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Claires Knie
Auf
der Fährte eines Narziss
Es ist Sommer. Der See erfrischt
die Augen. Die Sonne leuchtet auf die Berge und gibt einem ein Gefühl von
Erhabenheit, Schönheit und Gelassenheit. Nicht weit von Annecy liegt ein
Haus, umgeben von Bäumen und Büschen, einem Garten – direkt am See.
Auf der gegenüber liegenden Seite tummeln sich Urlauber auf einem Campingplatz.
Diese Kulisse wählte Eric Rohmer für den fünften Film seiner
Reihe "Six contes moraux", zu der u.a. auch "Meine Nacht bei Maud" (1969)
mit Jean-Louis Trintignant und Françoise Fabian, einer seiner wohl bekanntesten Filme, gehört.
In dieser Bilderbuchidylle lebt
Madame Walter (Michèle Montel) mit ihrer Tochter Laura (Béatrice
Romand) und der später eintreffenden Stiefschwester Lauras, Claire (Laurence
de Monaghan). Über seine alte Freundin, die Schriftstellerin Aurora (Aurora
Cornu), lernt Jerome (Jean-Claude Brialy) die Familie kennen – und ist zunächst
von Laura fasziniert, die mit Vincent (Fabrice Luchini) befreundet ist. Laura
ist aufgeweckt, nachdenklich und klug, und Jerome, Mitte bis Ende 30, spielt
den väterlichen Freund, um Laura nahe zu sein. Und Laura verliebt sich
in ihn, wenn auch diese Liebe eher von der Art ist, wie ein junges Mädchen
eben einen väterlichen Freund liebt. Sie verbringt mit Jerome etliche Stunden,
wandert mit ihm durch die Berge und diskutiert mit ihm über Gott und die
Welt, die Liebe und das Leben.
Für Aurora, die ihn sehr
genau kennt, ist Jerome eine Art Versuchskaninchen, was Frauen jedweden Alters
betrifft. Sie wettet mit ihm, dass er sich den jungen Mädchen kaum entziehen
kann. Als später Claire im Haus am See eintrifft, hat Jerome, der in Kürze
eine Frau heiraten will, mit der er seit sechs Jahren zusammenlebt, nur noch
einen Wunsch: Claires Knie anzufassen. Doch das ist nicht so einfach, wie sich
Jerome das vorstellt. Denn Claire, die mit Gilles (Gérard Falconetti)
befreundet ist, den Jerome wegen seinem ungestümen Temperament nicht sonderlich
mag, zeigt wenig Interesse an einem väterlichen Freund.
"Le Genou de Claire",
das wird schnell deutlich, ist eine Art Psychogramm eines Besessenen, eines
Zwanghaften, eines Narziss, der glaubt, wenn er wolle, jede Frau besitzen zu
können. Die Figur des Jerome steht eindeutig im Mittelpunkt dieses mit
Dialogen vollgestopften Films Rohmers – wobei diese Kennzeichnung durchaus nicht
negativ gemeint ist. Worte sind Jeromes Waffe. Der lässige, ruhige, gelassene
Mann, das Gesicht "versteckt" hinter seinen halblangen schwarzen Haaren
und einem Vollbart, tritt so souverän auf, wie man nur souverän auftreten
kann. Er ist freundlich, charmant, zuvorkommend, hilfsbereit – ein wirklich
väterlicher Freund, der allerdings weiß oder zumindest ahnt, dass
seine alte Freundin Aurora ihn längst durchschaut hat. Aurora begegnet
ihm allerdings nicht mit Ablehnung, Distanz oder Zynismus. Sie mag Jerome, und
sie weiß, dass dieser Mann sich nie ändern wird.
Jerome hat auch nicht die Absicht,
Laura oder Claire zu verführen. Er gehört nicht zu jenen Männern,
die auf der Jagd sind, jedenfalls nicht auf der Jagd nach weiblichen Trophäen.
Er ist ein Narziss, einer, der sich für unwiderstehlich hält und dem
es nur darauf ankommt, vor allem sich selbst zu beweisen, dass er könnte,
wenn er wollte, dass er jede Frau an sich binden könnte, wenn er wollte.
