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Böse Zellen
"Ich glaub, der Mensch
ist so
gemacht, dass er den andern
Menschen braucht, doch …
hat er nie gelernt, wie man
zusammen ist."
(Petra von Kant in
Fassbinders "Die bitteren
Tränen der Petra von Kant", 1972)
Der berühmte Schmetterling,
dessen Flügelschlag an einem Ort der Welt an einem anderen eine Katastrophe
auslöst, mag für Barbara Alberts "Böse Zellen" den
symbolträchtigen Ausgangspunkt der Geschichte gegeben haben. Die lapidare
Behauptung, dass alles mit allem zusammenhängt, ebenso. Doch letztlich
ist "Böse Zellen" ein Film, der ein soziales Netzwerk an einem
Ort in Österreich fein aufdröselt, ein Film, der sich mit gescheiterten
Beziehungen befasst und mit der Unfähigkeit, dem Unvermögen, gute
Beziehungen aufzubauen.
Das mag für manchen zunächst
einmal danach klingen, der Film liefere etwas ab, was man schon Dutzende Male
gesehen habe. Aber dem ist keineswegs so. Barbara Albert, die vor allem durch
ihren Film "Nordrand" – zu Recht – bekannt wurde, nimmt Bezug auf
das oben wiedergegebene Zitat aus Rainer Werner Fassbinders "Die bitteren
Tränen der Petra von Kant" (1972). Und letzendlich befasst sich "Böse
Zellen" – wenn auch auf ganz andere Weise – mit dem selben Themenkomplex wie
Fassbinders Film bzw. viele seiner Filme.
Der Film entfaltet – ausgehend
von einer Person – das komplexe soziale Netzwerk einer Stadt. Die junge Manu
(Kathrin Resetarits) überlebt als einzige einen Flugzeugabsturz nach ihrem
Urlaub in Brasilien. Sechs Jahre später – Manu ist inzwischen mit Andreas
(Georg Friedrich) verheiratet, der ein Kino managt, und hat eine kleine Tochter
namens Yvonne (Deborah Ten Brink) – fährt sie mit ihrer besten Freundin
Andrea (Ursula Strauss), die Kindergärtnerin in dem Hort ist, in den Yvonne
geht, in eine Diskothek. Während Andrea wegen eines Mannes dort bleibt,
fährt Manu allein nachts zurück – und wird getötet, als ein ihr
entgegenkommendes Auto in ihren Wagen hinein rast. Der Fahrer des Wagens, der
junge Kai (Dominik Hartel), bleibt unverletzt, aber seine Freundin Gabi (Nicole
Skala) ist querschnittsgelähmt und will Kai, dem sie die Schuld an dem
Unfall gibt, nicht mehr sehen.
Yvonne und Manus Schwester Gerlinde
(Marion Mitterhammer) glauben nicht, dass Manu endgültig verschwunden ist.
Sie lebe in der Unendlichkeit weiter. Gerlinde ist eine Frau, die sich außerhalb
aller Regeln zu stellen scheint. Sie rebelliert innerlich gegen die Konsumgesellschaft,
lebt bei einem wesentlichen älteren beinamputierten Mann. Weil sie bei
ihm wohnen darf, darf er regelmäßig mit ihr schlafen.
Manus Bruder Lukas (Rupert L.
Lehofer) ist Lehrer und fasziniert von Chaostheorie, schwarzen Löchern
und anderen physikalischen Theorien. In einer Parfümerie stößt
er auf die Verkäuferin Sandra (Bellinda Akwa-Asare), zu der er sich hingezogen
fühlt, ohne dass er in der Lage wäre, ihr das zu sagen. Sandra lebt
bei ihrer Mutter Belinda (Gabriela Schmoll) und geht zur Therapie. Sie nimmt
an einer Familienaufstellung teil, weil sie den Verlust ihres aus Afrika stammenden
Vaters verarbeiten will. Doch das hat nur mäßigen Erfolg. Ihre Mutter
vertreibt sich die Zeit mit Rubbellosen, Schlankheitskuren und billigen TV-Sendungen.
