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Camorra
Rache
und Gerechtigkeit
Wer
kennt schon die italienische Regisseurin Lina Wertmüller, die vor allem
in den 70er Jahren durch etliche Filme auf sich aufmerksam machte? „Liebe und
Anarchie” (1973) – der Originaltitel lautet „Film d’amore e d’anarchia, ovvero
‘stamattina alle 10 in via dei Fiori nella nota casa di tolleranza’ …” – ist
wohl ihr bekanntester, jedenfalls für ein Publikum, das damals schon ins
Kino laufen konnte. Giancarlo Giannini spielte damals die Hauptrolle, und auch
ansonsten konnte Lina Wertmüller einige Stars für ihre Filme verpflichten.
Etwa die leider hier viel zu selten zu sehende spanische Schauspielerin Ángela
Molina, zuletzt etwa in „Annas Sommer” (2001). Oder
den im Juni dieses Jahres verstorbenen Nino Manfredi, der in „Fatto di sangue
fra due uomini per causa di una vedova – si sospettano moventi politici” (zu
dt. schlicht „Blutfehde”) 1978 die Hauptrolle spielte. Neben
Giannini ist Mariangela Melato eine der von Lina Wertmüller oft beschäftigten
Schauspielerinnen, die aber nur in Italien bekannt zu sein scheint.
Die
1928 in Rom geborene Regisseurin war bereits in ihrer Jugend eine aufmüpfige
Frau, verweigerte dem Vater den Wunsch, Juristin zu werden, gründete in
den 50er Jahren eine Theatergruppe, arbeitete als Autorin, Bühnenbildnerin,
Schauspielerin und kam durch die Freundschaft mit Marcello Mastroianni und seiner
Frau Flora Carabella zum Film. Bei Fellini arbeitete sie als Regieassistentin
bei dessen Film „8 ½” und drehte 1963 ihren ersten eigenen Film.
Wertmüllers
Filme gehören nicht gerade zum Mainstream, sind mal grotesk, mal feministisch,
mal populistisch, mal politisierend und zumeist von allem etwas. Vielen Intellektuellen
in den 70er Jahren kamen ihre Filme wohl gerade recht. Sie waren irgendwie links
und irgendwie chic und irgendwie radikal und humorvoll. „Mimi – in seiner Ehre
gekränkt” (1972), „Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal
im azurblauen Meer im August” (1975) und „Sieben Schönheiten” (1976) gehörten
zu ihren größten Erfolgen, auch in den USA.
Mit
manchen Filmen der Wertmüller nach 1980 habe ich so meine Probleme. „Shampoo,
Sex und Politik” (2000) ist eine nette Polit-Komödie, schwungvoll, aber
doch eher harmlos, eine Art Persiflage auf die Zeit des Untergangs der alten
italienischen Parteien und die Probleme, die insbesondere Männer u.a. mit
diesem Strukturwandel haben. „Reich und Gnadenlos” (1987) ist ein meinem Gefühl
nach misslungener Versuch über die Verkehrung von Geschlechterrollen.
In
„Camorra” aber geht es um anderes:
Inhalt
Annunziata
(Ángela Molina) war einmal Prostituierte. Vor drei Jahren hatte sie das
Etablissement in die „Pension Broadway” umgewandelt und ihren Beruf an den Nagel
gehängt. Dafür muss sie Bartolomeo Rocco (Tommaso Bianco), Spross
der berüchtigten Camorra-Familie Rocco, Geld abdrücken. Als Bartolomeo,
genannt Baba, wieder einmal bei ihr erscheint, um sich Geld zu beschaffen, versucht
er, Annunziata zu vergewaltigen. Sie wehrt sich mit Erfolg, und plötzlich
erschießt jemand Baba von hinten. Annunziata ist bewusstlos, hat nicht
erkannt, wer Baba getötet und ihm dann eine Spritze in den Hoden gesteckt
hat. Auch die Polizei ist ratlos, warnt Annunziata allerdings vor der Verfolgung
durch die Mörder, die sie als unliebsame Zeugin ansehen könnten.
