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Die
Blechtrommel
An
was soll man wachsen?
Die
Kaschuben, sagt Großmutter Anna Koljaiczek (Berta Drews), müssen
immer den Kopf hinhalten, damit andere draufhauen können, nur halb Polen,
nur halb Deutsche, eben nichts Richtiges seien die Kaschuben.
Ihr
ganzes Leben saß sie auf dem Feld und erntete Kartoffeln. Der Joseph Koljaiczek
(Roland Teubner) flüchtete 1899 vor der Polizei über die Kartoffeläcker,
und sicherlich hätten sie ihn gefasst, wenn Anna nicht da gesessen und
unter ihren weiten Röcken versteckt hätte. So wollten es der Zufall
und die Polizei, dass Oskar (David Bennent) auf die Welt kam, weil seine Mutter
Agnes (Angela Winkler) geboren wurde, weil der Koljaiczek sich unter dem Rock
der Anna (nicht nur) versteckte, weil die Polizei ihn suchte, weil er etwas
ausgefressen zu haben schien, wovon heute und damals niemand nichts mehr weiß
…
…
und weil die Agnes, die eigentlich ihren Cousin, Oskars polnischen Onkel Jan
Bronski (Daniel Olbrychski), liebte, dann aber doch 1923 den groben und einfältigen
Kolonialwarenhändler Alfred Matzerath (Mario Adorf) heiratete, weil der
Oskar sehr wahrscheinlich eben das Kind des Jan Bronski war. 1924 schrie Oskar
und erblickte das Licht in Form einer blendenden Glühbirne. Und eigentlich
wollte er lieber wieder zurück in die Wärme des Bauches seiner Mutter,
aber das ging nicht mehr.
Da
wehrt sich einer gegen seine Geburt, und nur das Versprechen seiner Mutter,
dass er zu seinem dritten Geburtstag eine Trommel bekommen soll, hält ihn
über Wasser und am Leben in einer Welt, in die er nicht hinein wollte.
Was
ist er denn? Das uneheliche Kind eines sympathischen polnischen Kerls und einer
hübschen kaschubischen Mutter und der Sohn eines grobschlächtigen
angeheirateten Vaters aus dem Rheinland. Ein Kind des Betruges und der Lüge.
Und an seinem dritten Geburtstag 1927 stürzt er sich von der Treppe in
den Keller, erleidet eine Gehirnerschütterung und beschließt, fortan
nicht mehr zu wachsen.
Da
rebelliert einer gegen Familie, Staat, Vaterland, Kirche und Ideologie, eine
kindliche Rebellion, zugleich aber dennoch eine symbolisch erhöhte, eine,
die für etwas steht, die einen Standpunkt einnimmt, der kaum von tiefem
Verständnis geprägt ist, dafür umso mehr von emotionaler Abwehr,
gepaart mit der Fähigkeit, sich selbst zu entziehen, indem man nicht mehr
wächst, um ein bisschen die Verhältnisse tanzen zu lassen. Denn Oskar
ist in der Lage, durch intensives Schreien Glas zu zerbrechen. Ebenso ein Kommentar,
oder eher eine Fülle von warnenden Anmerkungen, zugleich Ausdruck der Hilflosigkeit
gegenüber den Verhältnissen, dem Jahrhundert des Völkermords
und seinen Voraussetzungen, und auch der Versuch, in dieser Welt zu existieren,
bestehen zu können, ohne verrückt zu werden. Im 1959 erschienenen
Roman von Günter Grass wird Oskar verrückt und erzählt seine
Geschichte als 30jähriger in der Irrenanstalt.
Doch
das ist nur eine Nuance, gerade noch einmal mit dem Verstand davon zu kommen
oder ihn zu verlieren, eine Wanderung durch ein Jahrhundert, auf einem Grat,
von dem aus rechts der Tod und links der Verrat, die Lüge und der Betrug
lauern.
