Bringing out the Dead
Ein langer, unruhiger Fluss
Martin Scorseses neuer Film „Bringing out the Dead" ähnelt nur auf den
ersten Blick seinem „Taxi Driver"
Aus dem Zerstörer ist ein Erlöser geworden,
aus dem Killer ein Heiler. Mehr als 20 Jahre nachdem Martin Scorsese den „Taxi Driver“ Travis Bickle durch das darbende New York
schickte, um die Straßen vom Abschaum zu säubern, lässt er den
Rettungssanitäter Frank Pierce wie einst Bickle durch den nächtlichen
Moloch fahren, mit rastlosem Blick, einsam und verbraucht, kurz vor dem Durchdrehen.
Dieser Frank Pierce (Nicolas Cage) ist kein Engel, nicht einmal ein gefallener.
Er ist ein Erretter auf der Kriechspur, ein Wunderheiler ohne heilende Kräfte.
Seit Monaten hat Pierce kein Leben gerettet, die Menschen sterben unter seinen
Händen wie die Fliegen. „Bringing out the dead“ nennt Scorsese seinen neuen Film,
und meint damit auch die Geister, die den verhinderten Lebensretter verfolgen:
„Warum hast du uns getötet, Frank?“
Solch furchtbare Halluzinationen sind nur ein weiterer
Tropfen im brodelnden Fass der Stadt, sie gleicht auch ohne Todesvisionen einem
Albtraum: Junkies und Huren, Drogendealer und Zuhälter, schießwütige
Kids und irre Selbstmörder. Der tödliche Alltag huscht am Fenster
des Krankenwagens vorbei, er kriecht mit den Anweisungen der Zentrale durch
das Funkgerät und nähert sich schreiend mit den Laufschritten der
Sanitäter. Im Hospital, das ein Refugium vor dem Wahnsinn sein könnte,
sieht es kaum besser aus. Eine Horde von abgestumpften Zynikern, mechanischen
Helfern und Heilern wartet in der Ambulanz auf die immer gleichen Opfer. Draußen
vor der Tür bewacht ein stämmiger Polizist die verzweifelten Angehörigen,
zu denen nichts nach außen dringt als das Chaos.
Inmitten dieses unwirklich entmenschlichten Umfelds lernt
Sanitäter Pierce die junge Mary (Patricia Arquette) kennen, die vor den
Toren des Krankenhauses um ihren Vater bangt, der in einem kahlen Flur des Hospitals
im Sterben liegt. Behutsam freunden sich die beiden an. In Marys Wohnung bleiben
Franks Albträume aus – menschliche Nähe als einziger Weg aus der kalten,
dunklen Außenwelt. Scorsese bebildert sein New York als stinkenden Misthaufen,
als Stadt am Abgrund, als verseuchtes, von allen guten Geister verlassenes Brachland.
Doch er legt Wert darauf, den Film Anfang der 90er spielen zu lassen. „Vor der
Renaissance der letzten Jahre“, wie das Presseheft eilfertig versichert. Seit
wann beschäftigt sich Scorsese mit obsoleten Zuständen?
Die brisante Aktualität und schockierende Radikalität
von „Taxi Driver“ fehlt „Bringing out the dead“ nicht nur deshalb: Zu oft erliegt
der Film den Verlockungen der Comedy, schafft besonders in Pierces Partnern,
dem cholerischen Brutalo Walls (Tom Sizemore) und dem zigarreschmauchenden Sprücheklopfer
und Hobby-Priester Marcus (Ving Rhames) Karikaturen, deren Handeln uns kaum
schockieren oder berühren kann. Lediglich John Goodman als ruhiger, besonnener
Sanitäter Larry dient als vollwertige Figur neben Cages Frank Pierce. Die
Vielfalt an Typen, die Rasanz und Komik von „Bringing out the dead“, bizarre
Zwischenspiele wie Franks Drogentrip in der Wohnung eines Dealers (Ciiff Curtis)
erinnern bei allen Parallelen zu „Taxi Driver“ eher an Scorseses andere Reise
durch das nächtliche New York: „Die Zeit nach Mitternacht“ (1985). Doch „Bringing out the dead“ verzichtet auf
dessen brillante Steigerung des Wahnsinns. Die Welt gerät nicht Stück
für Stück aus den Fugen, sondern alles wiederholt sich in ewigen Schwankungen,
wird besser, verschlechtert sich, wird wieder besser – ein langer, unruhiger
Fluss. Die Kamera rast und dreht sich, stellt die dunklen Straßen New
Yorks auf den Kopf und bringt das Abbild schließlich wieder ins Lot. „Du
hast mir das Leben gerettet“, sagt der Dealer zu Frank Pierce. „Ich weiß“,
antwortet der Sanitäter und geht davon. Die Geister sind fürs Erste
besiegt, Frank flieht in Marys Arme. In der Außenwelt, die Scorsese plötzlich
ausblendet, geht das Elend weiter. Vielleicht sollte „Bringing out the dead“
der Pilotfilm einer Krankenhausserie sein.
Christoph Elles
Dieser Text ist zuerst erschienen bei:
Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerung
BRINGING OUT THE DEAD
USA – 1999 – 120 min. – Scope
Drama
FSK:
ab 16; feiertagsfrei
Prädikat:
besonders wertvoll
Verleih:
Buena Vista
Fd-Nummer:
34225
Produktionsfirma:
De Fina-Cappa/Paramount Pictures/Touchstone Pictures
Produktion:
Barbara De Fina
Scott Rudin
Eric Steel
Joseph Reidy
Regie:
Martin Scorsese
Buch:
Paul Schrader
Vorlage:
nach einem Roman von Joe Connelly
Kamera:
Robert Richardson
Musik:
Elmer Bernstein
Schnitt:
Thelma Schoonmaker Powell
Darsteller:
Nicolas Cage (Frank Pierce)
Patricia Arquette (Mary Burke)
John Goodman (Larry)
Ving Rhames (Marcus)
Tom Sizemore (Tom Walls)
Mary Beth Hurt (Schwester Constance)
Marc Anthony (Noel)