobody is perfect – übersehen
wurden und identifiziert sie nicht als Symptome methodischer Unterdrückung
und vorsätzlicher Ausgrenzung der großen Masse vom politischen Mitwirken.
Mit solchen Dingen beschäftigt sich Marieluise
zunächst nicht, denn noch steht sie nicht im richtigen Leben. Im jugendlichen
Selbstfindungsprozess lernt sie einen Künstler kennen. Von der Liaison
der beiden zeigt sich ihre Umgebung nicht sonderlich angetan, erscheint ihnen
seine Tätigkeit doch suspekt und brotlos – das Paar trennt sich. Nach Bestätigung
und Anschluss dürstend („Torschlusspanik“), wählt Marieluise fortan
den Weg des geringsten Widerstands. Sie trifft ihre Berufswahl nach pragmatischen
Gesichtspunkten und wird Chemielaborantin. Ein vergleichsweise lohnender und
anerkannter Job, aber vor allem keine wirklich „schmutzige Arbeit“, die trotzdem
hervorragend ins Modell des Arbeiter- und Bauernstaats passt. An ihrer zunächst
anspruchslosen, weil mechanischen Tätigkeit, die genauso gut einfache Maschinen
verrichten könnten, es aber im Sinne der Vollbeschäftigung nicht tun,
reibt sich jedoch ihr Selbstverständnis zusehends auf. Der semi-vegetative
Zustand, in den Marieluise fällt, lässt nicht auf hohe Motivation
schließen und verbaut ihr damit noch Aufstiegschancen in verantwortungsvollere
Positionen. Und so scheint es, als ob sie schon zu Beginn ihres Lebens in einer
tiefen Sinnkrise stecken würde.
Schwärmerischen Worthülsen wie Freiheit
und Selbstbestimmung, die man als Heranwachsender mit Volljährigkeit konnotiert,
kann die Realität nicht immer gerecht werden. Denn eigentlich vollzieht
sich nur ein fließender Übergang von bevormundeter Kindheit in fremdbestimmtes
Erwachsensein, das sich ebenfalls nur in kleinen Kreisen bewegt, aber zudem
noch der naiven Hoffnung beraubt ist, dass später alles besser wird. Der
Staat verspricht eine gewisse Sicherheit, wenn nicht zum Leben, dann zumindest
zum Überleben. Um darauf Anspruch zu haben, sollte der gute Bürger
aber kooperieren und seinen Lebensentwurf möglichst nah an der vorgegebenen
Schablone (Heirat, Kinder, Wohnungsantrag, Arbeit) orientieren. Unbelehrbare
Abweichler, gegen die man als imagebewusster Abnehmer des sowjetischen Modells
repressiv vorgehen muss, sollen von vornherein vermieden werden (wenn es dann
doch welche gab, machte man das Beste draus, denn die Maßnahmen gegen
Dissidenten waren ambivalent: subversive Elemente wurden ausgemerzt und auf
mögliche Nachahmer wirkten sie, die Maßnahmen, sehr häufig,
ganz wie es Machiavellis Tyrannei-Ratgeber „Der Fürst“ vorsieht, einschüchternd
und abschreckend). Dazu baut Stiefvater Staat auf die zurechtbiegende und integrative
Wirkung von Jugendorganisationen (FDJ) und vor allem auf das flächendeckende
Initiationszeremoniell „Jugendweihe“, das die Aufnahme des adoleszenten Nachwuchses
in den „Kreis der Erwachsenen“ markiert. Nicht ein einzelner, aber die Summe
aller gesellschaftlichen Zwänge führt schließlich zu einer kontinuierlichen
Abtragung der Persönlichkeit. Aus einem beständigen Oszillieren zwischen
natürlichen Individualitätsbestrebungen und oktroyierter Assimilation
resultiert die unausweichliche Entfremdung von der wirklichkeitsfernen Macht.
Bis zum absoluten Zerwürfnis war es jedoch ein weiter Weg, denn um das
dogmatisch Eingeimpfte loszuwerden, bedarf es eines konzertierten Kraftakts.
Die rigorose Förderung des Duckmäuser- und Denunziantentums war dabei
ebenso hinderlich wie die unnachgiebige Verfolgung politisch Andersdenkender.
