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Code unbekannt
Ein faszinierendes Mosaik moderner Ängste von Michael Haneke. Mit
Juliette Binoche.
Inhalt
Ein Sammelsurium sich überkreuzender Geschichten: Die Schauspielerin
Anne (Juliette Binoche) dreht einen Thriller und hat Probleme in ihrer
Beziehung zum Kriegsberichterstatter Georges (Thierry Neuvic). Der junge
Schwarze Amadou (Ona Lu Yenke) eckt mit seinem Engagement an (darunter
bei Annes Sohn), ein Landwirt (Josef Bierbichler) wird in die völlige
Isolation getrieben; eine illegale Einwanderin (Luminita Gheorghiu) wird
aus Frankreich ausgewiesen und versucht zurückzukehren.
Kritik
Manchen gefällt die Welt, und manchen bricht das Herz entzwei. Und wir
sagen ja zur modernen Welt. – FSK, Moderne Welt
Ein verschrecktes Mädchen vor weißer Wand: Ängstlich zieht es sich
zurück, kauert sich zu ihrem Schatten, stumm. Was zunächst bedrohlich
wirkt, erweist sich als Ratespiel in Blindensprache. Die Eröffnungs- und
Abschlussszene von Code unbekannt erweist sich als Metapher für Michael
Hanekes neuen Film: Sprachlosigkeit und Angst angesichts einer
verrätselten Welt. “Eine unvollständige Erzählung von verschiedenen
Reisen”, nennt es der Untertitel. 71 Fragmente einer Chronik des Zufalls,
hieß einer von Hanekes früheren Filmen. Das Fragment ist auch hier der
entscheidende Bauteil: Code unbekannt setzt sich aus manchmal in direktem
Bezug zueinander stehenden, manchmal nur lose verbundenen, den
Zusammenhang erst später offenbarenden Einzelsequenzen zusammen, die
Hilflosigkeit und Empörung angesichts der modernen Lebensbedingungen
illustrieren. Was ihn aber zu einem Quantensprung im Schaffen des
Regisseurs macht, ist das neuentdeckte Mitgefühl für die Charaktere. Seit
über einem Jahrzehnt ist Haneke der stilistisch ausgereifteste Regisseur Österreichs, aber sein Pessimismus
und Zynismus ließen seine Werke über die “emotionale Vergletscherung” zu
unangenehmen Belehrungsarbeiten verkommen. Einen traurigen Höhepunkt
erreichte er 1997 mit der Genredekonstruktion Funny Games, die –
technisch brillant – nur Verachtung für den Zuschauer kannte: Die
bitterböse Geschichte zweier jugendlicher, vom Medienkonsum verdorbenen
Massenmörder klopfte sich selbst dafür auf die Schulter, den Zynismus des
Gewaltkinos auszustellen und wollte sich zugleich intellektuell davon
distanzieren. Ein herablassender Akt, der impliziert, dass die Frage nach
Gewalt sonst nicht gestellt wird und für sein aufdringliches Breittreten
des Subtexts dann auch noch Lob haben will.
Code unbekannt, vielleicht weil es Hanekes erster im Ausland
gedrehter Film ist, schlägt erfreulicherweise die umgekehrte Richtung
ein. Der Respekt vor den Figuren (und fürs Publikum) bleibt hier intakt:
Anstatt sie nur als Symptome der modernen Lebensbedingungen zu begreifen,
gesteht Haneke den Personen (obwohl sie nur bruchstückhaft präsentiert
werden) hier komplexe Charaktereigenschaften und ein reiches,
widersprüchliches Gefühlsleben zu (auch wenn er seinen Pessimismus nicht
ganz überwinden kann: Noch nie habe ich so oft das Wort “Verzweiflung” in
meinen Notizen vorgefunden wie nach diesem Film).
Das beginnt schon in der Eröffnungsszene, einem Gespräch zwischen Anne
(Juliette Binoche zeigt unmittelbar nach Chocolat, dass sie doch
schauspielern kann, wenn es nur verlangt wird) und ihrem Sohn, dessen
emotionale Umstände großteils unklar bleiben: Deren Platz nehmen
Bezeichnungen für Kommunikationsmittel (Anrufbeantworter, der unbekannte
“Code” des Titels) ein. Dem rasanten Vorwärtsschreiten auf der Straße
entspricht dabei eine mitgleitende Kamera: Die Einstellungen von Code
Inconnu funktionieren ohne Schnitt, die Bewegungen des Objektivs formen
ein unvollständiges Gitternetz im Aufruhr des modernen Lebens.
