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Chihiros
Reise ins Zauberland
Inhalt:
Chihiro
und ihre Eltern befinden sich auf einer Reise in eine ihnen unbekannte Kleinstadt,
die nun ihr neues Zuhause werden soll. Mitten im Nirgendwo entscheidet sich
der Vater kurzerhand eine Abkürzung durch einen Wald einzuschlagen und
bringt den Wagen schließlich vor einem ominösen Tunnel zum Stehen.
Von Neugier angetrieben betreten die drei den Tunnel und entdecken auf der anderen
Seite einen scheinbar verlassenen Themenpark. Während sich die Eltern in
einem unbewachten Restaurant den Speisen hingeben, gerät die zehnjährige
Chihiro auf seltsamste Weise in eine fremde Welt. Eine Welt, in der ihre Eltern
in Schweine verwandelt werden und sich Hunderte Götter und Geister in einem
gigantischen Badehaus laben.
Kritik:
Irgendwo
vermutet man ja schon das Mystische, das "Verzauberte" an jenen Orten,
die Hayao Miyazaki für seine Filme als Hauptschauplätze auswählt:
Ein abgelegenes Bauernhaus, ein dunkler, schier undurchdringbarer Wald, ein
verlassener, leer und etwas unheimlich wirkender Freizeitpark. Wie gar nicht
anders möglich geht Miyazaki dann auch seit jeher noch den nächsten
Schritt und füllt diese Orte wie selbstverständlich mit den seltsamsten
Kreaturen, macht jeden noch so unscheinbaren Platz in ihnen zum Wohnort von
Geistern, Göttern und Fabelwesen. Da wird schon mal eine junge Hexe in
einer Stadt als etwas beinahe völlig Natürliches anerkannt, ein baumstammgroßer
und auf einem flötenartigen Instrument spielender Geist wird zum treuesten
und liebevollsten Begleiter zweier Kinder und eine Kriegerprinzessin lebt inmitten
des Waldes zusammen mit dessen Gottheiten, die in der Gestalt von Wildschweinen,
Hirschen und Wölfen dem Ort eine fast märchenhafte Aura verleihen.
Für
Hayao Miyazaki, einen der herausragenden Filmemacher unserer Zeit, kann nur
ein einziges Genre das Vehikel für seine erzählerisch-visuellen und
damit einhergehend auch ideologischen Visionen sein: Seit filmischen Urzeiten
steht der Zeichentrick für das Fantastische auf der Leinwand, da es seinem
Schöpfer genau jene Möglichkeiten und Freiheiten eröffnet, die
der Spielfilm niemals geben könnte. Nur im Zeichentrickfilm kann ein Elefant
grazil fliegen wie in Dumbo, nur hier kann die Rolle von Goethes "Zauberlehrling"
ganz ohne jede Peinlichkeit von Mickey Mouse verkörpert werden. Dem inhaltlichen
Abrücken vom überstrapazierten Motto eines Filmes "für die
ganze Familie" und dessen gleichzeitiger, immer penetranter werdenden Betonung
seitens vor allem des Disney-Konzerns war es in den letzten Jahren zu verdanken,
dass die Zeichentrickkunst beim breiten Kinopublikum immer mehr in Verruf geriet
und ihr der Anstrich des Kindischen und Albernen ganz rigoros verpasst wurde.
Insofern ist es vielleicht auch wenig verwunderlich, dass einige Ignoranten
sich öffentlich darüber beklagten, dass mit Sen
To Chihiro No Kamikakushi
nun erstmals ausgerechnet ein Zeichentrickfilm den Goldenen Bären auf der
Berlinale 2002 verliehen bekam. Für Filmliebhaber weltweit war die kleine
Sensation jedoch Grund zu großer Freude, signalisierte sie doch eine auch
in der westlichen Welt immer größer werdende Vergegenwärtigung
dahingehend, dass dort mit Hayao Miyazaki einer der wichtigsten Regisseure des
gegenwärtigen Weltkinos endlich die Anerkennung bekommen muss, die er seit
Jahrzehnten verdient. Vielleicht signalisiert sie aber noch viel mehr – den
endgültigen Durchbruch der japanischen Anime-Kunst, die zuweilen außerhalb
von Cineastenkreisen eine ganz besonders verachtete Sparte innerhalb des großen
Feldes der Zeichentrickfilme einnimmt.
