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Breakfast
on Pluto
C.R.A.Z.Y.
Singende, klingende
Queerness
Normal sein, aber zu den eigenen Bedingungen: So
verschieden Jean-Marc Vallées Film "C.R.A.Z.Y." und "Breakfast
on Pluto" von Neil Jordan sind, sie vermessen das gleiche Gelände:
das Zusammenspiel von Pop-Sozialisation und sexueller Identität
Wie dürfen wir uns eine amtliche Teenager-Rebellion
in den Siebzigerjahren vorstellen? Einen entfesselten Protest, der all die im
elterlichen Weltbild verankerten Disziplinar-und Normierungsinstitutionen aus
den Angeln hebt? Der fünfzehnjährige Zac Beaulieu weiß sich
zu helfen: Er geht in die Kirche und macht dort die Hölle los – natürlich
mit den Rolling Stones. In der Weihnachtsmesse spielt sich vor seinem geistigen
Auge ein blasphemisches Spektakel ab: Während die Gemeinde langsam in das
lustvolle Voodoo-Geheul von "Sympathy for the Devil" einstimmt, beginnt
Zac sich schwerelos in die Lüfte zu erheben, bis er in Christus-Pose über
der enthusiastischen Crowd schwebt. Und Marc-André Grondin, der Zac spielt,
ist wirklich ein sexy devil mit seinen dunklen intensiven Augen und dem diabolisch-verführerischen
Grinsen des jungen Johnny Rotten. Ein richtiger Rockstar. Einige Jahre später
wird Johnny Rotten in derselben Pose als Poster in Zacs Jugendzimmer hängen.
In pophistorischen Maßstäben war es nur ein kleiner Schritt von den
Stones über David Bowie bis zu den Sex Pistols. In der Biografie eines
Teenagers jedoch kann diese Ahnengalerie der Devianz eine ganze Welt bedeuten.
Der franco-kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée
bringt mit seinem Film "C.R.A.Z.Y." das seltene Kunststück fertig,
eine Familienchronik anhand ihrer musikalischen Sozialisation zu vermessen.
Die Beaulieus sind eine ganz normale Arbeiterfamilie in den Suburbs von Quebec.
Vater Gervais malocht auf dem Bau, Mutter Laurianne treibt die Familie jeden
Sonntag in die Kirche, ihre fünf Söhne sind ein gesunder Querschnitt
durch die Unwegsamkeiten der Adoleszenz: die Leseratte Christian, Raymond der
Rebell, die Sportskanone Antoine, das Sensibelchen Zac und Nesthäkchen
Yvan, der schon in jungen Jahren zur Fettsucht neigt (das Akronym ihrer Namen
ergibt den Titel von Vallées Film). Gervais ist im Großen und Ganzen
ein cooler Papa; seine einzige Sorge besteht darin, die Jungs zu richtigen Männern
zu erziehen. Dass Zac schon im Alter von sechs Jahren einen Puppenwagen seinem
Tischhockeyspiel vorzieht, bereitet ihm schlaflose Nächte. Als er Zac eines
Tages im Hausmantel der Mutter erwischt, kommt das für ihn einer Kriegserklärung
gleich.
Vallée beschreibt in "C.R.A.Z.Y."
die Zäsuren, Übergänge und Veränderungen im Leben Zacs anhand
eines schmissigen Mixtapes aus Songs, die man heute getrost, manchmal auch wider
besseres Wissen (denn natürlich ist gute Musik immer zeitlos) als Oldies
bezeichnen könnte. Pop fungiert in "C.R.A.Z.Y." als eine Form
der Abgrenzung. Doch diese ist niemals absolut, sie kann die immanenten Bedeutungszusammenhänge
nie ganz auslöschen. Erinnerungen, Emotionen und Verletzungen sind tief
in die Songs der Kindheit eingesunken, darum berührt die Musik von Patsy
Cline und Charles Aznavour, den Vater Gervais bei Familienzusammenkünften
als Karaoke-Crooner stets zum Besten gibt, Zac genauso tief wie sein eigener
Soundtrack aus David Bowie und Pink Floyd – nur anders eben. Die musikalischen
Reize verhalten sich komplementär, als Ergänzungen desselben peinigenden
Gefühlszustands.
Da ist einerseits der Schmerz, den die Ablehnung
des Vaters auslöst; andererseits das Ringen mit der eigenen Homosexualität,
diesem unartikulierbaren Gefühl zwischen Selbsthass und Sehnsucht nach
Selbstverwirklichung. Während die Musik des Vaters, meist im Kreise der
Familie gespielt, Zac auf die repressiven familiären Strukturen zurückwirft,
wirkt der flächige, offene, asexuelle (und darum, zumindest im Falle Bowies,
gerade auch wieder hypersexualisierte) Space-Pop der Siebzigerjahre auf Zac
als ein utopischer Gegenentwurf.
