zur
startseite
zum
archiv
Code:
unbekannt
Keine
Welt ohne Mitleid
In
seinen Filmen der letzten Jahre hat Michael Haneke von der »Vergletscherung«
der Verhältnisse gesprochen, vom Festfrieren der Beziehungen in den Familien
und in den Gesellschaften und von der Unerbittlichkeit, mit der die Gewalt über
die Menschen kommt, ohne daß man so einfach eine Gleichung von Ursache
und Wirkung aufstellen könnte. Viel Raum für Hoffnung gab es da nicht.
Kaum jemand hat so grausame und doch schöne Bilder für den Zustand
der Lähmung gefunden wie Haneke. »Code: unbekannt« setzt die
fragmentarische Arbeit an der Chronik der Vergletscherung fort. Einerseits.
Aber andrerseits geraten die Dinge auch in Bewegung.
Am
Anfang sehen wir eine Gruppe von Kindern, die sich in Gebärdensprache verständigen.
Ein Mädchen führt eine kleine Pantomime vor, die anderen müssen
erkennen, was es ausdrücken will. Ist es »Gefängnis«,
ist es »Trauer«? Vielleicht gibt der Film eine Antwort. Er besteht
aus Fragmenten, Szenen aus dem Leben von Menschen, die alle in irgendeiner Weise
auf der Flucht sind, und die nirgends einen Ort finden, den man nicht mit »Gefängnis«
oder »Trauer« beschreiben müßte. Wir sehen die Schauspielerin
Anne, unterwegs durch Paris zu einer Verabredung. Jean, der jüngere Bruder
ihres Geliebten Georges, der sich als Fotograf im Kosovo befindet, hält
sie auf. Er ist von Zuhause ausgerissen, er will den armseligen Bauernhof des
Vaters nicht übernehmen, will nicht begraben sein dort in der Provinz.
Anne überläßt ihm den Schlüssel und den Code für ihre
Wohnung. Aber es soll keine Einrichtung auf Dauer sein! Auf dem Weg kommt Jean
an einer Bettlerin vorbei; verächtlich wirft er ihr eine zerknüllte
Tüte in den Schoß. Daraufhin wird er von dem schwarzen Amadou zur
Rede gestellt: Er soll sich bei der Frau entschuldigen, die er gedemütigt
hat. Bald darauf hat das entstandene Getümmel die Polizei auf den Plan
gerufen; das hat für alle Beteiligten fatale Folgen. Und nun komponiert
»Code inconnu« Szenen aus dem Leben dieser Menschen, die da durch
Zufall, vielleicht, aneinandergeraten sind. Noch einige Male begegnen sich die
Protagonisten, aber die Begegnung hat keine Konsequenzen mehr, es ist, als hätten
alle in der ersten Einstellung des Films schon ihre Chance vertan. Und in den
letzten Einstellungen des Films sehen wir sogar, daß nicht einmal die
alten Plätze wieder eingenommen werden können, daß sich selbst
die Rituale des Wiedersehens nicht mehr einstellen. Aber wir sehen auch, daß
es kein Ende, nicht einmal ein gnädiges Verschwinden gibt. das Leben geht
weiter. Das ist eine Hoffnung, oder es ist eine Drohung, Gefängnis und
Trauer.
Man
setzt ein Puzzle zusammen aus diesen filmischen Fragmenten (die oft durch Schwarzfilm
voneinander getrennt sind), und es ergibt sich das Bild einer Verzweiflung in
und an Europa. Bilder von Menschen, deren Lebensläufe untrennbar miteinander
vernetzt und die doch voneinander isoliert sind. Haneke ist ein Meister darin,
fragmentarische Situationen so zu konstruieren, daß sie eine strukturelle
Aussichtslosigkeit offenbaren. Es geht darum, moralische Entscheidungen zu treffen
und zugleich deren Absurdität zu erkennen. Das »Schicksal«
offenbart sich darin, daß die Gewalt offenkundig strukturell immer »die
Falschen« trifft, und von der ersten Einstellung an wissen wir, daß
ein Eintreten für einen anderen nicht nur für einen selbst, sondern
auch für diesen schlimme Folgen hat. Die Frage, die sich, deutlicher als
in den vorigen Haneke-Filmen, für die Menschen in diesem zugleich fragmentierten
und ausweglos determinierten Kosmos stellt, ist die nach dem Eingreifen und
seiner Rechtfertigung. Das Eingreifen, die moralische Reaktion auf die Welt,
ist fast umsonst. Und die Hoffnung liegt in diesem »fast«. Jeder,
der sich in »Code: unbekannt« für andere Menschen einsetzen
will, ist auf der anderen Seite vollkommen blind für das, was er anrichtet;
er ist immer zugleich Opfer und Täter, will immer zugleich aufbrechen,
ist schon auf der Flucht und gelangt zurück in sein Gefängnis. Hoffnungslos?