Ausgenommen davon sind nur die Ausschnitte aus dem Thriller, den Anne
dreht, der konventionell montiert ist und aus dem Ausschnitte in
verkehrter Reihenfolge präsentiert werden. In mehreren solchen
Meta-Ebenen (unter anderem fungiert er selbst durch Anweisungen aus dem
Off, als er Binoche zum Weinen zwingt wie Mohsen Makhmalmbaf seine
unglücklichen Statisten in Salaam Cinema) stellt Haneke die Frage
filmischer Wahrnehmung in den Raum, ohne jemals auf die primitive
Manipulationstaktik von Funny Games zurückzufallen: Die Geschichte des
Films-im-Film scheint sich gelegentlich mit den Fragmenten der
“wirklichen Welt” zu überlagern und trotz der unterschiedlichen Machart
werden die Grenzen fließend, nicht mehr wahrnehmbar. Der Blick des
Zusehers wird ständig, unmerklich hinterfragt.
Zugleich wird er gezwungen, Emotionen in die rauen Konflikte zu
investieren, die Hanekes Sequenzen ausmalen. Kaum hat Anne das Bild
verlassen, wird ihr Sohn in einen Streit verwickelt, nachdem er ein
zusammengeknülltes Papier achtlos in den Hut einer Bettlerin geworfen
hat. Ein junger Schwarzer, stolz und couragiert (grandios: Ona Lu Yenke),
stellt ihn zur Rede, ruft die Polizei, und gerät selbst – ebenso wie die
Bettlerin – in die Mühlen der Legislative. Es ist eine großartige Szene
voller widersprüchlicher Emotionen: Die Selbstgefälligkeit des Schwarzen,
gepaart mit seinem Sinn für soziale Gerechtigkeit, formen ein divergentes
Bild aus Aufrichtigkeit und Überlegenheit, der die Scham und emotionale
Distanz von Jeannes Sohn gegenübertreten, der sich nur unauffällig aus
der Affäre ziehen will. Ein Spannungsfeld zwischen dem, was richtig ist,
und übertriebener Korrektheit entsteht, das eskaliert, als die Polizisten
(und mit ihnen zusätzliche Ressentiments) ankommen.
Code unbekannt ist voll solcher Erfahrungen (auch wenn er gegen Ende
hin ein wenig zuviel des Guten zu wollen scheint, und sich ein paar Fäden
im Überschuss an möglichen Wegen verheddern), in denen Haneke das
Weltbild seiner Protagonisten kollidieren lässt, ohne selbst Hinweise zu
geben, ohne einen der Kontrahenten ins Recht zu setzen. Das macht ihn
nicht nur intellektuell, sondern auch emotional zu einem packenden Werk:
Eine Szene, die in sechs qualvollen Minuten ohne Schnitt einen Übergriff
in der U-Bahn illustriert, erreicht eine Dichte, die kaum noch zu
ertragen ist. Man kann die Wut des aus sozialer Unterdrückung heraus
gegen Anne losziehenden jungen Rowdys ebenso begreifen wie ihre
fassungslose Verzweiflung, die Indignation eines dabeisitzenden,
ebenfalls farbigen, älteren Mannes, der sich angesichts der psychischen
Brutalität des Jungen schämt. Gleichzeitig erfüllt improvisiertes Leben
den Moment: Das Gefühl, dass jede Wendung aus dem Impuls heraus möglich
ist, eine völlige Unvorhersehbarkeit, intensiviert die Hilflosigkeit des
Beobachters.
Code unbekannt schießt dabei in seinen zahlreichen Subplots, die vom
Jugoslawienkrieg bis zu den Lebensumständen einer schwarzen Familie
reichen, fast schon übers Ziel hinaus, macht aber so auch den
Informationsüberschuss unseres Zeitalters erfahrbar. Und findet immer
wieder zu Bildern, die die ganze Verzweiflung, die Last der Welt am
Rücken zu tragen, erfahrbar machen: Der große, stämmige Sepp Bierbichler,
wie er eine Zigarette aus der Packung kramt, nachdem er in stummer
Verzweiflung alle seine Tiere mit dem Schlachtschussapparat erledigt hat
(zugleich ein weiserer Blick zurück auf den zentralen Schock von Hanekes
Benny’s Video); ebenso in ironischer Form, wenn etwa am Filmset in ein
entspanntes Zwischenspiel die Anweisung kommt: “Jetzt tun wir wieder so,
als wären wir erwachsen, und arbeiten wieder”; aber auch von bewegender,
brachial plötzlicher Zärtlichkeit, wenn ein Streit zwischen Anne und
Georges im Supermarkt zwischen belanglosen Einkaufsdetails und
herausbrechender Offenlegung (“Hast du schon einmal jemand glücklich
gemacht?”) aus wilden Beschuldigungen in eine rapide Geste der Liebe
umschlägt. Haneke, selbsternannter Chronist der “emotionalen
Vergletscherung”, hat endlich einen Film gemacht, der nicht kalt lässt:
Ein komplexes Panorama der Welt und wie wir sie sehen.
Christoph Huber, 19.03.2001
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Code unbekannt
Code inconnu
Deutschland/Frankreich/Rumänien, 2000
Mit: Josef Bierbichler, Juliette Binoche, Thierry Neuvic, Ona Lu Yenke
Regie: Michael Haneke
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