Jerome ist in sich verliebt – und zwar ausschließlich. Er lebt seit Jahren
mit einer Frau zusammen, die sich als Wissenschaftlerin oft wochenlang im Ausland
befindet. Dieses Zusammenleben mit langen Zeiten der Trennung ist wahrscheinlich
für Jerome die einzige Möglichkeit, mit einer Frau zusammenzuleben,
ohne mit ihr zusammenzuleben. Während ein Casanova seine Beute tatsächlich
erlegen muss, "genügt" Jerome die beweisbare Möglichkeit,
dass er es könnte. Diese Selbstverliebtheit durchzieht Jeromes gesamtes
Verhalten. Er ist das, was man einen charakterlichen Beau nennen könnte.
Es ist nicht die Liebe zu einer Frau, es ist deren mögliche Eroberung,
die ihn am Leben hält.
Der am 30.5.2007 im Alter von
74 Jahren verstorbene Jean-Claude Brialy – eine Koryphäe der nouvelle vague
– spielt diesen Narziss so überzeugend, wie dies kaum ein anderer fertig
brächte. Brialys Jerome ist ein Besessener, einer der permanent kalkuliert,
der Madame Montel wie Aurora als Mittel zum Zweck zu benutzen versucht, und
für den letztlich auch Laura und Claire nur Instrumente seines Narzissmus
sind. Er muss sich bestätigen. Dieser Zwang treibt ihn an – und als er
Aurora davon erzählt, wie er endlich Claires Knie angefasst hat, fühlt
er sich als Sieger. Er hatte sich angeboten, Claire mit dem Motorboot nach Annecy
zu fahren. Als ein Gewitter aufzog und beide sich am Ufer in einer Hütte
unterstellen mussten, setzte Jerome alles daran, Claires Freund Gilles in ein
schlechtes Licht zu rücken – bis Claire weinte und die "väterliche"
Hand auf ihrem Knie widerstandslos gewähren ließ.
Sicherlich sind Rohmers Filme
nicht jedermanns Geschmack. Das französische Kino, nicht nur jener Zeit,
ist oft eine Art "Dialogkino", in dem die Texte mehr zu bedeuten scheinen
als die Bilder. Doch das täuscht oft. In "Le Genou de Claire"
ist es gerade jene majestätische Kulisse des Lac d’Annecy und der Berge,
die dem Treiben Jeromes einen Kontrapunkt setzen, und zugleich eine Postkartenidylle,
die Jeromes Narzissmus angemessen erscheint.
DVD
Format: Dolby, HiFi Sound, PAL
Sprache:
Deutsch, Französisch
Untertitel:
Deutsch
Region:
Region 2
Bildseitenformat:
4:3
FSK:
Freigegeben ab 12 Jahren
Studio: Kinowelt Home Entertainment/DVD
DVD-Erscheinungstermin:
3. Januar 2006
Die
von Kinowelt / Arthaus editierte DVD liefert gute Bild- und Tonqualität
und als Bonusmaterial einen Kurzfilm von Edwige Shaki "La Cambrure"
aus dem Jahre 1999, der im Stil Rohmers gehalten ist. Eine Biografie Rohmers
in Texttafeln und der Trailer finden sich ebenfalls auf der DVD.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen bei: follow me now
Dieses ist die 3000. Kritik in der filmzentrale, ein Anlass für ein dickes Dankeschön an alle, aber besonders an den Mann der ersten bis anderthalbten Stunde: ULRICH!
(Andreas am 5. August 2007, 00.28 Uhr)
Claires Knie
(Le Genou de Claire)
Frankreich 1970, 105 Minuten
Regie: Eric Rohmer
Drehbuch: Eric Rohmer
Kamera: Néstor Almendros
Schnitt: Cécile Decugis
Darsteller: Jean-Claude Brialy (Jerome), Aurora Cornu (Aurora),
Béatrice Romand (Laura), Laurence de Monaghan (Claire), Michèle
Montel (Madame Walter), Gérard Falconetti (Gilles), Fabrice Luchini (Vincent)
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