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Chinesisches
Roulette
Rebellion und Reaktion
"Ich finde,
dass sich Beziehungen
zwischen Menschen
weitgehend durch
Konflikte definieren.
Wenn ich mich
hinsetze und
einfach etwas hinschreibe,
ohne groß
nachzudenken, dann wird
da wahrscheinlich
mehr von
Konflikten
die Rede sein als von
Zuwendungen
zwischen Menschen."
(Rainer Werner
Fassbinder)
Das knallige Grün der Wiesen
zu Beginn von Fassbinders "Chinesisches Roulette" – einem für
das Fernsehen produzierten Film – sticht in die Augen. Auch ansonsten ist der
Film in den Farben kunterbunt, manchmal geradezu grell. Die Geschichte allerdings,
die filmische Studie über eine Ehe bzw. Familie, ist alles andere als farbig,
eher dem film
noir zuzuordnen.
Fassbinders starke Zweifel an den "Institutionen" Ehe und Familie,
sicherlich teils eigener Erfahrung entsprungen, teilweise aber auch aus der
Anschauung der engen familiären Strukturen der 50er und 60er Jahre, hat
er in etlichen Filmen immer wieder thematisiert. Konträr dazu sein eigenes
Leben, konträr und widersprüchlich. Immer wieder tauchte seine Mutter
Lilo Pempeit in seinen Filmen auf. Anderseits scheiterten seine Versuche, in
irgendwelchen Formen von Kommunen eine Alternative zu finden.
"Chinesisches Roulette"
erzählt von Ariane und Gerhard Christ (Margit Carstensen, Alexander Allerson),
einem begüterten Ehepaar, dessen Tochter Angela (Andrea Schober) seit vielen
Jahren an Kinderlähmung leidet und an Krücken laufen muss. Versorgt
wird Angela von der stummen Traunitz (Macha Méril), nicht von den Eltern,
die beruflich viel unterwegs sind. Der Film beginnt mit einem solchen Abschied.
Während Gerhard noch Oslo fliegen muss, will Ariane nach Mailand. Doch
der Schein trügt. Gerhard trifft sich heimlich mit der Französin Irene
(Anna Karina) in einem abgelegenen Schloss der Familie, das von der intriganten
Kast (Brigitte Mira) und deren Sohn Gabriel (Volker Spengler) verwaltet wird.
Was das heimliche Liebespaar nicht weiß, aber schnell feststellen muss:
Auch Ariane verweilt nicht in Mailand, sondern ebenfalls im Schloss mit ihrem
Geliebten Kolbe (Ulli Lommel), einem Angestellten ihres Mannes.
Was die beiden Paare ebenfalls
nicht wissen: Angela ist mit Traunitz unterwegs zum Schloss, denn das Mädchen
weiß über ihre Eltern besser Bescheid, als die sich vorstellen können.
Und Angela, die sich im Laufe ihres jungen Lebens eine gute Portion Zynismus
angeeignet hat, kennt keine Gnade. Sie provoziert ihre Eltern, besonders ihre
Mutter, bis zur Weißglut
…
Die Rollen scheinen völlig
vertauscht. Es ist der Tausch, der Mehrwert – wie Marx sagen würde -, der
die Beziehungen der Handelnden bestimmt. Das Ehepaar ist nicht mehr wirklich
zusammen und beisammen, ihre Tochter ist in der Gefühlswelt der Eltern,
besonders der Mutter, nicht mehr Tochter, sondern: Ballast. Man hat die Partner
gewechselt und eine Gouvernante, Traunitz, noch dazu stumm, ist so etwas wie
die soziale Mutter Angelas. Die Lüge, der Betrug und die kontinuierliche
Anspannung beherrschen die Szenerie, die man – als die beiden Paare sich im
Schloss begegnen – durch Lachen lösen will. Doch das wirkt nur momentan.
Der Tausch ist längst vollzogen, nicht nur der Partnertausch im Verhältnis
zur weiter existierenden offiziösen Ehe der Eltern, auch der Elterntausch.
Dazwischen steht Angela, die mit ihrem geschienten Bein auf Krücken durch
das Schloss geht, in die Zimmer schaut und den Eltern den Spiegel vorhält
angesichts ihres gescheiterten Lebens.
