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Das Cabinet des Dr. Caligari

 

Wie nähert man sich einem Film, der zur Legende geworden ist, zum Symbol einer ganzen Epoche? Denn das trifft auf „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zu, wie auf keinen zweiten Film. Dieser Film prägte den deutschen Expressionismus, wurde zum geflügelten Wort und beeinflusste ganze Genres vom Horrorfilm bis zum Film Noir. Wie also geht man an eine solche Legende heran? Am besten ganz unbefangen, indem man sich den Film einfach anschaut.

 

Der Film handelt von einem Jahrmarkt-Schausteller aus der Zeit des Biedermeier, eben jenem Doktor Caligari (Werner Krauss), der sein Medium, den Somnambulen Cesare (Conrad Veidt) vorführt. In dem kleinen Städtchen, in dem der Film handelt, geschehen einige rätselhafte Morde, die Cesare unter dem Einfluss Caligaris begangen hat. Caligari flieht und es stellt sich heraus, dass er der Direktor eines Irrenhauses ist, der selbst verrückt wurde. Am Ende erweist sich diese ganze Handlung als Erzählung eines Insassen dieses Irrenhauses und der gütige Direktor, weiß nun, da er seinen Wahn kennt, endlich wie er ihn heilen kann.

 

Die Handlung als solche wäre kaum der Rede wert und enthielte zudem zu viele Unwahrscheinlichkeiten, wenn es nicht etwas anderes wäre, was die Bedeutung dieses Films ausmacht. Dieses andere ist zunächst einmal die Umsetzung. Der gesamte Film spielt in Kulissen, bei denen man sich nicht nur keine Mühe gegeben hat, ihre Kulissenhaftigkeit zu verbergen. Sie wird geradezu betont. Die Zimmer, die Straßen mit Häusern, sogar die Natur: alles ist als gezeichnete Kulisse erkennbar und trägt den Charakter der Unwirklichkeit. Die Handlung spielt sich gleichsam auf einer Bühne ab. Den Eindruck des Einmaligen erhält der Film aber erst durch die Art dieser Kulissen. Es dominieren geometrische Formen, aber es gibt keine geraden Linien, alles ist eckig, schief und schräg, zu klein oder zu groß. Selbst Türen und Fenster sind schief, die Giebel der Häuser neigen sich nach vorne, als wollten sie gleich umfallen. Die Innenräume sind surreal, Stühle haben viel zu hohe Beine. Alles erscheint unwirklich und grotesk.

 

Diese ganze Szenerie erweckt eine Atmosphäre der Bedrohung und der Angst. Die Kulissen spiegeln somit die Handlung. Die Außenwelt korrespondiert der Innenwelt der Personen. Wahnsinn und Mord werden sichtbar. Vorbildlich ist die Arbeit mit Licht und Schatten, die in der Folgezeit weiterentwickelt wurde. Einen großen Anteil an der abgründigen Atmosphäre des Films haben nicht zuletzt die beiden Hauptdarsteller Conrad Veidt und Werner Krauss. Veidt macht Cesare mit seinen schwarz geschminkten Augen zum Ahnherrn aller psychopatischen Mörder der Filmgeschichte und der Caligari, wie Krauss ihn darstellt, scheint direkt aus einer Nachtgeschichte E.T.A. Hoffmanns entsprungen zu sein.

 

Die Einfügung der Handlung in eine Rahmenerzählung wurde erst nachträglich hinzugefügt und die Idee dazu stammt von Fritz Lang, der ursprünglich als Regisseur vorgesehen war. Der zeitgenössische Filmwissenschaftler Siegfried Kracauer warf dem Film deshalb vor, dass sein eigentliches Anliegen, die Kritik der Machtmaschinerie des 1. Weltkrieges durch diese Rahmenhandlung abgeschwächt werde. Doch diese Kritik trifft den Kern nicht. Hätte der Film keine Rahmenhandlung, dann würde er mit der Entlarvung Caligaris enden. Am Ende hätte die Vernunft gesiegt und wir hätten einen zwar extravagant gestylten aber doch konventionellen Psychothriller mit unlogischer Handlung vor uns.

 

Seine Wirkung entfaltet der Film aber dadurch, dass er ein psychisches Geschehen zur Darstellung bringt. Die ganze Handlung gehorcht den Regeln eines Traumes. Die kulissenhafte Welt ist die Welt eines Alptraums und das Motiv kehrt im Traum selbst wieder, da eine der Hauptfiguren, der Somnambule Cesare, selbst ein Träumender ist. Da die Welt des Traums nicht den Gesetzen der Realität gehorcht, ist es auch stimmig, dass die Außenwelt sich dem Traum anpasst und Häuser und Natur jede beliebige Form annehmen können. Der Träumende ist Francis (Friedrich Feher), die Hauptfigur des Films, jener Francis, der als vernünftiger Held die Verbrechen Caligaris enthüllt und sich dann in der Rahmenhandlung als Wahnsinniger entpuppt.

 

Das Unheil kommt in Gang als Francis mit seinem Freund Alan die Bude Caligaris besucht. Beide sind Freunde und beide lieben die gleiche Frau (Lil Dagover). Alan fragt Cesare, wie lang er noch zu leben hat und erhält die Antwort: bis zum Morgen. Am nächsten Tag ist er tot. Als Kriminalhandlung wäre dies ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Doch wenn wir die Handlung als Ausdruck von Francis Unbewusstem verstehen, dann zeigt sich die Verbindung. Cesare tötet den Nebenbuhler und entführt später die Geliebte. Cesare führt das aus, was Francis unbewusst wünscht. Er ist das leibgewordene Unbewusste der Hauptfigur.

 

In dieser Gratwanderung zwischen Vernunft und Wahnsinn liegt die eigentliche Kraft des Films und von hier bezieht er seine Wirkung. Der vernünftige Francis entpuppt sich als Wahnsinniger, die Morde sind Ausgeburten seiner verdrängten Wünsche. Der unheimliche Doktor steigert sich zunächst in den irrsinnig gewordenen Direktor des Irrenhauses und enthüllt sich am Ende als der in Wirklichkeit hilfsbereite Arzt. Aber was ist in diesem Film Wirklichkeit? Der Film endet mit dem Bild des gütigen Caligari. Doch es bleibt ein Rest Unbehagen, dass doch der andere Caligari, der aus dem Alptraum, in ihm stecken könnte, dass Wirklichkeit und Alptraum sich abermals umkehren könnten.

 

Der Film wurde zum Ursprung zahlreicher filmischer Mythen. Caligari ist das Urbild des verrückten Wissenschaftlers, der von Dr. Mabuse bis Dr. Seltsam zahlreiche Nachfolger gefunden hat. Die gleiche Vorbildfunktion hat die Figur des Cesare für all die vom Unbewussten getriebenen Mörder von Hans Beckert aus „M“ bis Norman Bates aus „Psycho“. Der Film ist eine Legende, mit der alles begann.

 

Siegfried König

 

Das Cabinet des Dr. Caligari

Deutschland 1919, Regie: Robert Wiene, Buch: Hans Janowitz und Carl Mayer, Kamera: Willy Hameister, Produzent: Rudolf Meinert. Mit: Conrad Veidt, Werner Krauss, Lil Dagover, Friedrich Feher, Rudolf Lettinger.

 

 

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