Die Zusammenhänge von Siebzigerjahre-Biografie,
dem klingenden Register popmusikalischer Sozialisationserfahrungen und sexueller
Identität untersucht auch ein anderer Film auf sehr eingängige Weise,
der diese Woche in den deutschen Kinos startet. Neil Jordans "Breakfast
on Pluto" erzählt die abenteuerliche Odyssee von Patrick "Kitten"
Braden, einer verträumten irischen Dragqueen (hinreißend gespielt
von Cillian Murphy), durch ein doomiges Siebzigerjahre-London zwischen IRA-Terror
und Glamrock. Im Gegensatz zu "C.R.A.Z.Y." wirkt Jordans Film eher
wie ein musikalisches Poesiealbum, aber auch in Kittens Geschichte rühren
die Songs an einer traumatischen Erfahrung – und wieder ist es der (symbolische)
Verlust eines Elternteils, in diesem Fall der Mutter. Die hat Patrick als Baby
auf der Türschwelle des örtlichen Pfarrhauses zurückgelassen
– pikanterweise in der Obhut des Vaters, wie Kitten schließlich herausfinden
wird.
Zwar enden die Gemeinsamkeiten von "C.R.A.Z.Y."
und "Breakfast on Pluto" hier auch schon wieder, Parallelen sind aber
trotzdem nicht von der Hand zu weisen. Beide Filme versuchen etwas ganz Ähnliches,
nur in der Wahl ihrer Mittel unterscheiden sie sich gravierend. Schon musikalisch
trennen Zac und Kitten Welten. In Zacs Post-Hippie-Sozialisation ist bereits
der Keim zum New Wave und Punk angelegt. Kitten hingegen hat eine mitunter schwer
erträgliche Vorliebe für Pubrock (Slade), Bubblegum Pop (The Rubettes,
Middle of the Road) und amerikanische Schnulzen (Harry Nilsson, Albert Hammond).
Sehr schön ist hieran zu beobachten, welch unterschiedliche
Rollen Musik in "C.R.A.Z.Y." und "Breakfast on Pluto" –
und damit im Leben ihrer Figuren – einnimmt. Bei Zac als selbst versichernde
Instanz, eine bewusste Entscheidung für einen Sound und somit auch als
Eintritt in einen ganz bestimmten, mit ebendiesem Sound assoziierten Lebenszusammenhang.
Dagegen fungiert die Musik in "Breakfast on Pluto" eher als nostalgische
Klangtapete, ein recht willkürliches, emotional dennoch stark aufgeladenes
musikalisches Potpourri aus Gassenhauern, wie sie Anfang der Siebziger im Radio
täglich zu hören waren.
Gemeinsam ist beiden Soundtracks, dass sie starke
Bindungen an einen Ort und eine bestimmte Zeit wachrufen, darüber hinaus
aber auch Sehnsüchte und Hoffnungen ihrer Figuren artikulieren. Musik markiert
sowohl bei Vallée als auch Jordan immer wieder den Übergang von
der Realität in Fantasiewelten. Ein Ventil, den Fährnissen des Lebens
zumindest für einen kurzen Augenblick zu entkommen. "Songs",
sagt Kitten, "sind bloß Songs, solange man nicht an sie glaubt."
Damit erfüllen Vallées wie Jordans Film nicht zuletzt ein entscheidendes,
unter eingefleischten Adorniten bekanntermaßen als ultrareaktionär
verschrienes, nichtsdestotrotz aber auch ungemein befriedigendes Kriterium von
guter Popmusik als temporärem Glücksversprechen.
Was aber hat es im Kino mit diesem Glücksversprechen
auf sich, und warum ist dieses Konzept so unglaublich satisfaktionsfähig?
In zwei Wochen zum Beispiel können wir Do It Yourself-Filmemacher Jonathan
Caouette dabei beobachten, wie er in seinem Debüt "Tarnation"
über einen unendlich melancholischen Lieblingslied/Indierock-Soundtrack
die Geschichte seiner zerrütteten Kindheit erzählt. Caouettes therapeutisches
Prinzip von alten Familienfilmen und mit persönlichen Erinnerungen besetzten
Songs trifft im Kern auch die Sache von "C.R.A.Z.Y." und "Breakfast
on Pluto". Die traumatische Erfahrung, das vergebliche Streben nach der
Wiederherstellung früherer Zustände findet Trost im Gefestigten, Altbekannten.
Der tröstliche Sound umschließt die Versehrungen wie ein heilsamer
Kokon.
Man darf das bloß nicht mit Eskapismus verwechseln.
