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Chihiros Reise ins Zauberland

Die ansonsten relativ ereignislos hinplätschernde Berlinale 2002 endete dann doch mit einer veritablen Sensation. Erstmals erhielt ein japanischer Zeichentrickfilm den goldenen Bären. "Spirited Away", das Alterswerk von Hayao Miyazaki ("Prinzessin Mononoke") wurde von der internationalen Kritik gefeiert und vom Festivalpublikum begeistert aufgenommen. Um so beschämender erscheint es, dass erst zu dem Zeitpunkt, als der Film auch noch einen Oscar als "Bester Animationsfilm" erhielt, sich ein Studio begann, für eine deutsche Veröffentlichung zu entschließen. Und so kommt nun "Spirited Away" unter dem etwas sperrigen Titel "Chihiros Reise ins Zauberland" in die deutschen Kinos – Zwei Jahre, nachdem der Film fertiggestellt wurde.

 

Doch das lange Warten wird schnell entlohnt, denn "Spirited Away" ist nicht nur optisch einfach umwerfend. Selten wurden derart skurrile Charaktere und charmante Details auf Zelluloid gebannt. Hayao Miyazaki erzählt die Geschichte von Chihiro. Das junge Mädchen ist gerade – sichtlich genervt – dabei, mit ihren Eltern umzuziehen. Als sich Chihiros Vater auf der Suche nach dem neuen Haus verfährt, landen die Eltern und das Kind plötzlich vor einem verlassenen Gebäude. Der lange, tunnelartige Gang führt in ein parkähnliches Gelände, das Chihiros Vater als einen verlassenen Freizeitpark identifiziert. Ganz so verlassen ist der Park jedoch offensichtlich nicht, denn bei einem Streifzug durch die Gebäude kommen die Eltern an einen Imbissstand, dessen Theke sich vor dargebotenen Köstlichkeiten geradezu durchbiegt.

 

Chihiro ist nicht nach Essen zumute und so wandert sie weiter bis zu einem gigantischen Tempelgebäude. Plötzlich taucht ein Junge auf, von dem sie später erfahren wird, dass er Haku heißt. Schon fast panisch befiehlt ihr Haku, das Gelände schleunigst zu verlassen. Etwas verstört macht sich Chihiro in der anbrechenden Dunkelheit daran, ihre Eltern zu suchen. Doch etwas grauenhaftes ist geschehen: Als sie zum Imbissstand zurückkehrt, muss sie feststellen, dass Vater und Mutter in Schweine verwandelt wurden. Spätestens als eine Prozession von Geistern den Weg zum Tempel an ihr vorbeizieht, wird dem Mädchen klar, dass sie sich schon lange nicht in ihrer Welt befindet. Bald soll sie erfahren, dass es sich bei dem vermeintlichen Tempel um ein Badehaus für die Götter handelt, das von der Hexe Yubaba geleitet wird. Zusammen mit Haku sucht Chihiro einen Weg, ihre Eltern zurückzuverwandeln und die seltsame Parallelwelt zu verlassen.

 

"Chihiros Reise ins Zauberland" entpuppt sich als das japanische Äquivalent zu "Alice im Wunderland" – So gesehen wurde der Synchrontitel klug gewählt. Selten erschien ein Film mit einer derartigen Ansammlung an skurrilen Charakteren und surrealistischer Bilderkraft. Hier hat sich Hayao Miyazaki (seinen Angaben nach ein letztes Mal) vollkommen ausgetobt und sein eigenes, kleines Universum erschaffen, in dem es jede Minute etwas neues zu entdecken gibt. Schon rein visuell ist der Film eine Offenbarung für all diejenigen, die sich lang genug mit dem typischen Disney-Einheitsbrei herumgequält haben. Jede Einstellung ist ein kleines Meisterwerk und an den vollkommen irrwitzigen Charakteren kann man sich einfach nicht satt sehen.

 

Doch die charmante Geschichte einer Initiation eines jungen Mädchens hat wesentlich mehr zu bieten, als nur eine spektakuläre Optik. Zwar wird dem europäischen Zuschauer so manches Detail insbesondere zur japanischen Mythologie entgehen, aber dies entpuppt sich sich eher als unproblematisch. "Chihiros Reise ins Zauberland" ist vor allem ein engagiertes Plädoyer gegen einfache Schwarzweißmalerei. Dies ist für einen Zeichentrickfilm ungewöhnlich, denn gerade in diesem Genre wird ansonsten recht intensiv mit klaren Einteilungen zwischen Gut und Böse gearbeitet. Doch so einfach laufen die Dinge in der Welt, in die Chihiro geraten ist, nicht.

 

Während bei den Gebrüdern Grimm die Hexe klar "die Böse" ist und folgerichtig im Ofen verbrannt gehört, ist Yubaba hingegen eine wesentlich komplexere Figur, wie sich im Verlaufe des Films noch zeigen soll. Auf einer zweiten Ebene widmet sich Hayao Miyazaki einem Themenbereich, der auch zentrales Element in "Prinzessin Mononoke" war: der Zerstörung der Umwelt durch den Menschen. Dies ist vor allem deshalb ungewöhnlich, weil Umweltschutz ein Thema darstellt, dem in Japan ansonsten nicht besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hayao Miyazaki gelingt es, dieses Thema sehr einfühlsam und ohne erhobenen Zeigefinger in seinen Streifen einzubinden, eine Leistung die gar nicht hoch genug angerechnet werden kann.

 

"Chihiros Reise ins Zauberland" ist ein Paradebeispiel für die visuelle und poetische Kraft des japanischen Zeichentrickfilms. Auch wenn man mitunter das Gefühl hat, dass die Geschichte ob all ihrer skurrilen Charaktere etwas aus dem Tritt gerät, mindert dies die Brillanz des Filmes nur wenig. Um so bedauerlicher erscheint es, dass wohl auch diesem Film ebenso wie "Prinzessin Mononoke" in Deutschland nicht die Aufmerksamkeit zukommen wird, die er eigentlich verdient hätte.

 

NOTE: 1-

 

Daniel Möltner

 

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Planet Confusion

Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken

 

 

Chihiros Reise ins Zauberland [Spirited Away]

Originaltitel: Sen to Chihiro no kamikakushi

Japan, 2001, 124 min

Regie: Hayao Miyazaki

Drehbuch: Hayao Miyazaki

Musik: Jô Hisaishi

Stimmen:

Rumi Hiiragi – Chihiro / Sen

Miyu Irino – Haku

Mari Natsuki – Yubaba

Takashi Naitô – Chihiros Vater

Yasuko Sawaguchi – Chihiros Mutter

 

 

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