Sollten
es die Animes tatsächlich mit Sen
To Chihiro No Kamikakushi,
dem in Japan erfolgreichsten Film aller Zeiten, schaffen, im Westen jene Achtung
zu finden, die ihnen seit jeher in Japan zuteil wird, so kommen auf das geneigte
westliche Publikum beinahe zwanzig Jahre von zuweilen höchster Filmkunst
zu, die zumeist noch völlig unentdecktes Land darstellen. Gleichzeitig
aber können wir dann auch mit Fug und Recht das behaupten, was man beim
Betrachten von Miyazakis neuestem Kunstwerk sowieso auf den Lippen hat: Nichts
weniger als ein Meilenstein ist es geworden; ein herrlicher Film von nicht zu
bändigender Kreativität, reinster Schönheit und Liebenswürdigkeit,
der im Gewand eines fast völligen Kinderfilms daherkommt, und doch mehr
Anspruch und Denkanstöße aufweist, als es so viele für Erwachsene
konzipierte Filme je könnten.
In
technisch gewohnt perfekten Bildern umreißt der Film eine Geschichte von
enormer inhaltlicher Komplexität und Vieldeutigkeit: Die Götter und
altehrwürdigen Wesen des Japan längst vergangener Tage scheinen sich
allesamt (von gar acht Millionen ist an einer Stelle die Rede) im gewaltigen
Badehaus der Hexe Yubaba zu treffen, um dort zu ruhen. Auch die kleine Chihiro
gerät in diese Welt, wenngleich auch unfreiwillig und eigentlich auch nur
mit dem Gedanken ihre Eltern retten, die zu Schweinen verwandelt worden sind,
nachdem sie sich in einem scheinbar leer stehenden Restaurant auf dem vorgeblichen
Vergnügungsparkgelände im wahrsten Sinne des Wortes die Bäuche
voll geschlagen hatten. Beinahe angekommen in ihrem neuen Zuhause waren sie,
und Chihiro hatte gerade im Auto noch gesagt, dass sie ob des etwas weltfremd
wirkenden Vorstadtnestes unbedingt in der nächsten größeren
Stadt einkaufen gehen müsse, als sich der Vater mit den desinteressierten
Kommentaren "Wir bezahlen sie, wenn sie zurückkommen", und "Du
brauchst dir keine Sorgen zu machen, Chihiro, ich habe Kreditkarten und Bargeld
hier", auch schon über die reichlich aufgetragenen und unbeaufsichtigten
Speisen hermacht und fortan nicht mehr ansprechbar ist. Chihiro läuft von
ihren Eltern weg und begegnet dem rätselhaften Haku, womit dann auch ihr
Prozess der seltsamen Überführung in die Welt von Yubabas Badehaus
und dessen fantastischen Gästen einsetzt. Den harten Gegensatz zweier grundlegend
verschiedener Welten zeichnet Miyazaki schon mit diesen Eingangssequenzen nach:
Das durchkapitalisierte, moderne Japan, mit dem wir vorwiegend gerne höchst
fortschrittliche Fotokameras und bizarre TV-Sendungen assoziieren, trifft auf
das des Hayao Miyazaki, das noch ganz selbstredend von den ältesten Legenden
und Fabeln bevölkert wird und noch jene Weisheit irgendwo in sich trägt,
wie sie auch schon der große Yasujiro Ozu zu beschwören und vor allem
zu retten suchte. Und in der Tat sind die Parallelen zwischen Miyazaki und Ozu
weitaus leichter aufzutun, als die oftmals bemühte Bezeichnung Miyazakis
als "Japans Walt Disney".
