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The Chelsea Girls

 

 

 

Der erfolgreichste aller Undergroundfilme: "The Chelsea Girls", ein Mammutprojekt Andy Warhols über das berühmte New Yorker Chelsea Hotel. Und obwohl einige der Episoden in Warhols Factory und in den Proberäumen der Band Velvet Underground gedreht wurden, soll dieses Filmexperiment Einblick in das bunte Treiben innerhalb des Hotels bieten. Als Aufhänger dient dabei eine Aussage des Factory-Superstars Brigid Berlin, die selber in dem Hotel wohnte, aber jeweils nur eine Nacht pro Woche in ihrem Zimmer schlief. Die restlichen Tage verbrachte sie in anderen Zimmern, mit anderen interessanten Menschen und sicherlich genauso andersartigen, interessanten Tätigkeiten.

 

Jedes Zimmer also ein kleines Universum voller Weisheiten und Einblicke in das Bohemienleben von Andy Warhols selbst kreierten "Superstars". Und so ist im Falle von "The Chelsea Girls" das Konzept des Films an sich, der Grund, warum diese irre Mischung aus frühem Trash und Avantgarde so ein gigantisches, wichtiges Werk ist: Jedes Segment aus "The Chelsea Girls" ist improvisiert – Ausnahmen bestätigen die Regel. Warhol kam mit seiner Kamera in den Raum des jeweiligen Superstars, der die Episode ausfüllen sollte und hielt seine Kamera auf sein Subjekt. Während alle Akteure vor der Kamera zu fast jeder Zeit des Films unter dem Einfluss von Drogen standen, war es Warhol, der als einziger nüchtern blieb und die hektischen Zooms und Schwenks der Kamera vollführte. Die Szene war vollendet und geglückt, wenn das Filmmaterial nach zirka 32 Minuten voll war. Alles, was in diesen 32 Minuten vor der Kamera passierte, war eine passende Szene für "The Chelsea Girls". Die Doppelepisode "Hanoi Hannah" wurde allerdings von Ronald Travel gescriptet, allerdings war es wohl nur Mary Woronov, die sich an ihren Text erinnern konnte. Ein weiterer Clou des Films ist natürlich seine Vorführweise: Die zwölf halbstündigen Episoden wurden nicht am Stück hintereinander gezeigt. Durch eine Doppelprojektion wurden zwei simultane Bilder auf eine Leinwand geworfen, die parallel zueinander abliefen und in ihrer Reihenfolge bunt gemischt werden konnten. Die definitive Reihenfolge ist wohl durch die von Paul Morrissey hergestellte Videofassung zu sehen, in der er mathematisch präzise die von Warhol erdachte Reihenfolge rekonstruierte. Im Einzelnen sieht "The Chelsea Girls" folgendermaßen aus:

 

Episode 1, Nico in the Kitchen (Rechter Projektor, schwarzweiß): Nico sitzt in der Küche herum und schneidet sich ihren Pony kurz, damit der nicht mehr mit ihren falschen Wimpern verklebt, während Eric Emerson einen Kaffee zubereitet. Während die beiden über die Frisur und über die Notwendigkeit, die Haare zu kürzen, philosophieren, spielt Nicos Kind Ari in der Küche.

 

Episode 2, Pope Ondine and Ingrid (Linker Projektor, schwarzweiß): Ingrid Superstar ersucht den unprofessionellen Rat des ex-katholischen, jetzt nihilistischen Kunststudenten und Möchtegern-Priesters Ondine. Er befragt sie über ihr Sex- und Drogenleben, während die irritierte Frau nur zögerlich antwortet. Schließlich kommt es zum Streit und beide werfen sich Körper- und Mundgeruch vor, bevor sie eine religiöse Diskussion beginnen.

 

Episode 3, Brigid holds Court (Rechter Projektor, schwarzweiß): Zu Anfang gibt Brigid Berlin als "the Duchess" Ingrid Superstar eine überdosierte Injektion Amphetamine in den Hintern und macht sich daraufhin konstant über das halluzinierende Mädchen lustig. Während Ingrid aus Protest ins Bad verschwindet, taucht Donnie auf, der Brigid die Haare frisiert.

 

Episode 4, Boys in Bed (Linker Projektor, schwarzweiß, stumm): Ed und Patrick wollen sich mit zwei Prostituierten amüsieren. Obwohl Patrick von dem jungen Mädchen sadomasochistische Praktiken verlangt, bekommt er keine Erektion. Der Alkohol und die zuvor konsumierten Drogen haben ihn temporär impotent gemacht. Schließlich verlassen die Prostituierten das Bett und Gerard gesellt sich hingegen zu ihnen. Gemeinsam essen die eine Nektarine.

 

Episode 5, Hanoi Hannah (Rechter Projektor, schwarzweiß): Dialoglastiges Segment, in dem die dominante Hanoi Hannah zusammen mit drei anderen Lesben ein grausames Psychoterrorspiel spielt, das sich in physischer und psychischer Gewalt äußert.

 

Episode 6, Hanoi Hannah and Guests (Linker Projektor, schwarzweiß, stumm): Fortsetzung von Episode 5. Immer noch führt Hanoi Hannah aus Spaß psychisch belastende Fragespiele mit ihren Zimmergenossinnen durch, nur unterbrochen von dem klingelnden Telefon.

