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Charlie und die Schokoladenfabrik

 

Twix aus der Asche

 

Bist du jetzt zufrieden, Dad? / Anmerkungen zu Tim Burtons „Charlie und die Schokoladenfabrik“

 

Wie öffnet man eine Tafel Schokolade? Genauso wie man ein Pflaster abreißt, ganz schnell. Der kleine Charlie weiß, wie’s geht. Aber die Wunde ist immer noch da. Das Pflaster kann noch nicht ab. Tim Burton hat wieder seinen Stoff gefunden: Diesmal ist es Schokolade, oder besser: Roald Dahls Kinderbuch „Charlie und die Schokoladenfabrik“, das unter dem passenderen Titel „Willy Wonka und die Schokoladenfabrik“ bereits 1971 verfilmt wurde.

 

Willy Wonka, der selbsternannte „Kakaopoet“ und Global Player der Süßwaren-Industrie, öffnet seine mysteriöse Fabrik für fünf Kinder: Fünf „goldene Eintrittskarten“, versteckt in Schokoladentafeln, berechtigen zur Werksführung – und versprechen einem der Gewinner eine „besondere Überraschung“. Die ersten vier Tickets landen bei modernen Kinder-Archetypen, einer abscheulicher als der andere. Mit ihren tumben Eltern halten sie die Tickets in die Kameras: das Karrierekind Violetta, das verwöhnte Balg und der adipös-asoziale Fettklops Augustus, der Videospiel-Junkie Micky. Dessen Vater zeigt zumindest ein bisschen Einsicht: „Irgendwie wird die Kindheit immer kürzer“, stellt er fest, freilich ohne sich zu fragen, wer dafür die Verantwortung trägt.

 

Burton stellt diese Kinder und ihre Eltern in Videoclip-artigen Episoden vor, deren Virtuosität er leider im Verlauf des Films kaum mehr erreicht. Streckenweise wirkt das Ganze wie eine Nummernrevue – nicht zuletzt weil es tatsächlich mehrere pädagogische, wenn auch teils lustige, Gesangseinlagen gibt („Verflucht sei in der Tat / der Fernsehapparat“). Der Schokofabrikant Willy Wonka selbst ist – freundlich gesagt – ein ziemlicher Soziopath, ein androgynes Wesen, das, gespielt von Johnny Depp, Züge des anderen großen, unheimlichen Kinds, Michael Jackson, bekommt. Wie Jackson auch traumatisiert durch den Vater (Beruf: Zahnarzt), der dem kleinen Willy alles Süße verbot, ist er einerseits ein ewiges Kind geblieben, andererseits aber ein verbitterter, neurotischer Herzog Blaubart geworden, der das Wort „parents“ nicht über die Lippen bekommt und hinter jeder Tür seiner Fabrik eine neue Quälerei für seine kindlichen Besucher parat hat – aus Sadismus, aus kindlichem Spieltrieb, zur Bestrafung für ihre Verderbtheit, wer weiß. Und auch Wonka umgibt sich mit kleinen Jungs, wenngleich die im Film Umpa-Lumpas heißen und Liliputaner-Klone sind – und importierte Biiligarbeiter.

 

In einer Rückblende erfahren wir, dass Willy Wonkas übermächtiger Vater die von seinem Sohn an Halloween erbeutete Schokolade im Kamin verbrennt. Eines Tages entdeckt Willy in der Asche einen verschonten treat – und kostet von der verbotenen Frucht. Das unvergessliche Erlebnis wird der Auslöser für sein Schoko-Imperium. Mit Erklärungen für seine Erfindungen wie dem 3-Gänge-Kaugummi, der den Geschmack eines ganzen Menüs vortäuscht, tut sich der erwachsene Wonka allerdings schwer. Auf die Frage eines Vaters, ob so etwas überhaupt erstrebenswert sei, weiß Wonka keine Antwort. Michael Jackson hätte wohl „I love you all“ geantwortet, Wonka liest die consumer benefits seiner eigenen Erfindungen ungelenk von cheat sheets ab. Wonka ist Superstar und Allgemeingut, von dem jeder ein Stück haben kann – gegen ein bisschen Geld für eine Tafel Schokolade. Und auch alles in der Fabrik sei essbar, sagt Wonka, sogar er selbst. „Aber das nennt man Kannibalismus und wird in den meisten Gesellschaften nicht gerne gesehen.“ Da ist doch irgendwas in der Schokolade.

 

Die Irren geben einfach die besseren Hauptrollen ab; neben Johnny Depps Wonka wirkt der titelgebende Charlie (Freddie Highmore) zwar herzensgut, bleibt aber ziemlich blass. Er ist es, dem das letzte goldene Ticket unerwartet zufällt, und wie im Märchen ist es seine Bescheidenheit, die ihn die Tour durch Wonkas Neverland unbeschadet überstehen lässt – und ihn zur Entgegennahme des großen Preises qualifiziert. Die Geschichte geht gut aus für Charlie, soviel sei verraten. Aber was wird aus Wonka?

 

Die Väter lassen ihre Söhne nicht los, erst recht nicht ihre größten. So singen die Umpa-Lumpas in der Mitte des Films mit entwaffnender Schlichtheit: „Die Eltern sind die Schuldigen, das leuchtet ein.“ Das haben die Kinder, für die „Charlie und die Schokoladenfabrik“ vor allem gemacht wurde, ohnehin gewusst. Doch es bleibt nicht bei Schuldzuweisungen. Das Kind Charlie kann den verhaltensgestörten Wonka heilen – und zwar nicht mit Schokolade, dem Liebessurrogat. Man könnte mal unter dem Pflaster nachsehen.

 

Gabriel F. Yoran

 

Dieser Text ist zuerst erschienen bei www.filmkritiken.org

 

Charlie und die Schokoladenfabrik

USA / Großbritannien 2005 – Originaltitel: Charlie and the Chocolate Factory – Regie: Tim Burton – Darsteller: Johnny Depp, Freddie Highmore, Helena Bonham Carter, David Kelly – Prädikat: besonders wertvoll – FSK: ohne Altersbeschränkung – Länge: 115 min. – Start: 11.8.2005

 

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