Oskar
trifft auf die Protagonisten des Jahrhunderts, auf den jüdischen Spielzeugverkäufer
Markus (Charles Aznavour), der immer eine neue Trommel für ihn hat, wenn
seine ein Loch hat, und der seine Mutter verehrt, der in Danzig den Geruch der
Vernichtung ahnt und sich durch Selbstmord dem, was da kommt, entzieht. Oskar
trifft auf die Korridor-Nazis und ihren Führer Loebsack (Ernst Jacobi),
deren Reih-und-Glied-Aufmarsch er in Anwesenheit seines Vaters, der sich auf
die Seite der vermeintlichen Sieger der Geschichte gestellt hat, und des Obst-
und Gemüsehändlers Greff (Heinz Bennent), der ewig deutsche Lieder
singend die Katastrophe stramm mit einläutet, mit Hilfe seiner Trommel
in eine Tanzveranstaltung umwandelt, indem er die Musiker und Sänger aus
dem verordneten Takt bringt, bis sie An der schönen blauen Donau singen
und dazu tanzen. Der einsetzende Regen erledigt den Rest der Veranstaltung.
Er
trifft nach einer Zirkusveranstaltung auf den Liliputaner Bebra (Fritz Hakl),
der ihm heftig widerspricht, als Oskar meint, er rechne sich zu den Zuschauern,
der seine Fähigkeiten im Verborgenen halte und nur ab und zu seine Kommentare
abgebe. Bebra hat erkannt, dass die siegen werden, die die Tribüne bevölkern
können im Zirkus und anderswo.
Und
Oskar kommentiert, etwa als seine Mutter wie jeden Donnerstag Bronski aufsucht
und Oskar vom Kirchturm aus ganze Fensterreihen zum Einsturz bringt. Oder wenn
er in der Kirche die Jesusfigur ohrfeigt, weil sie nicht in der Lage ist zu
trommeln, wo Jesus doch sonst alles vermag, wie es heißt.
Das
Grobschlächtige, das Un-Feine, das Unüberlegte, das Nicht-Hinterfragte,
das, was die Begierde, die Lust am Leben, die Phantasie in ein Korsett pfercht,
zurecht stutzt, so dass sie katalogisiert werden, jederzeit abrufbar als Instrumente
des organisierten Wahnsinns dieses Grobe, dieses bis ins Detail organisierte
Emotionale stößt auf den Widerstand Oskars. Hitler ist konzentriertes
Sexualobjekt ohne Sexualität; die Lust am Morden ersetzt die Lust an der
Lust.
Als
die Familie an der See weilt, kauft Matzerath von einem Mann, der Aale aus dem
angespülten Pferdekopf zieht, einige der Leckerbissen, während Agnes
angesichts dieses Vorgangs kotzen muss. Alfred will Agnes zu Hause zwingen,
diese Aale in Grün zu essen. Sie wehrt sich anfangs, doch dann stopft sie
die Tiere in sich hinein. Später, als sie von Bronski schwanger ist, stopft
sie Sardinen und andere Fische in sich hinein und kotzt sie wieder aus bis
sie an einer Fischvergiftung stirbt.
Oskar
erkennt die Lüge, die seine Mutter umgibt (die heimliche, aber jedem bekannte
Beziehung zu Bronski), aber Oskar erkennt erst spät die Ursache für
die Lüge, das mit Lügen, Verrat und Betrug voll gestopfte Jahrhundert,
in dem diese Verhaltensweisen zur Staatsideologie erhoben und damit verfälscht,
weil instrumentalisiert wurden. Er nimmt sogar an, dass er seine Mutter ins
Grab getrommelt hat und dass er für den Tod Bronskis verantwortlich ist,
weil er seinen Onkel nicht aus der polnischen Post herausgeholt hat, als diese
von deutschen Soldaten am 1.9.1939 beschossen wird und Bronski mit anderen überlebenden
Polen an die Wand gestellt wird.
Das
Absurde jedoch, das sich in Oskar verkörpert, ist nur ein ver-rückter
Kommentar zu einem der Humanität entrückten Jahrhundert. Als Matzerath
die junge Maria (Katharina Thalbach) als Gehilfin für seinen Laden einstellt,
entdeckt Oskar die Lust und das Weibliche. Maria lässt ihn eines Nachts
gewähren. Doch auch Matzerath schläft mit Maria, die kurz darauf schwanger
wird. Oskar, inzwischen 16, glaubt, dass er der Vater des Kindes ist. Und er
sieht, dass er gegen Matzerath keine Chance hat, Maria für sich zu haben.