Sicher: da ist Geld en masse (Gerhard
hatte seiner Geliebten vor Jahren 300.000 Mark geliehen, damit diese ein Geschäft
aufmachen konnte). Doch die offiziös dargestellten Beziehungen sind längst
am Ende. Besser gesagt: Weil Geld da ist, regeln sich auch die privaten Beziehungen
in einem Tauschwertprozess. Die Hintergründe dieser Ehekrise lässt
Fassbinder im Dunkeln. Aber diese Gründe im einzelnen sind auch nicht wichtig.
Die beiden Paare pflegen ihre neuen Tauschbeziehungen – man könnte sagen:
solange nicht ein anderes "Gut" auftaucht, das die lockeren Beziehungen
wieder löst und neue statuiert. Der Sex ist das einzige Bindemittel, der
Markt, auf dem die Tauschbeziehungen sich regeln, die Geschäftsbeziehungen
existieren. Angela erscheint als eine Art Ausgestoßene, eine vom Markt
verdrängte – verdrängt, weil sie "nichts bringt", eine Arbeitslose,
eine Schwerbehinderte, ein Krüppel, der der Wohlfahrt übereignet wurde:
Traunitz, der stummen Wohlfahrt, die macht, was sie machen kann.
Fassbinder begreift diese Szenerie
– wie man aus anderen Filmen weiß – aber nicht als ein Problem ausschließlich
begüterter Familien respektive Ehen. In proletarischen Familien wirken
diese Tauschbeziehungen nur in anderer Weise. Wenn er am Schluss des Films jenen
berühmten Spruch einblendet, in dem es heißt "… bis dass der
Tod euch scheidet", so mag dies vielleicht allzu plakativ erscheinen. Dem
ist nicht so. Denn der Film zeigt, dass es nicht der Tod ist, der scheidet,
dass es nicht das Eheversprechen ist, was die Beziehungen regelt, sondern tatsächlich
ausschließlich der Tauschwert.
Die Liebe, die Zuneigung spielt
in keiner der geschilderten Beziehungen irgendeine Rolle. Konkurrenz, Markt,
Geld und das Sozialamt regeln die Beziehungen. Mit einem aber haben die Beteiligten
nicht gerechnet: mit der Rache der Unterdrückten, der Rache Angelas. Als
alle acht Personen am Abend zu Tisch sitzen, schlägt Angela ein Spiel vor:
chinesisches Roulette. Es werden zwei Gruppen gebildet. Jemand stellt eine Frage
nach dem Muster: Was würde Person X unter den und den Bedingungen tun.
Die anderen müssen raten, was der Fragende meint. Angela stellt die Frage:
Was wäre die Person, die ich meine, im Dritten Reich gewesen. Nach falschen
Antworten (alle glauben Kast sei gemeint) antwortet sie selbst: ihre Mutter
wäre KZ-Leiterin in Bergen-Belsen gewesen.
Die Tauschbeziehungen geraten
durcheinander, ja aus den Fugen. Das Gefühl, das rächende Verletzte
hat zugeschlagen. Ariane greift zur Waffe, schießt mit einer Pistole.
Will eigentlich Angela treffen, schießt dann aber auf Traunitz, die am
Hals verletzt wird. Das Rebellische wehrt sich, das Reaktionäre schießt
zurück – nicht "ausgerechnet" auf Traunitz, sondern in voller
Absicht. Das Gefühl lässt sich nicht ausmerzen – auf beiden Seiten.
Ganz entgegen der geregelten Tauschbeziehungen reagiert auch Ariane emotional.
Sie will ihrer Tochter die letzte Zuflucht nehmen. Dann fällt sie ihrem
Mann in die Arme, nachdem der den Hausanwalt angerufen hat und ihm von einem
"Problem" erzählt. Aber dieses Problem ist nicht etwa, dass Gerhard
Christ erkannt hätte, in welchem Schlamassel diese Familie steckt. Das
Problem ist ein geschäftliches, eines, das das Geschäft, die Tauschbeziehungen
gefährden könnte: der Schuss. Die "plötzlich" durch
das In-den-Arm-Fallen von beiden versichterte "Liebe" entblößt
sich in dieser Situation als nichts anderes denn als geschäftlicher Vorgang.
