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C.R.A.Z.Y.
Major Tom und Fifi Zac
„C.R.A.Z.Y.“, eine preisgekrönte tragikomische
Fleißaufgabe aus Kanada, berichtet von einer queeren Jugend zwischen Aznavour
und Bowie.
Spätestens wenn der fünfjährige Zac sich
zum Geburtstag statt der Rennbahn einen Kinderwagen wünscht, macht sich
der Vater Sorgen, sein vierter Sohn könnte ein „Fifi“, eine Schwuchtel,
sein. Die Mutter hält den sensiblen Buben mit den weißen Flecken
im schwarzen Haar für einen wundertätigen „kleinen Jesus“, aber als
er schließlich beim Mama-Spielen in Schminke und Kleid ertappt wird, ist
das der Beginn eines jahrzehntelangen innerfamiliären Kriegs der Lebensentwürfe
und Popkulturen: Belästigt der patriarchale Vorzeige-Papa seine Lieben
bei jeder Weihnachtsfeier mit derselben Karaoke-Imitation des virilen Chansonniers
Charles Aznavour, so gefällt sich Zac – dessen Pubertät zufällig
justament in die 70er Jahre fällt – in androgynen Posen zu David Bowies
„Major Tom“. Das Eingeständnis seiner schwulen Sehnsüchte lässt
indes auf sich warten: Im Männerhaushalt der Beaulieus ist Fifi nur ein
Schimpfwort, keine Option fürs Leben.
Wie zuletzt „Populärmusik aus Vittula“, erzählt auch die franko-kanadische Produktion
„C.R.A.Z.Y.“ von Popmusik als einem Reservoir subversiver bis queerer Männlichkeitsbilder
inmitten bedrückender Milieus. Und wie dort bleibt die Erzählung vom
identitätsstiftenden Versinken in einer Subkultur immer vage, anekdotisch
und retro-bunt genug, um nur ja niemandes pop-nostalgischen Erinnerungen im
Weg zu stehen. Zu den unverbindlichsten Konsensnummern von Bowie, den Stones,
Pink Floyd wird vor stilechtem 60er- und 70er-Mobiliar geträumt, gelitten
und posiert, auf dass wir uns alle möglichst reibungsfrei im Misfit und
Medienkonsumenten Zac wieder erkennen und einfühlen können: Ein Entwicklungsroman,
erzählt über regelmäßig wechselnde Modefrisuren.
Die Tragikomödie eines schwierigen Coming-Outs zu schildern, ist Regisseur und Drehbuch-Co-Autor Jean-Marc Vallée
dabei augenscheinlich nicht genug. Er hat großes Kino mit Rufzeichen und
Ewigkeitswert im Sinn, und da kann man offensichtlich auf Kleinigkeiten (wie
konkrete Milieus, Charaktere jenseits von Sitcom und Stimmungen jenseits von
Ekstase und Verzweiflung) keine Rücksicht nehmen. Stattdessen wird Episode
um Episode mit einem verblüffenden Arsenal origineller formaler Gimmicks
zugepflastert, bis man vor lauter Zeitlupenaufnahmen, verspielten Kamerapositionen
und komplexem sound design die Figuren und Grundkonflikte aus den Augen zu verlieren
droht. Noch angestrengter wirken die dramatischen Volten, die den Film vor allem
in seinem letzten Drittel in eine immer absurdere, mystischere (zugegebener
Maßen: auch amüsantere) Richtung treiben – bis Zac schließlich,
wie in einem Karl May-Roman, in der Wüste nahe Jerusalem von einem alten
Nomaden vor dem Verdursten gerettet wird. „C.R.A.Z.Y.“, in der Tat.
Joachim Schätz
Dieser
Text ist zuerst erschienen im: falter (Wien), www.falter.at
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
C.R.A.Z.Y.
– Verrücktes Leben
Kanada 2005 – Originaltitel: C.R.A.Z.Y. – Regie: Jean-Marc Vallée – Darsteller: Michel Côté, Marc-André Grondin, Danielle Proulx, Émile Vallée, Maxime Tremblay, Pierre-Luc Brillant, Alex Gravel – Prädikat: besonders wertvoll – FSK: ab 12 – Länge: 127 min. – Start: 25.5.2006
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