Bei Marieluise, als Beispiel für eine Vielzahl
anderer, wird ganz augenfällig, wie schwer es ihr gefallen sein muss, ihre
wahre Überzeugung nicht deutlich zu äußern, sich selbst also
nicht treu zu sein und damit die eigene persönliche Integrität gezwungenermaßen
zu verraten. Um sich zu suggerieren, dass das nicht der Fall ist, stellt sie
sich vor das System und verteidigt es argumentativ. Das funktioniert aber eigentlich
nur indirekt durch das Schlechtreden des Klassenfeinds (Reagans Atompolitik),
womit sie die einseitige Ideologieapologetik der DDR-Propaganda aufgreift. Sie
kämpft mit der Selbstzensur, ihr Vater, der gerne unbedacht drauflos poltert,
sieht zu ihr keine Notwendigkeit, weil er die Auswüchse des scheinlegitimierten
Ordnungsprinzips nicht als kalkulierte Boshaftigkeit und den Staat nicht als
Bedrohung erkennt. Die jeweiligen Ehepartner hingegen machen gänzlich den
Eindruck, sich mit allem arrangieren zu können. Dieses Bild, so scheint
es zunächst, stimmt aber so nicht ganz, zumindest was Steffen, Marieluises
Ehemann, betrifft, dessen Einsilbigkeit und passive Zustimmung in den Aufnahmen
vor der Wende ein Stück weit auf seinen Status als militärischer Geheimnisträger
zurückzuführen sind. Wirklich schwer tat er sich aber nicht, das Alte
zurückzulassen, das Neue in sich aufzunehmen und mit der ihm eigenen emotionsarmen
Inbrunst zu vertreten. Von einem Gesinnungschamäleon zu sprechen, wäre
aber etwas hart.
Anders bei Marieluise: Denn selbst als die deutsche
Wiedervereinigung vollzogen ist, schwanken ihre Kommentare zwischen Affirmation
und Aversion in Bezug auf das identitätsstiftende Vaterland und zeugen
vom inneren Konflikt, aus dem als Wahrheit die betrübliche Einsicht herausdestilliert,
dass der sozialistische Versuch DDR, also das, was das eigene Leben fast gänzlich
geprägt hat, in dieser Form gescheitert ist. Zugleich aber bleibt die Skepsis,
ob und wie es unter einer übergestülpten neuen Ordnung, die zeitlebens
als menschenverachtend, turbokapitalistisch (laut DDR-Jargon=“faschistisch“)
und imperialistisch verfemt wurde, weitergeht. Zuviel hatte man schon erlebt
und war deshalb für Versprechungen nur schwer empfänglich. Die Verwendung
des abgewetzten Füllworts „Herausforderung“ ist hier ausnahmsweise mal
angebracht. Für Marieluise und ihre Familie ging es jedenfalls, was nicht
unbedingt repräsentativ ist, gut weiter. Sie sind endlich sesshaft geworden
– im Westen.
Übrigens unternimmt der Film gleich eingangs
den Versuch, aufkommende ethische Bedenken auszuräumen. „Versuch“ deshalb,
weil „rechtes Handeln“ vom Einzelnen sehr subjektiv gedeutet wurde, wird, werden
wird und auch werden sollte, auch wenn ein mächtiger Kirchenmann in Rom
derart laschem Relativismusgefasel nichts abgewinnen kann („Wider die Diktatur
des Relativismus!“) und davon überzeugt ist, dass es auch absolute und
axiomatische Werte geben muss. Die liegen ihm sogar so sehr am Herzen, dass
er sie jenen Anhängern, die zu bequem sind, die eigene Vernunft zu konsultieren,
gerne unablässig ins Gewissen diktiert. Diese sind leider zudem sehr häufig
resistent gegen den berechtigten Einwand, dass die energisch verteilten Richtschnüre,
wenngleich von sublimer Provenienz, nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss
sein müssen.
Aber zurück: Der, nebenbei gesagt, staubtrockene
und bissige Kommentar (auch Winfried Junge) behauptet also, man könne das
Konzept nicht rechtfertigen, wenn es um Sensationen ginge. Wie verhält
es sich aber, wenn das Konzept die eigentliche Sensation ist?
Erik Pfeiffer
Da
habt ihr mein Leben. Marieluise – Kind von Golzow
D – 1997 – 141
min. – Erstaufführung: 22.5.1997
Regie:
Winfried Junge, Barbara Junge
Buch:
Winfried Junge, Barbara Junge
Kamera:
Hans-Eberhard Leupold, Wolfgang Dietzel, Wolfgang Randel, Harald Klix, Roland
Worell
Musik:
Gerhard Rosenfeld, Kurt Grottke
Schnitt:
Barbara Junge
Sprecher:
Winfried Junge
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