Man ist dabei, wieder zur alten Beziehung zurückzufinden, um die eigene
Haut zu retten, sprich: die gesellschaftliche Anerkennung und das Geschäft.
Die Geliebten stehen abseits, der Manövriermasse des Marktes schon fast
wieder zugeordnet.
Das Rebellische in Gestalt Angelas
ist noch einmal davon gekommen – mit dem Leben. Aber auch das lässt Fassbinder
eigentlich offen. Denn am Schluss zeigt er das Schloss im Dunkeln. Und dann
fällt ein zweiter Schuss. Man kann nun spekulieren, wer da auf wen geschossen
haben mag. Fast alles ist denkbar. Das Offenlassen dieser Frage hat jedoch nichts
mit Unsicherheit zu tun. Es bedeutet letztlich, dass in einer Welt, in der der
Tauschwert, die Macht, die Gewalt auch private Beziehungen durchdrungen hat,
kaum ein Halt zu finden ist. Die Welt ist da ein bisschen wie Roulette, gelenktes
Roulette, gelenkter Zufall. Das Romantische, das Sexuelle, das Erotische, die
Zuneigung – all das verkommt zum Mittel zum Zweck, zur Versicherung der eigenen
Machtposition, des eigenen Einflusses.
Mitten drin positioniert sich
die Intrige, das Falsche in Person der Haushälterin Kast, die es nicht
verhindert, sondern befördert hat, dass die Paare hier aufeinander treffen.
Mitten drin positioniert sich auch die Neugier in Gestalt ihres Sohnes Gabriel,
der vorgibt, einen Roman geschrieben zu haben, dessen Inhalt er aber – was Angela
ihm vorhält – von anderen gestohlen hat. Die Intrige und die Neugier können
sich nur unter solchen Verhältnissen im wahrsten Sinn des Wortes "einnisten".
Die Schauspieler positionieren
sich in diesem Spiel des Marktes geradezu als wahre Charaktermasken, die glauben,
sich selbst positioniert zu haben, die aber eben auch positioniert wurden. Es
ist jene "invisible hand", die schon die klassische Nationalökonomie
erkannt hatte, die hinter dem Rücken der Akteure wirksam ist und sich in
ihrem Bewusstsein als etwas wie "freier Willen" sichtbar macht. Die
Ökonomie beherrscht alle Beziehungen. Und Fassbinder lässt dagegen
vielleicht dann doch durchscheinen, dass es darauf ankäme, dies zu erkennen,
in sich selbst, um es verändern zu können.
DVD
Sprache:
Deutsch (Dolby Digital 1.0)
Bildformat:
1.66:1, 16:9
Dolby,
HiFi Sound, PAL
DVD
Erscheinungstermin: 8. November 2005
Als
Zugabe enthält die DVD ein in Frankreich produziertes, etwa 20 Minuten
langes Special unter dem Titel "Fassbinder und die Frauen", eine filmische
Collage ohne Kommentar, in der die Produzenten Szenen mit Schauspielerinnen
aus etlichen Filmen des Regisseurs zeigen, und zwar unter bestimmten thematischen
Schwerpunkten und unter Verwendung verschiedener Darstellungsmöglichkeiten
(v.a. Splitscreen) – ein Special, das man "einfach" auf sich wirken
lassen sollte. Daneben enthält die DVD noch Texttafeln zu Fassbinders Biografie
sowie Bilder aus dem Film.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Chinesisches
Roulette
Deutschland
1976, 96 Minuten (DVD: 82 Minuten)
Regie:
Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder
Musik:
Peer Raaben, Ralf Hütter, Florian Schneider-Esleben
Kamera:
Michael Ballhaus
Schnitt:
Ila von Hasperg
Ausstattung:
Helga Ballhaus, Peter Müller, Kurt Raab
Darsteller:
Anna Karina (Irene Cartis), Margit Carstensen (Ariane Christ), Brigitte Mira
(Kast), Ulli Lommel (Kolbe), Volker Spengler (Gabriel Kast), Alexander Allerson
(Gerhard Christ), Andrea Schober (Angela Christ), Macha Méril (Traunitz)
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