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Bis
ans Ende der Welt (Director’s Cut)
endlich auf DVD erhältlich: Der
Director’s Cut von „Bis ans Ende der Welt“
Wer das Privileg hatte, im Laufe der letzten
zehn Jahre einer Vorführungen des gut fünfstündigen (!) „Director’s
Cut“ von Wim Wenders’ „Bis ans Ende der Welt“ beizuwohnen, machte eine ebenso
exklusive wie sakrale Erfahrung. Exklusiv, weil sich die weltweiten Kopien dieses
Schnittes an einer Hand abzählen ließen. Der Film bekam somit mangels
Sichtungsmöglichkeit einen solchen Seltenheitsbonus zugesprochen, dass
man sich als Eingeweihter bei jedem Festivalsmalltalk beinahe auf Augenhöhe
mit dem Kollegen wähnte, der ein Screening von Matthew Barneys komplettem „Cremaster“-Zyklus erlebt hatte.
Sakral war das Erlebnis der in drei Segmente geteilten Schnittversion, weil
im Laufe des Filmes tatsächlich profunde Erkenntnisse im Zuschauer erwuchsen.
Zum Beispiel diese: Ein Fünfstundenfilm kann unendlich unterhaltsamer und
kurzweiliger sein als derselbe Film auf drei Stunden gekürzt. Wenders hat
die bisherige Kinofassung immer spöttisch als die „Reader’s Digest“-Version
bezeichnet, und wenn man den „Director’s Cut“ gesehen hat, kann man sich dem
nur anschließen – erstaunlich, wie wenig dieser flüssige, stimmungsvolle
Film mit dem kruden, hektischen Gewimmel der bisher bekannten Version gemein
hat.
Nun, da die Filme Wim Wenders’ anläßlich
seines 60. Geburtstags endlich die ihnen zustehenden, durchaus liebevoll und
aufwändig gestalteten DVD-Ausgaben bekommen, kann man das Großwerk
auf einmal in jedem Laden kaufen. Was zwar den Festivalsmalltalk erheblich langweiliger
macht, aber dafür einige faszinierende Stunden vor dem Fernseher verspricht.
Schließlich ist eine weitere, ebenfalls durchaus überraschende Erkenntnis,
die sich beim Anschauen dieses Films einschleicht, diese: „Bis ans Ende der
Welt“ muß tatsächlich als Wenders’ Hauptwerk gesehen werden. All
seine oft eigenwilligen Vorlieben und ästhetischen Merkmale finden sich
hier in einem riesigen Fresko vereint und stehen zur Untersuchung bereit. Wenders’
manchmal pathosüberladene Visionen sind geschmacklich nicht unumstritten,
aber es kann nicht bezweifelt werden, dass wir hier einen Meister auf der Höhe
seiner Kunst erleben dürfen.
Im Prinzip ist „Bis ans Ende der Welt“ Wenders’
privates „Kill
Bill“-Projekt. Doch wo Tarantino
sein Stil-Patchwork mit Elementen aus Western, Kung-Fu-Film, Exploitationkino
und japanischem Gangster-Streifen auffüllt, stellt Wenders eben seine eigenen
Vorlieben aus: Da gibt es mal eine halbe Stunde lang französisches Liebesdrama,
dann 10 Minuten japanische Tanz-Slapstick (komplett mit Laurel & Hardy-Choreographien,
entsprechender Musik und Verfolgungsjagden), dann wieder religiös ernsten
Katastrophenfilm, Road-Movie, Noir-Spionagekrimi, dann Wildnis-Abenteuer, dann
klassisch-deutschen Autorenfilm (Figuren zitieren Heine), dann läuft immer
wieder dieser Sam-Spade-Verschnitt durchs Bild, der nur in Reimen spricht, nebenbei
stellt man schnell die eine oder andere Vermeer-Malerei auf der Leinwand nach
und kleidet das Ganze schließlich in einen schrillen Pseudo-Futurismus
(der Film wurde 1991 gedreht und spielt 1999), der sich inzwischen zu gleichen
Teilen als erschreckend falsch herausgestellt hat (vor allem die Hutmode, traditionellerweise
die übelste Fußfalle beim Drehen eines SciFi-Films) und als erschreckend
prophetisch gesehen werden muß (Navigationssysteme, weltweite Datenvernetzung,
Chipkarten, elektronische Mautsysteme und digitale Handkameras).
Klingt chaotisch? Um es gleich vorweg zu
nehmen: Der Film machte auf 180 Minuten keinen Sinn und macht nun auf 280 Minuten
nicht viel mehr – aber er fühlt sich mit einem Mal um so viel entspannter,
selbstsicherer und schöner an, weil Wenders endlich Zeit hat, die Orte
und ihre Charaktere auszukosten, Spiele zu treiben, in Stimmungen hinein- und
hinauszuwandern. Der Film atmet wie ein guter Wein, aus der hastig zusammengeklebten
Dia-Show ist ein fließender, organischer und zutiefst sympathischer Schwenk
um die ganze Welt geworden.