Durch
einen anonymen Hinweis verfolgt die Polizei eine Spur in einem Tanzclub, der
von Toto (Daniel Ezralow) geleitet wird und in dem sich vor allem Homosexuelle
aufhalten. Toto war am Tatort. Nachweisen kann man ihm nichts, vor allem ist
kein Motiv ersichtlich. Der ermittelnde Kommissar traut auch Annunziata nicht
über den Weg, kann ihr allerdings nicht nachweisen, dass sie lügt.
Als sie aus dem Polizeigebäude kommt, fängt sie ihr Ex-Freund und
Vater ihres Kindes Frankie (Harvey Keitel) ab, der mit Drogen handelt und ein
letztes großes Geschäft mit Heroin machen will. Er begehrt Annunziata
noch immer, ist eifersüchtig auf jeden Mann, der sich ihr nähert und
will, dass sie mit ihm nach dem letzten Deal ins Ausland verschwindet. Doch
Annunziata weigert sich.
Frankie
macht eine Menge krumme Geschäfte, vor allem zusammen mit dem Bauunternehmer
Tony (Vittorio Squillante), dessen Frau Carmela (Isa Danieli) davon nichts ahnt.
Vor einiger Zeit war beider kleiner Sohn durch Rauschgift umgekommen. Frankie
und Tony sind dem Clan der Roccos ein Dorn im Auge. Sie vermuten Frankie hinter
dem Mord an Baba. Dann findet man ein weiteres Mordopfer, dem ebenfalls eine
Spritze in die Genitalien gestochen wurde.
Guaglione
Rocco (Francisco Rabal), der fast blinde Vater des ermordeten Baba, hat Streit
mit seinem zweiten Sohn, der Tango (Paolo Bonacelli) genannt wird. Guaglione
war schon immer gegen Rauschgiftgeschäfte seiner Familie, doch Tango hat
inzwischen mehr zu sagen als er. Auch Tango verhört Annunziata in einem
geheimen Versteck in seiner Prachtvilla. Als dort die Polizei aufgrund eines
anonymen Hinweises eine Razzia durchführt und Tango festnehmen will, wird
der – fast vor den Augen aller Anwesenden – auf die gleiche Art ermordet wie
sein Bruder.
Die
Polizei hat langsam, aber sicher Zweifel daran, dass die Morde Teil eines Krieg
zwischen rivalisierenden Mafia-Clans sind. Und Annunziata, die sich in Toto
verliebt und ihm zu verdanken hat, dass er ihrem Sohn das Leben rettete, als
zwei Drogendealer den Jungen süchtig machen wollen, fühlt sich durch
Frankie immer stärker unter Druck gesetzt …
Inszenierung
„Camorra”
ist sicherlich ein Krimi, der übrigens in Neapel und Umgebung spielt, sicherlich
eine Liebesgeschichte – zwischen Annunziata und Toto –, sicherlich ein Mafia-Film
– jedenfalls von allem ein bisschen. Vor allem ist der Film aber eine spitze
Anklage nicht nur gegen die Camorra, sondern vor allem auch gegen eine Männerwelt,
in der ausschließlich Gewalt, Geld und gewalttätiger und gekaufter
Sex zählen. Dabei geht Lina Wertmüller durchaus nicht frontal gegen
„die” Männer vor. Im Gegenteil: Im Film erkennt man drei sehr unterschiedliche
Typen von Männern:
Da
ist Frankie, gespielt von dem (in der äußeren Erscheinung etwas auf
italienisch getrimmten) Harvey Keitel, einer der nur sich kennt, der skrupellos
mit Heroin handelt, seine Leute bereits Kinder abhängig machen lässt
und von dem großen Traum beseelt ist, nach einem letzten Coup den Ort
des Geschehens zu verlassen und im Reichtum zu leben. Bei Frankie ist jeder
Coup der letzte. Er sieht die Welt als große Handelsbilanz: Die einen
sterben im Drogenkrieg, die anderen werden reich und bekommen zumindest ein
gutes Stück vom Kuchen ab. Kaum anders denkt Tango, der schmierige Casanova
der Familie Rocco, hintertrieben, geschäftstüchtig und gewissenlos.
