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Boulevard der Dämmerung
Niemand hätte einen solchen Film erwartet, meinte Billy Wilder, einen Film aus Hollywood über Hollywood.
»Und es ist sehr schwer, in Hollywood einen Film über Hollywood zu machen. Weil sie dich wirklich unter die Lupe
nehmen« (1). Und so waren auch die Reaktionen aus dem Paradies bzw. der Hölle: Während einer
Testvorführung fluchte Studio-Boss Mayer: »Diesen Billy Wilder sollte man nach Deutschland zurückschicken! Er
beißt die Hand, die ihn füttert!« Als Wilder das hörte, antwortete er: »Ich bin Mr. Wilder und warum ficken sie sich
nicht selbst?!« (2) Anfangs hatte Marshman die Idee einer Liebesgeschichte zwischen einem Stummfilmstar und
einem Drehbuchautor. Mary Pickford und Mae West lehnten es ab, die weibliche Hauptrolle zu spielen. Dann
begeisterte sich Wilder für Gloria Swanson, die wirklich ein Stummfilmstar gewesen war, bei Erich Stroheim einen
Film gemacht hatte und die in Ausschnitten dieses Stummfilms, der nie veröffentlicht worden war, im Film zu sehen
ist.
Mit Bracketts und Wilders Ideen wurde »Sunset Boulevard« zu einem Drama über das Ende der Stummfilm-Ära.
»Das war das Ende von Norma Desmond. Und es war immer da, direkt vor ihnen – sie sahen es kommen, dieses
›Ding‹: Ton« (3).
Joe Gillis (William Holden) ist ein besessener Hollywood-Autor, dem jedoch kein Glück beschieden ist.
Verschuldet befindet er sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern und kommt zufällig an der ruinösen Villa am
Sunset Boulevard 10086 vorbei, in dem die alternde Stummfilm-Diva Norma Desmond (Gloria Swanson) lebt und
vergeblich an einem Comeback arbeitet. Jetzt sieht sie eine Chance, Gillis für einen neuen Erfolg zu benutzen. Er
soll das von ihr geschriebene Drehbuch »Salomé« überarbeiten. Gillis ist wenig überzeugt von dem Stück und hält
nichts von Stummfilmen, deren Zeit längst vorbei ist, willigt aber dennoch ein, weil er sich möglicherweise durch
diese Arbeit von seinen Gläubigern befreien kann.
Normas Butler Max von Mayerling (Erich von Stroheim), früher ihr Regisseur und Ehemann, muss für Gillis ein
Zimmer herrichten; Norma will ihn Tag und Nacht in ihrer Nähe haben, setzt ihm einen alten Stummfilm von ihr
nach dem anderen vor die Nase. Gillis lässt das über sich ergehen, immer in Gedanken an das Geld. Doch als sich
Norma auch noch in ihn verliebt, naht unweigerlich eine Katastrophe, zumal sich Gillis in eine junge Frau verliebt
hat, die ihm die Kraft gibt, wieder eigene Drehbücher zu schreiben …
Der Film beginnt mit einer Szene, die brachialer nicht sein kann, und zwar sowohl in bezug auf die frühen 50er
Jahre, als auch im Hinblick auf Hollywood: Gillis treibt tot im Swimmingpool von Norma und beginnt aus dem Off,
seine Geschichte zu erzählen. Und diese Geschichte, erzählt mit zynischer Offenheit und extrem kritischer Sicht
auf die Paramount und alle anderen Produktionsfirmen, hat es in sich. »Sunset Boulevard« ist im strengen Sinne
Wilders einziges Melodram, aber keines der honigtriefenden, selbstverliebten oder gar selbstmitleidigen Art, wie
man sie aus den 50er Jahren kennt. Der Film ist ein erschütterndes Drama und Dokument über die Brutalität des
Erfolgszwangs in der Schmiede der Filmkunst.