 

Episode 7, Mario sings two songs (Rechter Projektor, schwarzweiß): Ed und Patrick liegen immer noch gemeinsam im Bett und bekommen Besuch von ihrem Nachbarn, dem Transvestiten Mario. Dieser schafft es, zwei Broadwaystücke anzustimmen, bevor er aus der Bude hinausgeworfen wird.

 

Episode 8, Mary Menken (Linker Projektor, farbig, stumm): Gerard Malanga, Marie Menken und Mary Woronov hängen miteinander in Gerards Raum ab und reden über sadomasochistische Praktiken, während die Kamera völlig verrückt spielt.

 

Episode 9, Eric says all (Rechter Projektor, farbig): Völlig auf Droge vollzieht Eric Emerson sowohl einen physischen als auch einen Seelen-Striptease. Während psychedelische rote und blaue Lichter auf seinen Körper projiziert werden, denkt er laut über die Schönheit der Haare, über den Geschmack von Schweiß und über die Wirkung von Nacktheit auf die eigene Seele nach.

 

Episode 10, Color lights on the Cast (Linker Projektor, farbig, stumm): Warhol filmt viele seiner Hauptdarsteller während einer privaten Filmvorführung und macht das Gedränge und innerhalb des Vorführraums durch drei verschieden farbige Suchleuchter interessant.

 

Episode 11, Pope Ondine (Rechter Projektor, schwarzweiß): Ondine stellt sich selbst als nicht-katholischer, reichlich nonkonformistischen Priester vor, der zunächst über sich selbst lamentiert, dann einer jungen Frau eine Beichte abnimmt, die in einem Tobsuchtsanfall seinerseits endet. Im Finale setzt er sich einen Schuss Kokain und redet im Gegenzug dazu über Coca-Cola.

 

Episode 12, Nico crying (Linker Projektor, farbig): Zu der Live-Musik von Velvet Underground verharren wir auf Nicos Gesicht, die sich durch die Musik in eine sentimentale, nachdenkliche Stimmung versetzen lässt. Sie weint.

 

Für "The Chelsea Girls" benutzte Warhol keine gelernten Schauspieler, sondern seine selbst ernannten Superstars, alles Mitarbeiter seiner Factory – durchgeknallte Originale, die selbst, wenn sie eine Rolle für ihren Meister improvisieren, immer mehr sie selbst bleiben. Und genau dieser ungeschnittene, studienhafte Blick auf Menschen, die sich völlig freiwillig und in manchen Fällen wohl auch völlig unbewusst einem Seelenstriptease hingeben, hat "The Chelsea Girls" seine Faszination zu verdanken. Wie schon in seinen experimentellen non-narrativen Filmen geht es Warhol eher um ein Abbild der Realität, um eine kurze Konservierung der Wahrheit auf 16mm-Material. Und so bleibt seine Kamera fast immer außen vor, behält sich selber immer ihre psychoanalytische Distanz vor. Nur wenige Male wird die Kamera zu einem narrativen Instrument, wenn sie beispielsweise rhythmisch den Peitschenschlägen Marie Menkens folgt.

 

Das, was Newsweek "Iliad of the underground" nannte, ist wirklich ein bedeutsames Werk, das nicht nur ein kurioses Zeitdokument der Welt voller Drogen und Sex im Umfeld des Andy Warhols darstellt, sondern auch einen kleinen Exkurs in Aufmerksamkeit bietet: Welchem der beiden parallelen Bildern geben wir mehr Beachtung? Dem Farbigen? Dem Schwarzweißen? Dem Bild, dessen Ton gerade abgespielt wird oder der Stummfilmhandlung? Wie schnell können wir unsere Aufmerksamkeit zwischen zwei Projektoren hin und her schwenken, wenn beispielsweise in Episode 1 und 2 der Sound mit einem Mal gewechselt wird? Wie interessant ist Episode 5, wenn Episode 6, die unmittelbar nebenan läuft, bereits ihren Ausgang unspektakulär vorwegnimmt? Und was passiert mit unserer Konzentration, wenn wir trotz einer Bilderflut von zwei Bildinformationen gleichzeitig keinerlei Ton hören? Die Antworten auf diese Fragen dürften weitestgehend für jede Person und für jede Sitzung mit den "Chelsea Girls" anders ausfallen. Und so ist "The Chelsea Girls" einer der extrem reichhaltigen Filme (obwohl erzählerisch relativ simpel), die bei jedem Ansehen zu einem anderen Film werden.

 

Björn Last

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in:  Mitternachtskino

 

The Chelsea Girls

USA, 1966. Regie: Andy Warhol. Drehbuch: Ronald Tavel, Andy Warhol. Produktion: Paul Morrissey. Kamera: Andy Warhol. Musik: The Velvet Underground. Darsteller: Nico, Brigid Berlin, Ari Boulogne, Eric Emerson, Mario Montez, Patrick Fleming, Ed Hood, Rona Page, Albert Rene Ricard, Ondine, Angelina "Pepper" Davis, Ingrid Superstar, International Velvet, Gerard Malanga, Mary Woronov, Marie Menken. Schwarzweiß/Farbe. 197 Min.

 

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