Beiden
Filmemachern gemein ist eine Verzweiflung über die Industrialisierung und
Amerikanisierung des traditionellen Japans und ein damit oftmals kohärenter
Abfall von Werten und Bräuchen, was freilich in Ozus Filmen noch weitaus
schmerzlicher, direkter und verzweifelter reflektiert wird, als es in Miyazakis
Werken der Fall ist, der lieber Metaphern zum Einsatz bringt und sehr auf eine
unterschwellige Kritik baut, während Ozu diese Prozesse klar und im Vordergrund
stehend thematisierte. Trotz dieser thematischen und ideologischen Verwandtheit
unterscheiden sich beide Filmemacher in einem wichtigen Punkt: Ozus Filme beleuchten
die sozialen Missstände; jene beängstigende Entfremdung innerhalb
des geheiligten japanischen Familienideals, insbesondere zwischen Eltern und
ihren Kindern, wie etwa in Tokyo
Monogatari
(Die
Reise Nach Tokio,
1953) oder Sanma
No Aji
(Ein
Herbstnachmittag,
1962), die heute zu den Klassikern des Weltkinos zählen. Miyazakis Schaffen
hingegen orientiert sich stark an ökologischen Gesichtspunkten, mahnt zur
Einheit des modernen Menschen mit seiner Umwelt, da nur diese beider Überleben
sichern kann. In seinen Filmen lässt Miyazaki diese Einheit dann auch stets
kompromisslos Einzug halten: Immer wieder stürzt er den viel beschäftigten
Gegenwartsmenschen tief hinein ins Reich von Mythen und uralten Geschichten,
so tief, bis sie für ihn zum neuen Alltag geworden sind und die Einheit
sich – zumeist in Miyazakis berauschenden Schlusssequenzen – vollziehen kann.
Immer wieder sind es (vornehmlich weibliche) Kinder, die hierbei den Part des
modernen Menschen einnehmen. Kinder, deren Geist noch nicht völlig dem
Märchenhaften entrückt ist, und die noch die Phantasie und Glaubenskraft
haben, die sonderbaren Bewohner von Flüssen, Bäumen und alten Gemäuern
in Miyazakis Filmen zumeist ohne Angst als gegeben hinzunehmen. Beide genannten
Elemente finden in Sen
To Chihiro No Kamikakushi
eine bisher unerreichte Zuspitzung: Miyazaki lässt seine kleine Heldin
ganz und gar in der Welt seiner Imagination aufgehen und macht uns an einer
wunderschönen Stelle doch noch einmal deutlich, dass wir uns von gewissen
"Gegebenheiten" einfach noch weiter loslösen müssen, um
den größtmöglichen Zugang zu seinen Filmen zu erhalten: Chihiro
sieht im Regen vor dem Badehaus einen Geist verweilen. Eine schwarze, semitransparente
Gestalt; erhaben dastehend, mit einem wie in Holz geschnitzt wirkenden Gesichtsteil.
Als sie ein Fenster öffnet, fragt sie ihn: "Wirst du nicht nass?".
Wir müssen unweigerlich schmunzeln, weil wir schon längst verstanden
haben, dass man mit einem derartigen Rationalismus nicht weit kommt in den Welten
des Hayao Miyazaki.
Denn
hier wird das Gewohnte gänzlich auf den Kopf gestellt, und die große
Kunst Miyazakis kreiert aus dem scheinbar völlig Absurden das schlichtweg
anzunehmende Neue, das wiederum schnell zum Selbstverständnis wird. Seine
Bildeinfälle quellen dabei schier über vor Fabulierkunst, Detailversessenheit
und allegorischen Zusammenhängen. Immer wieder gelingt es ihm, seine ökologischen
Botschaften in Gewänder zu hüllen, die sie uns zwar verdeutlichen
und nachvollziehbar machen, jedoch niemals wie ein überbetonter Korrektiv
wirken. Eine der brillantesten Szenen dieser Art findet sich ebenfalls in seinem
neuen Film: Ein widerlicher Gott erreicht unter dem Protest der anderen Gäste
und Mitarbeiter das Badehaus. Er wirkt wie ein Koloss aus Schleim und Unrat
und verbreitet Ekel und Abscheu unter allen Anwesenden. Erst als Chihiro einen
Dorn aus seinem Körper entfernt, an dem zahllose (eindeutig von Menschenhand
gemachte) Gegenstände hingen, die sich tief in der Gottheit Körper
eingefressen hatten, entpuppt sich das wahre Antlitz des einst so abstoßenden
Gottes – es ist der nun wieder virtuos entgleitende Gott des Flusses.