Toto
ist da ganz anders. Er erzählt Annunziata, dass er sie schon als Kind gemocht
habe, versucht habe zu verhindern, dass ihr Bruder sie mit 13 auf den Strich
schickt. Ihr Bruder habe sich bitter gerächt, ihn mit Unterstützung
von drei anderen vergewaltigt. Danach ging Toto in die USA. Und jetzt? Toto
liebt Annunziata, er liebt seinen Beruf als Tänzer und Tanzlehrer, und
für ihn zählt nichts anderes. Er setzt sein Leben dafür ein,
Annunziatas Sohn zu retten.
Und
schließlich treffen wir auf Babas und Tangos Vater, den Ex-Camorra-Chef
Guaglione, einen „ehrbaren” Mafiosi, der nie mit Drogen Geschäfte machen
wollte, der jetzt den Mörder seiner Söhne finden will, der aber zum
Schluss erkennen muss, dass es nicht die Rache ist, die ihn von nun an treibt,
sondern Mitgefühl mit denen, die seine Söhne ermordet haben.
Auch
die Frauen werden bei Lina Wertmüller nicht über einen Kamm geschert.
Da gibt es Annunziata, die mit ihrem Sohn endlich aus der Abhängigkeit
der Camorra heraus will, Carmela und die anderen Frauen des Armenviertels in
Neapel, denen es nicht anders geht und die um ihre toten Kinder weinen. Und
dann gibt es die vielen Frauen im Hause Tangos, des Casanovas mit viel Geld,
die ihm hörig sind, ihn gegen die Polizei verteidigen, ihn verehren, um
nicht zu sagen: ihm devot huldigen.
Lina
Wertmüller inszenierte „Camorra” trotz der Tragik des Geschehens mit einem
guten Schuss Humor. Spritzen in den Hoden der Mordopfer – das entbehrt nicht
einer gewissen Skurrilität. Der Kommissar, der irgendwann kurz vor dem
Verzweifeln ist, meint: „Früher wollte ich mit Zigarren handeln, jetzt
handle ich mit Leichen.”
„Camorra”
ist eine Anklage; und es sind die Frauen, die sie führen und entsprechend
handeln. Der Schluss des Films, in dem offenbar wird, wer die Morde zu verantworten
hat, drückt dies aus, wenn auch meinem Empfinden nach die Moral ein bisschen
zu dick aufgetragen wird.
Die
Schauspieler sind nicht nur gut gewählt, sie spielen auch überzeugend,
allen voran Harvey Keitel und Ángela Molina, aber auch Isa Danieli und
Paolo Bonacelli in der Rolle des leicht verrucht-schmierigen Tango und Francisco
Rabal – ein früher viel beschäftigter spanischer Schauspieler, der
2001 verstorben ist – als zweifelnder und an sich selbst zweifelnder Guaglione.
Wertung:
8,5 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei: www.yopi.de
Camorra
(Un
complicato intrigo di donne, vicoli e delitti)
Italien
1986, 115 Minuten
Regie:
Lina Wertmüller
Drehbuch:
Elvio Porta, Lina Wertmüller
Musik:
Tony Esposito
Director
of Photography: Giuseppe Lanci
Schnitt:
Michael J. Duthie
Produktionsdesign:
Enrico Job
Darsteller:
Ángela Molina (Annunziata), Harvey Keitel (Frankie), Isa Danieli (Carmela),
Paolo Bonacelli („Tango” Rocco), Vittorio Squillante (Tony), Francisco Rabal
(Guaglione Rocco), Tommaso Bianco (Bartolomeo „Baba” Rocco), Daniel Ezralow
(Toto)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0090871
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