Zunächst einmal ist Hanekes Film realistisch in einem unseren Verhältnissen
angemessenen Sinn, nämlich ohne die Illusion zu vermitteln, man könnte
entweder das Subjekt oder die Situation »vollständig« erfassen.
Der Weg vom Gefängnis ins Elend der Fremde ist, bei allen Schmerzen, bei
aller Ungerechtigkeit ein Fortschritt. Die offene Welt von »Code: unbekannt«
läßt den Gedanken und der Hoffnung mehr Raum als die bürgerlichen
Gefängnisse der »Trilogie der Vergletscherung«.
»Code:
unbekannt« ist der zugänglichste Haneke-Film seit langem; nicht die
chaotisch-deterministische Struktur der »71
Fragmente«,
nicht die didaktische Unerbittlichkeit der »Funny
Games«
und nicht die Absolutheit des Abbruchs wie in seiner Kafka-Adaption »Das
Schloß«. Ein Haneke, der selbst einem Publikum mit eher konventionellen
Kino-Erwartungen zu vermitteln ist, weil nicht mehr gar so viel zu vollständigen
Kino-Geschichten fehlt. Die Fragmentierung der Erzählungen führen
nicht mehr ins Leere, und die Schauspieler dürfen ihre Personen mit all
ihrer Zärtlichkeit ausfüllen, die sie für sie aufbringen. Dabei
muß der Regisseur sich keineswegs »verraten«, vielmehr kann
es sich Haneke wohl mittlerweile leisten, mit seinen heftigen Stilmitteln entspannter
umzugehen. Wie sich freilich Aspekte eines der Fragmente in einem anderen wiederfinden,
wie eine Kamerafahrt, zum Beispiel, erst eine Bewegung nach vorn, dann eine
zurück begleitet, in der wir zugleich dasselbe und dies doch ganz anders
sehen, wie sich die Fragen in einer Einstellung in einer ziemlich weit entfernten
anderen wiederholen oder auflösen, wie sich aus Spiegelungen von Ereignissen
eine Spur der Veränderung jenseits des »und dann« ergibt, das
macht diesem Kompositions-Regisseur so schnell niemand nach.
Kurzum:
Mit »Code inconnu« hat Michael Haneke einen Schritt in Richtung
der »Freundlichkeit« getan. Der Zuschauerin und dem Zuschauer verlangt
er nicht mehr die radikale Distanz, diese Sehnsucht nach und Unmöglichkeit
von Teilhabe am anderen (und sei es eine Figur auf der Leinwand). Es ist keine
Welt ohne Mitleid mehr, aber auch keine, die wüßte, was man damit
anfängt. »Er tut mit so leid«, sagt Anne über Georges
gebrochenen Vater. »Aber das nützt ihm nichts«, antwortet der.
Im Schweigen darauf, im Nicht-Fortgehen und Nicht-Fortsehen angesichts der Katastrophe
liegt vielleicht doch eine Antwort.
Note:
2+
Georg
Seeßlen
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
CODE:
UNBEKANNT – Code inconnu
von
Michael Haneke, F/D/Rumän. 2000, 118 Min. mit Juliette Binoche, Thierry
Neuvic, Luminita Gheorghiu, Alexandre Hamidi
Drama
Start:
01.02.2001
zur
startseite
zum
archiv