Eine in sich selbst verliebte, in ihre Vergangenheit eingeschnürte, weil von der Filmindustrie fallen gelassene
Diva kämpft einen völlig aussichtslosen Kampf gegen den: Ton. Der Ton ist für Norma die Ankündigung des
Todes, des Verfalls; sie gibt sich der Illusion hin, den Ton zum Schweigen zu bringen. (Ironie des Schicksals:
»Sunset Boulevard« drehte Wilder in einer Zeit, als in Hollywood selbst die Ängste langsam aber sicher aufkamen,
der Kinofilm könne vom Fernsehen verdrängt werden.) In diesen tragischen Kampf gerät jemand, der aus anderen
Gründen zum ausgestoßenen Opfer des Erfolgszwangs wurde, aber noch immer glaubt, durch Abrackern, gute
Ideen usw. dem Versagen als Drehbuchautor zu entkommen: Gillis.
Wilder erinnert auch durch das Auftreten anderer Stummfilmstars, etwa Buster Keaton oder von Stroheims mit
dessen nie vollendetem Stummfilm »Queen Kelly« mit Gloria Swanson an die Geschichte des Verhängnisses vieler
Ex-Stars. Mit den Mitteln der Stummfilm-eigenen melodramatischen Zuspitzung und der Nüchternheit eines
Regisseurs, der die Szene aus eigenen Erfahrungen kennt, insbesondere was seinen eigenen Kampf nach der
Emigration in die USA angeht, hält Wilder der Filmindustrie und allem und jedem, der um sie herum schwirrt, den
Spiegel vor Augen – ohne Skrupel, ohne Scheu, ohne Gnade. Er zeigt aber nicht nur die Brutalität eines Geschäfts,
sondern ebenso die Verwischung von Wirklichkeit und Phantasie und ihren Folgen in einer Industrie, die sich dem
Zauber des Films verschrieben hat, aber die menschlichen Schicksale und Nöte darüber oft vergisst oder
verdrängt.
Hollywood reagierte auf den ersten Blick erstaunlich. Der Film erhielt elf Oscar-Nominierungen und letztlich drei
Oscars. Vielleicht hoffte man dadurch, Wilder den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vielleicht.
Wie muss so manchen damaligen Filmproduzenten der Anblick Holdens, im Swimmingpool liegend, mit weit
offenen Augen, dem Zuschauer direkt in die Augen »sehend«, schockiert haben; und dann erzählt er als Toter
auch noch die Geschichte seines Lebens. Am Schluss des Films schließt sich der Reigen: Norma, die mit Gillis ihre
vermeintlich letzte Hoffnung getötet hat, steigt ein letztes Mal die Treppe ihres Hauses herunter, hält die filmenden
Journalisten für Kameraleute, denkt, sie wäre am Set. Der Filmname Norma Desmond ist zum bleibenden Symbol
der Schattenseiten Hollywoods geworden.
In gewisser Weise ist »Sunset Boulevard« Wilders wichtigster Film. Wilder rechnet mit denen ab, nein, nicht von
denen er lebt, denn er lebt vom Publikum, von der Öffentlichkeit und vor allem von seinen Ideen, seinem
Einfallsreichtum, seinen Schauspielern –, sondern mit denen, die manchmal oder öfter über Leichen gehen, von
denen sie gelebt haben. Vielleicht war der Film für Wilder ein notwendiger Schritt, um danach alles andere machen
zu können, was er gemacht hat, eine Art Klarstellung gegenüber Hollywood, gegenüber dem Publikum, auch
gegenüber sich selbst und seiner eigenen Erfahrungen als junger Drehbuchautor.
Ein großartiger, bissiger, ironischer, dramatischer Film.
Ulrich Behrens
(1) Cameron Crowe: Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?, München und Zürich 2000, S. 28.
(2) Zit. n. Crowe, S. 339.
(3) Crowe, S. 106.
Dieser Text ist zuerst erschienen bei CIAO.de
Boulevard der Dämmerung
[Sunset Boulevard] USA 1950
Laufzeit: 110 Min.
Drehbuch: Charles Brackett, Billy Wilder, D. M. Marshman jr.
Regie: Billy Wilder
Darsteller: William Holden, Gloria Swanson, Erich von Stroheim, Nancy Olson, Fred Clark, Lloyd Gough, Jack Webb, Cecil B.
DeMille, Hedda Hopper, Buster Keaton, Anna Q. Nilsson, H.B Warner
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