Sie ist verliebt in einen Polizisten, dessen Dienststelle direkt gegenüber
von ihrer Wohnung liegt. Als sie ihn eines Tages anspricht, weist der sie deutlich
zurück, woraufhin Belinda sich vor einen Zug wirft. Sie überlebt,
verliert aber ein Bein bei diesem Selbstmordversuch.
Währenddessen ist Kai verzweifelt,
weil Gabi ihm nicht verzeihen kann und will. Er nimmt mit der von anderen gemiedenen
Mitschülerin Patricia (Désirée Ourada) Kontakt auf, die ihre
Eltern durch Selbstmord verloren hat, an Übersinnliches glaubt und Séancen
veranstaltet und sich nur dadurch einen gewissen Respekt vor ihren Mitschülern
verschaffen kann.
Und Andrea? Sie verliebt sich
in Andreas, und auch Andreas scheint Interesse an ihr zu haben. Doch die Trauer
um Manu, sagt er, zwinge ihn dazu, vorerst eine Pause in beider Beziehung einzulegen.
Als Andrea daraufhin mit seinem Bruder Reini (Martin Brambach) schläft
und wenig später schwanger wird, ohne zu wissen, von welchem der beiden
Männer das Kind gezeugt wurde, trennt sich Andreas von ihr.
Ganz am Schluss treffen sich alle
wieder, als das neue Einkaufszentrum eröffnet wird.
•
I N S Z E N I E R U N G •
Indem Barbara Albert auf diese
Weise die Beziehungen und Bindungen nach und nach zu einem komplexen sozialen
Netz entfaltet, entsteht ein dichtes Bild einer Gemeinschaft, in der fast alle
diese Bindungen letztendlich scheitern. Dabei wirkt der Film anfangs chaotisch
inszeniert. Aber dieser Eindruck täuscht. Albert zieht "nur"
die Fäden, die notwendig sind, um dieses Bild zu einem Ganzen zu weben.
Dabei kontrastiert sie diese Beziehungen – innerhalb der vier Jahreszeiten quasi
als Kapitel – zum einen mit dem Aufbau des Kinos durch Andreas und der Errichtung
des Konsumtempels, zum anderen mit der immer im Raum stehenden geisterhaften
Anwesenheit der toten Manu, von der ihre Tochter glaubt, sie lebe in der Unendlichkeit
weiter, und mit den Totenbeschwörungen Patricias.
Betrachtet man die einzelnen Beziehungen
der Akteure, so bemerkt man die Unfähigkeit, diese zu lebendigen Beziehungen
werden zu lassen. Fast alle Personen sind gefangen, zum einen in ihren aus der
Vergangenheit herrührenden Problemen – wie Patricia, deren Totenbeschwörungen
mit dem Selbstmord ihrer Eltern zusammenhängen, oder wie Sandra, die keine
Möglichkeit findet, die Leerstelle, die der Tod ihres Vaters geschaffen
hat, zu füllen. Andere sind durch Schuldgefühle oder Schuldvorwürfe
gelähmt – wie Gabi, die Kai auch nach langer Zeit nicht verzeihen kann,
oder Andrea, die wegen ihres "Fehltritts" mit Reini von Andreas zurückgewiesen
wird.
"Böse Zellen" ist
allerdings kein moralisierender Film, er psychologisiert nicht, im Gegenteil.
Barbara Albert dokumentiert vor allem. Sie zeigt ihre Figuren, aber sie beurteilt
sie nicht. Das dichte Bild, das dabei entsteht, lässt deutlich werden,
wie wenig die Akteure in einer von Konsum und Geld, medialer Überformung
und Fremdbestimmung gezeichneten Welt gelernt haben, miteinander in einer Weise
zu kommunizieren, die es ihnen ermöglichen würde, von Zuneigung geprägte
Beziehungen miteinander einzugehen. An Andrea lässt sich dies im Film besonders
gut sehen. Sie, die Andreas wirklich liebt und in ihrer Situation nichts weniger
nötig hätte als bedingungslose Zuwendung, wird barsch zurückgewiesen.
