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Der
Brief des Kosmonauten
Künstlich
und überkorrekt: das Spielfilmdebüt von Vladimir Torbica
Der
Vater meint es ja nur gut, und das hört sich dann so an: „Wir Russlanddeutsche
müssen uns besonders anstrengen. Sonst kommt man nie zu etwas." Gottfried
Wormsbecher (Oliver Bäßler) ist soeben mit seiner Familie von Sibirien
nach Deutschland eingewandert und hat ein klares Bild von Integration und Familienleben.
Untertänigste Freundlichkeit gegenüber Vorgesetzten und Behörden
sind der Weg zur ersehnten Schrebergartenparzelle; auf dem Heimweg zur neuen
Hochhauswohnung werden die dunkelhäutigen Bewohner des nahen Asylbewerberheims
mit einem kurzen „Pack!" bedacht. Man spricht deutsch, erst recht in der
Familie, was dem 10-jährigen Sohn Heinrich (Frederick Lau) leichter fällt
als seiner Mutter Olga (Katja Medvedeva), die nach getaner Hausarbeit in der
kleinen Küche verzweifelt (und von Gottfried kontrolliert) Vokabeln und
Grammatik paukt.
Das
sieht nicht gut aus. Deutschland – in diesem Falle München – ist grau,
kalt, verregnet, zugebaut, etwas gefährlich, auf jeden Fall abweisend und
also ungefähr der kompletteste Gegensatz zu den lebendigen, warmen Anfangsbildern
aus der sibirischen Steppe. Vater Wormsbecher aber lebt genau hier seinen Traum,
der für uns mit allen Mitteln als verkrampftes Spießerglück
gekennzeichnet wird, während seine Frau sich nach gar nichts zu sehnen
scheint. Heinrich schließlich bildet den größten Traum- und
Fremdkörper der Familie, weil er inmitten all der räumlichen und ideellen
Enge von einem Leben als Astronaut träumt. Sein Ziel heißt Cape Canaveral,
und genau dorthin macht er sich nach einem Streit mit seinem Vater auf den Weg.
So
wird Heinrich das Zentrum in Vladimir Torbicas Drehbuch- und Regiedebüt
Der
Brief des Kosmonauten.
Als Gegensatz zum Vater, doppelt fremd in der neuen Welt, die weder wirklich
neu ist noch zu seinem eigenen Traum gehört, ist er als Filmfigur mehr
noch als alle anderen mit Bedeutung aufgeladen. Ein rothaariger, unschuldig
begeisterungsfähiger Lichtblick und Mitleidsträger, ein bunter Träumer
in einer entfärbten Realität, die er im Dialog mit seiner Spielzeugfigur,
einem Plastikastronauten, durchstreift. Dieser Heinrich ist nichts geringeres
als „das Kind" – und neben den strikten Vorstellungen des Vaters wirkt
damit eine zweite Macht, die ihn einengt, ihm Raum nimmt und aus der es diesmal
keinen Ausbruch gibt. „Für mein erstes eigenes Projekt als Autor und Regisseur",
erklärt Vladimir Torbica, „wählte ich ein Thema, das mit dem Kindesalter
verknüpft ist. Ein Debüt ist eine Art Kindesalter für einen Kunstschaffenden,
das Kind sehe ich gewissermaßen als eine Art Tor zur Welt."
So
ziemlich alles in diesem Film ist ein Tor zu einem Begriff, zu einer Bedeutung,
die immer schon mehr sein muss als die Figuren und ihre Geschichte. Jedes Ereignis
fügt sich in den großen Plan, eine durchschimmernde Skizze. Natürlich
trifft Heinrich schon in seiner ersten Ausreißer-Nacht auf andere Flüchtlinge,
auf „illegale" Russen, die natürlich ebenfalls von Lebensträumen
getrieben sind: Sergej (Vsevolod Tsurilo) will Action-Star in Hollywood werden,
Jurij (Walera Kanischtscheff) zur Fremdenlegion und Ruslan (Luc Piyes) in den
USA eine Karriere als Musiker starten. Natürlich haben sie in eben jener
Schrebergartensiedlung vorläufige Zuflucht gefunden, von der Heinrichs
Vater träumt. Und natürlich hat der einfühlsamste von ihnen,
der Musiker Ruslan, einen Großvater, der Kosmonaut gewesen ist.
Komplett
wird die hermetische und in ihrer Durchsichtigkeit durchaus langweilige Konstruktion
ausgesuchter Metaphern durch eine Sprache, die noch künstlicher ist als
alles andere in dieser Träumer-Parabel. Mit amtlich russischem Akzent wird
von den Beteiligten ein derart perfektes Schulbuchdeutsch hingelegt, dass kein
„Äh", keinerlei Fehlerchen und kein noch so kurzes Füllwort das
hölzerne Drehbuchzitieren zu stören wagen. „Das war so eine günstige
Gelegenheit, Vater. Du weißt doch, was für mich wichtig ist",
rechtfertigt der kleine Heinrich den Kauf seiner Astronautenpuppe, und Ruslan
sehnt sich beim Mundharmonikablues poetisch nach „Mutter, Vater, Schwester und
der unendlichen Weite der kasachischen Steppe". Selbst Heinrichs Mutter
droht perfekt: „Wenn du die Hand gegen ihn erhebst, verlasse ich dich!"
Letztlich
hat Vater Wormsbecher also doch nicht ganz Unrecht gehabt. In Vladimir Torbicas
Inszenierung jedenfalls müssen sich die Russlanddeutschen zumindest sprachlich
in der Tat „besonders anstrengen". Ob er nun nicht mehr mitkommen dürfe
nach Amerika, fragt Heinrich am Ende seinen Ruslan, als sich die Lage und das
Verhältnis der Flüchtenden zuspitzt. Korrekte Antwort: „Unter diesen
Umständen ist es nahezu unmöglich."
Jan
Distelmeyer
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
Der
Brief des Kosmonauten
BRD
2002. R und B: Vladimir Torbica. P: Markus Zimmer. K:
Andreas Höfer. Sch:
Peter Przygodda. M: Vladimir Genin. T:
Marc Parisotto. A:
Heidi Lüdi. Ko:
Gabiele Schreiner. Pg:
Clasart/First Movie. V:
Concorde. L: 97 Min. FBW: wertvoll. Da: Luk Piyes (Ruslan Karimov), Frederick
Lau (Heinrich Wormsbecher), Oliver Bäßler (Gottfried), Katja Medvedeva
(Olga), Vsevolod Tsurito (Sergej), Walera Kanischtscheff (Jurij), Eduard Kuular
(Dschengis), Ulrike Bliefert (Kommissarin). Start:
22.8.2003 (D).
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