Der Blick des Odysseus
Auf der Suche nach drei Rollen unentwickelten Filmmaterials der Brüder
Manakis von 1905 – möglicherweise der erste griechische Film überhaupt –
kehrt ein amerikanischer Filmregisseur griechischer Abstammung in seine
Heimat zurück, von wo aus ihn die Spur der Geschichte auf den im Umbruch
der Wendezeit befindlichen Balkan führt. Die kryptische Namensgebung des
Protagonisten “A.” steht für Angelopoulos – wie wir annehmen müssen (vgl.
unten) – und verleiht der Figur des Regisseurs autobiographische Züge.
“Es ist eine private Reise”, wie er gleich bei der Ankunft in
Griechenland betont. Eine Odyssee in die eigene Vergangenheit, bei der
die Trennlinien zwischen Erinnerungen, Träumen und Erfahrungen zusehends
verschwimmen.
Man braucht schon einen langen Atem, um dem ruhigen, langsamen Rhythmus
dieses Drei-Stunden-Werks folgen zu können. Gegenüber der hohen, von der
sekundengenauen Kalkulation des Fernsehens beeinflußten Schnittfrequenz
des Mainstream-Kinos ist man die geduldige Dramaturgie eines Théo
Angelopoulos nicht mehr gewohnt: Ausladende Parallelfahrten, mehrere
Minuten lange Einstellungen und Plansequenzen. Eine davon dauert über
zehn Minuten und umfaßt fünf Jahre. Während einer einzigen Sylvesterfeier
erlebt der Regisseur retrospektiv die Erschütterungen, die seine Familie
in der Nachkriegszeit erfuhr. Die Kamera folgt ihm, als er das Haus
betritt und seine längst verblichenen Familienmitglieder noch einmal
begrüßt. Schließlich ist sie nach einer kreisförmigen Fahrt durch die
angrenzenden Zimmer wieder an der Stelle im Foyer angelangt, von der aus
sie den Rest der Feier beobachten wird. Das alles wird von Angelopoulos
wie auf einer Bühne inszeniert: Der Vater kehrt nach Kriegsende aus dem
befreiten Konzentrationslager zurück, ein Onkel wird als Kollaborateur
verhaftet (1948), der Besitz der Familie wird vom sozialistischen
Volkskomitee beschlagnahmt (1950). Über diesen Zwischenfällen halten
Klaviermusik und Gesang der Sylvesterfeier an. Im Rhythmus des
Tanzschrittes wird der Onkel durch zwei Beamte aus der Familie gerissen.
Erst als auch das Klavier beschlagnahmt fortgetragen wird, verstummt die
Musik. Da ist A bereits nach links aus dem Bild getanzt und kommt erst
wieder zurück – jetzt als Kind – als sich die Familie zu einem letzten
Foto versammelt. Die Kamera fährt auf das Gesicht des Jungen zu, bis mit
dem Geräusch einer Bootspfeife auf den Regisseur geschnitten wird, der im
Hotelzimmer erwacht. Diese Sequenz ist dramaturgisch so in den Ablauf des
Films eingefügt, daß sie sich erst spät als Traum oder Erinnerung
offenbart. Der Sprung in die Vergangenheit vollzieht sich übergangslos in
einer Einstellung, in der A im Zug seiner Schwester begegnet und mit ihr
in ein altmodisches, von Flüchtlingen und Soldaten des II. Weltkrieges
überfülltes Abteil wechselt. Diese Minuten sind die dynamischsten dieses fast meditativen, unspektakulären
Films.
Es mag kaum verwundern, gerade hier mit Erland Josephson einen
Bergman-Schauspieler wiederzusehen. Und Harvey Keitel gelingt es, seine
Rolle auch über mehrere Stunden hinweg zu tragen. Diese Figur ruht so
unverrückbar in sich selbst wie viele seiner Rollen der letzten Jahre.
Wie die demontierte Lenin-Statue, mit der er auf einem Transportschiff
einen Teil seines Weges teilt, ist der Regisseur ein aus seinen Wurzeln
gerissener, mit der Vergangenheit verhafteter Heimatloser zwischen den
Zeiten.
Beim Münchner Filmfest `95 erläuterte Angelopulos die Namensgebung
seines Protagonisten: “Warum ‘A’? Das ist sowohl eine alphabetische, wie
auch eine autobiographische Wahl. Jeder Filmemacher kann sich an den
ersten Augenblick erinnern, in dem er durch den Sucher einer Kamera
blickte. Dieser Moment bedeutet nicht so sehr die Entdeckung des Films,
sondern vielmehr die Entdeckung der Welt. Später irgendwann kommt dann
der Augenblick, in dem der Filmemacher an seiner Fähigkeit, die Dinge zu
sehen, zu zweifeln beginnt und er nicht länger weiß, ob sein Blick die
Welt noch richtig und unschuldig erfaßt.”
Johann Georg Mannsperger
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Der Blick des Odysseus FRA/GR/ITA 1995
R: Théo Angelopoulos D: Harvey Keitel, Maia Morgenstern