Eine Szene von ungeheurer Kraft und überwältigender Metaphorik, in der Miyazakis Ideologien quasi geschlossen kumulieren, die er jedoch gar nicht weiter kommentieren möchte. Nein, lediglich für einige Sekunden von großer Stille und Intensität lässt er die Augen seiner Zuschauer über die gewaltigen Berge von Schutt und Abfällen wandern, die Chihiro aus dem Körper des Flussgottes gezogen hat. In Momenten wie diesen ist Miyazaki der "japanischste" Regisseur seines Heimatlandes. Aber im Westen würde er wohl dann doch wiederum ein ähnliches Schicksal wie der dort seinerzeit völlig unbeachtete, weil "zu japanische" Yasujiro Ozu fristen, wäre dieses zutiefst Japanische das Kernelement seiner Werke. Fraglos ist diese Besinnung auf das Traditionelle und den Einklang zwischen Natur und Mensch ein zentrales Thema für ihn, faszinierend ist aber für den westlichen Zuschauer vor allem die Art, wie Miyazaki diese Botschaft einkleidet, wie er seine Geschichten erzählt: Seine Filme sind ungeheuer packend, fesselnd und mitreißend und das nicht nur wegen der furiosen Trickkunst und der enormen Liebe zur extrem präzisen Darstellung von Umgebungen und Landschaften. Tatsächlich sind es vor allem auch seine Charakterzeichnungen, die seine Filme eigentlich für jedes Publikum zugänglich machen sollten. Meist ist der Held in derselben, leicht verwirrten Situation wie der Zuschauer, eine Identifikation mit ihm fällt daher nicht schwer, und immer wieder bereichern ungemein lustig und sympathisch angelegte Nebencharaktere wie etwa der vielarmige Maschinenwart Kamajii in Sen To Chihiro No Kamikakushi das Geschehen. Wenn dieser dann in einer Szene mit zweien seiner Arme quer durchs Bild langt, um die auf der entgegengesetzten Seite schlafende Chihiro mit einer Decke zu versehen, dann ist das reinste Kinomagie, in der sich alles widerspiegelt, was Miyazakis enorme Kunst ausmacht: In einer Welt voller Götter, Geister, Hexen und Drachen deckt ein spinnenartiges, eigentlich erschreckendes Untier mit Schnauzbart und Sonnenbrille ein kleines, schlafendes Mädchen liebevoll zu. Größer und wundervoller kann die schönste Realitätsflucht namens Kino wohl gar nicht sein.
Janis
El-Bira
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Chihiros
Reise ins Zauberland
(Sen
to Chihiro no kamikakushi, 2001)
Regie:
Hayao Miyazaki
Premiere:
27. Juli 2001 (Japan)
Drehbuch:
Cindy Davis Hewitt & Donald H. Hewitt
Dt.Start:
19.Juni 2003
Land:
Japan
Länge:
124 min
Darsteller:
Rumi
Hiiragi (Chihiro), Miyu Irino (Haku), Mari Natsuki (Yubaba), Takashi Naitô
(Chihiros Vater), Yasuko Sawaguchi (Chihiros Mutter), Tatsuya Gashuin (Aogaeru),
Ryunosuke Kamiki (Bou), Yumi Tamai (Rin), Yo Oizumi (Bandai-gaeru), Koba Hayashi
(Kawa no Kami), Tsunehiko Kamijô (Chichiyaku)
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