"C.R.A.Z.Y." und "Breakfast on Pluto" verschließen
sich rigoros dem Nick Hornby-Prinzip vom Soundtrack-zum-Leben-als-vertontes-Tagebuch
oder den abstrakten Erlebnis- /Erfahrungsmustern des Typus "Sammler",
der jedem abgespeicherten Sound/Song ein Gefühl und einen konkreten Lebensabschnitt
zuweisen kann. Gerade "Breakfast on Pluto" ist dermaßen der
Realität entrückt, dass man Jordans Film besser gar nicht mit profanen
Erklärungsmodellen behelligen sollte. Diese Entgrenztheit dient Kitten
als positives Lebensmodell. Seine Sexualität stellt für ihn, im Unterschied
zu Zac, kein Hemmnis dar.
Cillian Murphy sagt, er habe großen Wert darauf
gelegt, Kitten nicht effeminiert, sondern feminin zu spielen. Kitten blüht
erst in seinen Rollenspielen richtig auf, umstandslos kann er seine Identitäten
wechseln: unschuldiges Mädchen, glamouröse Prinzessin, Vamp oder Lady
im konservativen Chic. Durch diese Wandlungsfähigkeit wird er, ganz im
Gegensatz zum Musikgeschmack, zur eindeutig progressiveren Figur. Aber auch
musikalisch bleibt "Breakfast for Pluto" ambivalent. Kittens kitschiger
Soundtrack hat zwar durchaus etwas Queeres, ist aber nicht per se "schwul"
konnotiert.
Überhaupt scheint seine irische Herkunft ein
weit größeres Problem darzustellen als Kittens Vorliebe für
hautenge Polyesterpullover, Fellkragen und mit Glitzerapplikationen versehene
Blusen (wir befinden uns aber schließlich auch im London der Siebziger
und nicht in der gottverdammten kanadischen Suburbia). "Breakfast on Pluto"
geht es wie "C.R.A.Z.Y." weniger darum, Sexualität an sich als
vielmehr die individuellen Lebenszusammenhänge zu problematisieren, in
denen sexuelle Identitäten eine mehr ("C.R.A.Z.Y.") oder weniger
("Breakfast on Pluto") tragende Rolle spielen. Das schlägt sich
notwendigerweise auch in der Wahl des Soundtracks nieder. Der einzige explizit
schwule Song in "C.R.A.Z.Y." ist eine Disconummer, zu der Zac in einer
israelischen Disco abkotzt, bevor es ihn in einer zu Buñuels Heiligenfigur
Simon verkehrten Bewegung vom Nachtclub hinaus in die Wüste treibt. Hier
wird auch er Erleuchtung finden.
Vallée und Jordan zeigen, dass es tatsächlich
möglich ist, einen Zustand von Normalität zu den eigenen Bedingungen
herzustellen. Das muss auch Zac irgendwann erkennen. "Ich will doch nur
so sein wie alle anderen auch", gesteht er als Fünfzehnjähriger
einer Wunderheilerin. "Gott sei Dank," entgegnet die, "bist du es nicht."
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz
Zu „Breakfast on Pluto“ und "C.R.A.Z.Y."
gibt’s im archiv der filmzentrale weitere Texte
C.R.A.Z.Y.
– Verrücktes Leben
Kanada 2005 – Originaltitel: C.R.A.Z.Y. – Regie: Jean-Marc Vallée – Darsteller: Michel Côté, Marc-André Grondin, Danielle Proulx, Émile Vallée, Maxime Tremblay, Pierre-Luc Brillant, Alex Gravel – Prädikat: besonders wertvoll – FSK: ab 12 – Länge: 127 min. – Start: 25.5.2006
Breakfast
on Pluto
Irland/Großbritannien 2005. R: Neil Jordan. B:
Neil Jordan, Patrick McCabe (nach dem Roman von Patrick McCabe). P: Alan Moloney, Neil Jordan, Stephen Wooley. K: Declan
Quinn. Sch: Tony Lawson. M: Anna Jordan. T: Brendan Deasy. A: Tom Conroy, Michael
Higgins. Ko: Eimer Ni Mhaoldomhnaigh. Sp: Kevin Byrne, Tom Debenham.
Pg: Sony/Paghe/Parallel/Number 9. V: Sony. L: 135 Min. Da: Cillian Murphy (Patrick
„Kitten“ Braden), Liam Neeson (Vater Bernard), Stephen Rea (Bertie), Brendan
Gleeson (JohnJoe), Ruth Negga (Charlie), Eva Birthistle (Eily Bergin), Liam
Cunningham (Mosher), Gavin Friday (Billy Rock), Bryan Ferry (Mr. Silky String).
Dt. Start: 25.5.06
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