Als sie dann doch mit Andreas und Yvonne eine neue Kleinfamilie bildet, verbleibt
beider Beziehung sozusagen in einem formalen Gestrüpp hängen, d.h.
ohne wirkliche innere Bindung hier, subjektives Eigenhaben dort. Nur die Erinnerung
an Manu "rettet" sie vor dem Selbstmord in einer eisigen Gegend.
Auch Lukas ist so ein Fall von
gebrochener Subjektivität. Er ist unfähig, Sandra seine Zuneigung
zu zeigen. Er lebt in seiner Welt der Chaostheorie, einer Ersatzwelt wie Belindas
Konsumwelt.
"Böse Zellen" ist
jedoch keine dieser Tragödien um der Tragik willen. Am Ende finden sich
Kai und Patricia, ein Funken Hoffnung in diesem Gestrüpp von Unfertigem,
Halbem und Unausgegorenem. Und Yvonne, die kleine Yvonne, sitzt bei strömendem
Regen an einer Pfütze und beobachtet – als sei es ein Rückblick auf
die Geschichte -, wie die Tropfen Strukturen bilden, wieder zerstören und
neue bilden. Was wird das Leben für sie, die immer alles beobachtet hat,
was um sie herum geschah, von der man nicht weiß, was sie in ihrem Herzen
und ihrem Kopf daraus "gemacht" hat, was wird das Leben für sie
bringen: Katastrophen? Unfertiges? Glück? Gelungenes? Der Anfang für
Yvonne – und hier spätestens löst sich der Film von dem scheinbar
Schicksalhaften – ist zugleich die Möglichkeit, über etwas hinauszugehen,
über sich selbst und über die nur scheinbar völlige Abhängigkeit
von einer Welt, die uns etwas aufzwingen will, was als quasi naturhaft verkauft
wird.
Und in dieser Hinsicht erscheint
das Unvermögen der Akteure, das Nicht-Gelernte, fast als Strukturelement
einer Welt, die auf alles "Wert" legt – nur nicht auf gelungene Beziehungen
in jeder Hinsicht. Wenn Erich Fromm einmal formulierte: "Liebst du ihn
(sie), weil du ihn (sie) brauchst, oder brauchst du ihn (sie), weil du ihn (sie)
liebst?", so bekommt dieser Satz aus einer psychologischen Theorie und
Praxis eine über den einzelnen hinausgehende Bedeutung in einer Welt, in
der das "Brauchen" Priorität beansprucht und Liebe zu einer Art
Funktion des Gebrauchens verkommt. Das Übernatürliche bekommt hier
eine Art Sinn, der für die einzelnen Akteure notwendig wird, um samt ihrer
Subjektivität nicht unterzugehen. Hier liegt der besondere Wert des Films
von Barbara Albert.
• D V D •
Sprache: Deutsch
(Dolby Digital 2.0 Surround)
Untertitel:
Englisch, Französisch
Bildformat:
16:9, 1.85:1
Dolby, Surround
Sound, PAL
DVD Erscheinungstermin:
21. Februar 2005
Die von absolut
medien und arte-tv editierte DVD lässt bezüglich Ton- und Bildqualität
nichts zu wünschen übrig. Die DVD enthält zusätzlich ein
Making of, den obligatorischen Trailer, eine Biografie der Regisseurin sowie
ein Interview mit ihr und Fotos.
Wertung: 10
von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Ulrich Behrens
Dieser Text
ist zuerst erschienen in:
Böse Zellen
Österreich, Deutschland, Schweiz 2003, 120 Minuten
Regie: Barbara Albert
Drehbuch: Barbara Albert
Kamera: Martin Gschlacht
Schnitt: Monika Willi
Produktionsdesign: Katharina Wöppermann
Darsteller: Kathrin Resetarits (Manu), Ursula Strauss (Andrea),
Georg Friedrich (Andreas), Marion Mitterhammer (Gerlinde), Martin Brambach (Reini),
Rupert L. Lehofer (Lukas), Bellinda Akwa-Asare (Sandra), Gabriela Schmoll (Belinda),
Désirée Ourada (Patricia), Dominik Hartel (Kai), Nicole Skala
(Gabi), Deborah Ten Brink (Yvonne)
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