Er schließt sich Bebra an, der inzwischen in Uniform steckt und für
die Deutschen in Metz mit seiner Truppe auftritt. Oskar wird zum Front-Clown,
verliebt sich in die Liliputanerin Roswitha (Mariella Oliveri), die jedoch bei
einem Angriff der Amerikaner getötet wird.
Immer
deutlicher wird der Unterschied zwischen dem individuellen Betrug und der individuellen
Lüge, die z.B. seine Mutter und Bronski beherrschten, und dem organisierten
Betrug und der organisierten Lüge, die zur Familien- und Staatsideologie
geworden sind (und schon lange vor 1933 existent waren). Während Agnes
und Bronski sich durch die Lüge eine Nische der Lust und des Glücks
verschaffen wollten, wird durch die Heirat Matzeraths und Marias die Lust in
die Schranken der Institution verwiesen, kanalisiert und letztlich ausgetrieben.
Oskar reagiert mit Flucht nach vorne. Er begibt sich in eine pervertierte Situation:
Die Auftritte der Zirkusclowns sind verrückte Zeichen von Bebras vormaliger
Äußerung, dass, wer die Tribüne bevölkere, die Macht habe.
Nun tritt Bebra auf dieser Tribüne auf; selbst die Clowns sind Teil der
Tribüne geworden, die allerdings nicht sie, sondern andere beherrschen.
Ihre Kommentare verpuffen als harmlose Bruchstücke des Front-Entertainments.
Was
Die Blechtrommel aber ebenso verdeutlicht, sind Parallele und Differenz zwischen
der unaufhaltsamen Vernichtung von individueller Lust und kollektiv organisierter
und zurechtgestutzter Lust im Auftrag des völkermordenden Staates. Der
pädophil veranlagte Greff hängt sich auf. Für ihn ist der Widerspruch
zwischen seiner sexuellen Neigung, die er eigentlich ausleben will, und seiner
Funktion als Leiter eines (asexuellen) NS-Knabenbundes auf Dauer nicht erträglich.
Denn der Gewinn, den der Staat verspricht, besteht nicht in der Erfüllung
seiner Neigungen, sondern in ihrer Unterdrückung.
Matzerath
wird beim Versuch, seine NS-Anstecknadel zu verschlucken, woraufhin er in Panik
(Erstickungsgefahr) gerät, von nervösen russischen Soldaten erschossen.
Der Zufall will es, dass er bei Kriegsende seine Schulden mit dem Tod bezahlt.
Oskar drückte ihm die Nadel in die Hand, um Läuse zu vertreiben.
Die
Witwe Greffs wird von russischen Soldaten vergewaltigt. Ihre unerfüllten
sexuellen Begierden schließlich schlief ihr Mann nicht mit ihr, und
Oskars einmaliger Beischlaf war nur ein Tropfen auf den heißen Stein
erfahren eine Perversion durch den Lauf der Geschichte, wie sie schlimmer kaum
ausfallen könnte.
Während
sich die originäre Lust nur eine Weile ungestört durch die politischen
Ereignisse austoben kann, tobt die staatlich organisierte Lust am Morden zwölf
Jahre lang. In der Rache der Sieger und im Wüten der Sieger gegen einzelne
aber pervertiert sich nicht der Sieg als Ganzes, sondern das Verbrechen des
Tausendjährigen Reiches wird bitter bezahlt und es hätte schlimmer
kommen können. Der Verlust von Heimat ist wohl das Bitterste für viele;
Großmutter Anna bleibt. Sie kennt nur die Kartoffeläcker ihrer Heimat
und die will sie nicht verlassen. Grass Roman und auch Schlöndorffs Film
ist auch ein kaum verstecktes Plädoyer gegen den Revanchismus, der kaum
war der Krieg zu Ende schon seine Blüten trieb und bis heute treibt.
