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Blindsight
Fraglos bleibt die „Integration von Behinderten“
auch im Westen ein nicht durchweg eingelöstes Versprechen. Dennoch spottet
es jeder Beschreibung, welche Missachtung und Feindseligkeit blinden Kindern
gerade in Tibet entgegenschlägt. Dort herrscht die Überzeugung, dass
Blinde von Dämonen besessen seien oder dass sie aufgrund von Untaten in
einem früheren Leben ihr Augenlicht eingebüßt haben. Und ausgerechnet
aufgrund der erhöhten UV-Strahlung im Himalaya ist die Zahl der an Augenleiden
Erkrankten dort besonders hoch. Aus den genannten gesellschaftlich-religiösen
Gründen verwundert es nicht, dass der Aufbau eines Blindenzentrums in Tibet
eine besondere Herausforderung darstellt. Gemeistert hat die Aufgabe eine Frau,
die selbst blind ist: Die 37-jährige Deutsche Sabriye Tenberken ist nach
drei Buchveröffentlichungen und Talkshow-Auftritten einem breiten Publikum
bekannt geworden. Im Herbst 2004 brach sie zusammen mit dem blinden Extrem-Bergsteiger
Erik Weihenmayer und einer Sechsergruppe blinder tibetischer Teenager zu einem
spektakulären Abenteuer auf – der Besteigung des Lhakpa Ri, eines 7045
Meter hohen Nebengipfels des Mount Everest. Weihenmayer brachte zu diesem Zweck
ein Team aus den USA mit, das für jeden blinden Jugendlichen einen ausgebildeten
Begleiter bereitstellte; außerdem gehörte ein Arzt zur Mannschaft.
Die britische Filmemacherin Lucy Walker hat die Mühen
der Vorbereitung und die Licht- und Schattenseiten des Aufstiegs dokumentiert.
„Blindsight“ ist aber kein reiner Bergsteigerfilm, sondern liefert eindringliche
Porträts der sechs eigentlichen Protagonisten – der zur Rekordtat aufbrechenden
Schüler aus Tibet. In den Selbstauskünften und in Interviews mit Verwandten,
mit denen Lucy Walker die Chronologie des Aufstiegs immer wieder unterbricht,
wird deutlich, mit welchen sozialen Barrieren die Jugendlichen Tag für
Tag zu kämpfen haben. So besucht die 18-jährige Internatsschülerin
Kyila ihren Vater und ihre Zwillingsbrüder, wobei alle drei ebenfalls blind
sind. „Meine Tante findet, es wäre besser, wenn ich tot wäre“, erzählt
Kyila. Zwei Mitschüler werden in Lhasa von einer Passantin beschimpft:
„Ihr verdient es, die Leiche eures Vaters zu essen!“ Angesichts der Widrigkeiten
dieses Alltags kann einem das Vorhaben, gemeinsam einen Siebentausender zu bezwingen,
wohl mitunter wie eine Klassenfahrt vorkommen. Eine Illusion, die Lucy Walker
keinesfalls bestärkt, denn das Unternehmen erweist sich als Kampf – mit
den klimatischen Bedingungen, dem knapper werdenden Sauerstoff, den schwindenden
Kräften der Teilnehmer. Potenziert wird all das, keine Frage, noch durch
ihr Blindsein.
Trotz des Themas vermeidet es Lucy Walker, ihr Publikum
durch Überwältigung zu entmündigen. Bis zum Ende des Films hört
man nicht auf, das Für und Wider des „Experiments“ gegeneinander abzuwägen.
Sind die Risiken nicht doch unübersehbar? Auch Tenberken pokerte hoch;
ihr war bewusst, dass ein Gebirgsunfall das Fortbestehen ihres Lebenswerks,
des Projekts „Braille without Borders“, gefährden konnte. Auch wenn der
ausdrückliche Wunsch ihrer zwischen 15 und 19 Jahre alten Schüler
den Ausschlag gab, die Expedition überhaupt zu wagen, wird auch dem Zuschauer
Höhenmeter um Höhenmeter zunehmend mulmig. Wenn der 19-jährige
Tashi in der dünnen Luft an körperliche Grenzen gerät oder die
beiden Mädchen Kyila und Sonam Bhumtso auf 6555 Meter ernsthaft krank werden,
wird spürbar, wie eng Förderung und Überforderung in diesem erzieherischen
Extremfall beieinander liegen. Lucy Walker unterschlägt weder die Spannungen
unter den Betreuern noch einen Weinkrampf Sabriye Tenberkens, die auf halber
Strecke dann doch an Sinn und Zweck der Gratwanderung zu zweifeln beginnt. Während
eines Streits darum, ob es ratsam sei, wirklich jeden Jugendlichen die Last
des 30-Kilo-Rucksacks schleppen zu lassen, verdeckt ein erboster Bergführer
das Objektiv der Videokamera mit der Hand. Der Film zieht die zwischen Hochgefühl
und Niedergeschlagenheit schwankende emotionale Gemengelage in der Gruppe „atemberaubenden“
Bildern vor (die den dazwischen montierten Archivaufnahmen aus Weihenmayers
Bergsteigerkarriere vorbehalten sind). Lucy Walker – die stattdessen auf eine
besonders reiche Tonspur mit tibetischen Klängen setzt – verkauft die Expedition
eben nicht als glatte Aufsteigergeschichte von Unterprivilegierten, sondern
beschreibt einen Lernprozess, der in der Erkenntnis mündet, dass man nicht
unbedingt am Gipfel angelangt sein muss, um doch irgendwie Berge versetzt zu
haben. Der Abbruch der Expedition als Akt der Solidarität mit drei gesundheitlich
angeschlagenen Jugendlichen, die vorzeitig absteigen mussten, wird auch vom
Zuschauer als Erleichterung erlebt. Unweit des Gipfels macht die Restgruppe
allerdings ein neues „Ziel“ ausfindig – Sabriye Tenberken und die Kinder ertasten
das gefrorene Labyrinth eines „Eispalastes“. Die noch wichtigere Erfahrung wird
schon früher vom Expeditionsleiter Weihenmayer formuliert: Der erste blinde
Mount-Everest-Bezwinger überrascht mit dem Bekenntnis, dass ihm die Berge
nie das Gefühl von Freiheit gegeben hätten, sondern ihn stets an seine
Schwächen erinnert hätten. Das Erleben von Grenzen macht das Menschsein
aus, diese Lehre ziehen auch die sechs Jugendlichen aus ihrem Abenteuer. Und
weil Lucy Walkers Film sich so dicht an ihrem Erleben orientiert, bereichern
die Erfahrungen der Blinden auch den Filmzuschauer.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Blindsight
USA
/ Großbritannien 2006 – Regie: Lucy Walker – Darsteller: (Mitwirkende)
Sabriye Tenberken, Erik Weihenmayer, Sonam Bhumtso, Gyenshen, Dachung, Kyila,
Tenzin, Tashi – FSK: ab 6 – Länge: 104 min. – Start: 10.1.2008
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