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Code 46

 

 

 

 

 

Die Kamera fliegt über eine Wüstenlandschaft. Eingeblendet wird ein Gesetzestext zur genetischen Geburtenkontrolle. Plötzlich, mitten in der Wüste, eine Großstadt mit modernen Wolkenkratzern. Diese Stadt ist das hochtechnologische Shanghai einer Zukunft, die nah an unserer Gegenwart zu liegen scheint. Die Karosserien der Autos gleichen denen von heute, genau wie die Architektur der heutigen in Shanghai oder Dubai ähnelt. Äußerlich hat sich in der Zukunft von Code 46 nicht viel im Vergleich zu heute verändert. Eine Klimakatastrophe hat Spuren hinterlassen, doch die tatsächlichen Veränderungen dieser Zukunft sind – bis auf einige kleine technische Gadgets – weitgehend unsichtbar und betreffen die Kommunikation, die Überwachung und die Gentechnik.

Es kommt zu einem Betrugsfall in einer Firma, in der Gesundheitsversicherungs-Visa hergestellt werden, die für Reisende zwischen den privilegierten Großstädten und den armen Außenbezirken in der Wüste vorgeschrieben sind. Mit Hilfe eines Empathie-Viruses kann Versicherungs-Ermittler William Geld (Tim Robbins) die Gedanken der Verdächtigen lesen. Dabei verliebt sich der verheiratete Mann in die schuldige Maria (Samantha Morton). Durch die gemeinsame Liebesnacht verstoßen beide unwissend gegen den titelgebenden Code 46, ein Gesetz, dass Paaren mit bestimmter genetischer Übereinstimmung verbietet, Kinder zu bekommen. Als William die verschwundene Maria in einer Klinik wiederfindet, erinnert sie sich nicht mehr an ihn, denn ein Verstoß gegen den Code 46 wird von staatlicher Seite mit Abtreibung des Fötus und dem Löschen der Erinnerung an die Liebe reguliert. Doch wie es das Schicksal will, in der Zukunft hat man nicht aus Vergiss mein nicht (Eternal Sunshine of the Spotless Mind, 2004, Regie: Michel Gondry) gelernt, denn beide verlieben sich erneut ineinander.

 

Der britische Regisseur Michael Winterbottom ist bekannt für seine Vorliebe an Originalschauplätzen zu drehen. Statt eines futuristischen Studiosets entschied Winterbottom sich zusammen mit seinem Drehbuchautor Frank Cottrell Boyce und dem Produzenten Andrew Eaton für die filmische Methode der künstlichen Geographie, der Schaffung eines neuen Ortes durch die Montage von vorhandenen Drehorten. So wurden das heutige Shanghai und das heutige Dubai zusammengesetzt zu einem zukünftigen Shanghai. Damit greift Winterbottom eine Methode auf, die schon vielfach im Science Fiction Film zur Anwendung gekommen ist, wie z.B. in Fassbinders Cyberspace-Thriller Welt am Draht (1973), in Luc Bessons apokalyptischen Debütfilm Le Dernier Combat (Der letze Kampf, 1982) oder in Wim Wenders futuristischer Weltreise Bis ans Ende der Welt (1991). Gemeinsam haben diese Filme, dass sie mit der geschickten Montage von Originalschauplätzen eine futuristische Atmosphäre schaffen, die eine reizvollere visuelle Nähe zur Gegenwart aufbaut, als die artifiziell überhöhten Sci-Fi Welten des amerikanischen Hollywoodkinos. Für manche mögen diese Zukunftswelten zu nah an der Realität gebaut sein und als eine Budgetsparende Verlegenheitslösung erscheinen – was in Anbetracht der verhältnismäßig geringeren Ausgaben auch nicht ganz abwegig ist. Es geht diesen Sci-Fi Filmen aber weniger um die perfekte Illusion einer Zukunftswelt, als primär um das die Gegenwart reflektierende Erzählen einer in der Zukunft angesiedelten Geschichte.

 

Ohne sich auf ideologische Aussagen zur Gendebatte zu versteifen, auch wenn der insgesamt dystopische Zukunftsentwurf eine reaktionäre Haltung zum technischen Fortschritt vermuten lässt, stellt der Film zunächst die Frage nach der Schicksalhaftigkeit unserer Gene. Durch die Verlagerung einer modernisierten Version des Ödipusmythos in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der genetische Geburtenkontrolle und das Klonen von Menschen an der Tagesordnung sind, fragt Code 46 nach den emotionalen Folgen dieser Technologie. Ein Mann schläft mit einer Frau, die durch menschliches Klonen eine hundertprozentige Übereinstimmung mit den Genen seiner Mutter hat. Mit dem Verlust des Gedächtnisses wird dieser Bruch mit dem Inzest-Tabu bestraft. Dieses leicht abgewandelte Motiv der klassischen Tragödie koppelt Drehbuchautor Frank Cottrell Boyce geschickt mit einem Leitmotiv des Film Noirs – der Detektiv verfängt sich in einer verhängnisvollen Affäre mit der Täterin. Das göttliche Schicksal ist dem Glauben an die gentechnologische Selbstbestimmung gewichen. Die politischen Auswirkungen – ein Zwei-Klassen-System in einem totalitären Staatssystem – werden nur beiläufig behandelt. Wichtiger ist Winterbottom die emotionale Komponente der Thematik.

 

Diese reizvolle, theoretische Mixtur lässt den intendierten emotionalen Funken aber nicht vollends überspringen, was an der fehlenden Empathie mit den Figuren liegt. Das gegenseitige Verlangen wird von Tim Robbins und Samantha Morton nicht als leidenschaftliche, sexuelle Obsession gespielt, sondern voller Schüchternheit und Distanz. In der durchdachten Geschichte kommt die Charakterisierung der Hauptfiguren zu kurz. Sie tragen Handlung und Thema, sind aber nicht in ausreichender Tiefe entwickelt. Ihre Liebe kann lediglich auf einer rationalen Wahrnehmungsebene nachvollzogen werden. Das Schicksal, das den beiden Liebenden widerfährt, das Ausgeliefertsein gegenüber den genetischen Geistern, die man rief, erschüttert nicht emotional. Dennoch ist Code 46 durch die Verknüpfung des klassischen Ödipusmotivs mit der Geschichte einer verbotenen Liebe in Zeiten eines übersteigerten, genetischen Sicherheitswahns eine sehenswerte Reflexion mit signifikantem Gegenwartsbezug.

 

Tillmann Allmer

 

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: http://www.critic.de/index.pl?aktion=kritik&id=147

Zu diesem Film gibt es im archiv mehrere Texte

 

Code 46

Großbritannien 2003; 93 Minuten; Regie: Michael Winterbottom; Drehbuch: Frank Cottrell Boyce; Produzent(en): Andrew Eaton; Mit Tim Robbins, Samantha Morton, Om Puri, Jeanne Balibar, Togo Igawa, Essie Davis, Nina Fog

Ab 3.3.2005

 

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