Als
Oskar die Trommel ins Grab seines Vaters wirft und beschließt, wieder
zu wachsen, trifft ihn ein Stein seines Bruders Kurt am Kopf und er stürzt
in das Grab. Oskar überlebt. Oskar überlebt und wächst auf
den Trümmern und Leichen seines Jahrhunderts. Oskar zieht gen Westen, er
wird wachsen. An was er wachsen wird, lassen Roman wie Film offen. Dass er wächst
und wachsen will, bedeutet zumindest auch, dass er soweit man das sein kann
erwachsen geworden ist. Er stellt sich einer Welt, der er sich zuvor verweigert
hat, einer Welt nach der Vernichtung. (Im Film bleibt offen, was im Roman letztlich
geschieht: Oskar wächst nur ein bisschen, und als er nach dem Vorwurf,
eine Krankenschwester ermordet zu haben, in die Irrenanstalt eingeliefert wird,
schreibt er seine Geschichte auf.)
Dass
die allenthalben sich durch den Film ziehende Symbolik von Schlöndorff
nicht in allzu enger Anlehnung an die Dichte der Grassschen Erzählung
geknüpft wird, tut dem Film gut. Schlöndorff arbeitet chronologisch
und lässt Verfremdung und Symbolik in etlichen Szenen genug Raum. Gerade
die Besetzung der Rolle des Oskar mit dem damals 12jährigen David Bennent
lässt der Absurdität genug Spielraum gegenüber der Brutalität
des Geschehens.
DVD
Sprache:
Deutsch (Mono)
Untertitel:
Deutsch
Bildformat:
4:3
Dolby,
Surround Sound, PAL
Erst
2001 veröffentlichte Kinowelt eine unter immensen Problemen mit dem Ausgangs-Filmmaterial
produzierte DVD mit dem Film. Das BILD zeigt kaum Verunreinigungen oder andere
Schäden, auch die Farben lassen sich sehen, wobei allerdings die Schärfe
des Bildes eher durchschnittlich und der Kontrast eher unterdurchschnittlich
zu bezeichnen sind. Während Toneffekte und Musik recht gut gelungen sind,
lässt der TON bezüglich der Dialoge zu wünschen übrig. Die
sechskanalige Abmischung führt vor allem durch die pegelschwache Abmischung
des Centers zu Problemen, so dass die Dialoge oft nur schwer zu verstehen sind.
Der
Audiokommentar und eine ca. zwanzig Minuten lange Dokumentation tragen dazu
bei, das Verständnis des Films zu vertiefen. Schlöndorff war nicht
nur gut vorbereitet, sondern äußerst sich auch in interessanter Weise
zu technischen Details bei der Produktion des Films und anderem. Allerdings
überschneiden sich Audiokommentar und Dokumentation in vielen Punkten,
während andererseits darauf verzichtet wurde, geschnittene Szenen in einem
Extra zu dokumentieren.
Derzeit
(15.2.05) liegt der Preis der DVD bei jpc bei 14,99 und bei amazon bei 8,99.
Wertung:
10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Wertung
DVD: 7,5 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Die
Blechtrommel
(engl.
Titel: The Tin Drum)
Deutschland
(Frankreich, Polen, Jugoslawien) 1979, 142 Minuten
Regie:
Volker Schlöndorff
Drehbuch:
Jean-Claude Carrière, Volker Schlöndorff, Günter Grass, Frank
Seitz
Musik:
Maurice Jarre
Director
of Photography: Igor Luther
Montage:
Suzanne Baron
Produktionsdesign:
Piotr, Dudzinski, Zeljko Senecic
Darsteller:
Mario Adorf (Alfred Matzerath), Angela Winkler (Agnes Matzerath), David Bennent
(Oskar Matzerath), Katharina Thalbach (Maria Matzerath), Daniel Olbrychski (Jan
Bronski), Tina Engel (die junge Anna Koljaiczek), Berta Drews (die alte Anna
Koljaiczek), Roland Teubner (Joseph Koljaiczek), Tadeusz Kunikowski (Onkel Vinzenz),
Andréa Ferréol (Lina Greff), Heinz Bennent (Greff), Otto Sander
(Meyn), Mariella Oliveri (Roswitha), Fritz Hakl (Bebra), Charles Aznavour (Sigismund
Markus), Marek Walczewski (Schugger-Leo), Ernst Jacobi (Loebsack), Henning Schlüter
(Dr. Hollatz)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0078875
©
Ulrich Behrens 2005
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