Geradezu bizarr fühlt sich das globale
Konzept hinter dem Werk anfangs an. Der Film beginnt nicht umsonst mit einer
Draufsicht auf seinen Gegenstand: Die Weltkugel selbst. Über ein Jahr lang
drehte Wenders sein teuerstes Projekt auf vier Kontinenten. In den Hauptrollen
tummeln sich Franzosen, Japaner, Amerikaner, Australier, Deutsche, Schweden
und durchgeknallte Schlagzeuger. Allein im ersten 90-Minuten-Teil werden sage
und schreibe neun Sprachen gesprochen (die man sich natürlich in der wunderbarerweise
mitgelieferten Originaltonspur anhören sollte, vor allem, da einige Charaktere
mehrere Sprachen durcheinanderwerfen) und atemberaubende Landschaftspanoramen
von Südfrankreich, Sibirien und China geliefert. Dazu kommen Stadtportraits
von Paris (als graffittiübersähtem Schmelztiegel), von Venedig (als
stinkender Brühe), von Berlin (als fahrradfreundlicher Grünanlage),
von Lissabon (als menschenleerer Architekturhülle), von Moskau (als überbuchtem
Gehege für Neureiche), von Peking (als fröhlichem Armutsviertel) und
von Tokio (als vollautomatisierter Zukunftswelt). Außerdem gibt es Musik
von den üblichen Wenders-Verdächtigen: U2, R.E.M., Nick Cave, Leonard
Cohen, Talking Heads. Nicht gerade originell, das alles – aber allein in seiner
schieren Kraft und Größe gleichen die ersten anderthalb Teile dieses
Films einer einzigen, gewaltigen, nie dagewesenen Ausholbewegung, die tatsächlich
die gesamte Welt umschließt. Und das muss man erst mal miterlebt haben.
Natürlich kann kein halbwegs nachvollziehbarer
Plot eine solche Fülle an Charakteren und Schauplätzen vereinen –
also hat man einfach auf einen halbwegs nachvollziehbaren Plot verzichtet. Wenders
und sein völlig zu Recht legendärer Kameramann Robby Müller waren
eher daran interessiert, eine weltweite Suche nach Bildern zu dokumentieren,
und gütiger Himmel! was sind sie fündig geworden. Zum Beispiel diese
Sequenz: Ein Mann und eine Frau stolpern durch eine orangefarbene Wüste
in Australien, er trägt einen Hut, und sie schleppt eine Flugzeugtür,
die an ihre Hand gekettet ist. Tagelang wandert dieses skurrile Paar durch das
wunderschön verfärbte Nichts, und Wenders schwelgt zu Recht minutenlang
in dieser Situation. Oder: Zwei Männer, einer im weißen Anzug mit
weißem Hut, der andere in schwarzem Anzug und schwarzem Hut, trotten den
Abhang eines leuchtend roten Geröllberges herunter in eine Schlucht, in
der Aborigine-Frauen gerade singend eine Leiche beerdigen. Oder: Max von Sydow,
dieser große, stolze, wortkarge Mann, kniet sich gebrochen, klagend, schreiend
über ein längst verloschenen Feuer, greift in die Asche und reibt
sie sich ins Haar. Wenn man diesen Film betrachtet wie einen Kunstband, wie
ein globales Reisetagebuch eines wirklich atemberaubenden Photographen, dann
eröffnet sich hier ein geradezu unerschöpflicher Schatz aus Stimmungen,
Portraits und Panoramen.
Der neue, sanftere Rhythmus sorgt aber nicht
nur für Verlangsamung – auch die eingestreuten Beschleunigungs- und sogar
Schockmomente treffen plötzlich viel schwerer ins Mark des Zuschauers.
Wenn Claire (die wunderbare Solveig Dommartin) nach zehn dialogfreien, meditativen
Minuten Fahrt durch ein ausgestorbenes französisches Hinterland plötzlich
in einen geradezu ballistisch gefilmten Autounfall kracht, dann fühlt sich
das an, als wäre man in einer Kunstausstellung voller tranquiler Landschaftsmalereien
plötzlich mit einem Schlagstock attackiert worden. Ähnlich abrupt
kommt der Film zu einem Halt, als das vielfach aufgesplitterte Ensemble (wer
hier zu welchem Zeitpunkt wen warum verfolgt, ist nicht nur unwichtig, sondern
ändert sich auch alle paar Minuten) Australien erreicht und klar wird,
das der Filmtitel sich nicht nur auf ein geographisches, sondern auch auf ein
zeitliches Ende bezieht – als ein Nuklearsatellit in der Atmosphäre explodiert
und alle technischen Gerätschaften lahmlegt, weht sogar eine Weile lang
eine postapokalyptische Stimmung durch den Film. Nachdem die Handlung auf diese
Weise praktisch mit der größtmöglichen Gewaltanwendung endlich
zum Stillstand gekommen ist, verharrt sie dort auch – und hier setzt der vermutlich
verblüffendste Effekt der neuen Schnittfassung ein: Das Ende.
Dass ein „Director’s Cut“ gerne mal ein erweitertes oder gar alternatives Ende vorschlägt, ist nichts neues – aber diese Version hat noch ein praktisch komplett neues 90-Minuten-Segment hinten dran gehängt. Sicher wirkte der Schluss der Kinofassung etwas abrupt und beliebig, aber dass danach noch mal ein gesamter thematischer Block (wenn nicht sogar der thematische Hauptblock) folgen würde, das trifft den Zuschauer dann schon überraschend. Hier offenbart sich im Prinzip noch mal ein vollständiger, nie gesehener Film des Bildphilosophen Wenders, der sich deutlich von den vorangehenden 200 Minuten absetzt. In einer letzten, erneut herrlich kruden Wendung dreht die Handlung zur Drogenparabel, zu einem Essayfilm über die buchstäbliche Sucht nach Bildern, über den schleichenden Verlust des Inhalts und die deswegen nötige Überkompensation. Durch surreal verfärbte Traumelemente und erneut Atem beraubende Landschaftsaufnahmen fällt dieses Segment nicht weniger bildgewaltig und brillant photographiert aus als die vorangegangenen – und genau das gibt ihm eine herbe Spitze, die auf beide Seiten der Kamera und des Fernsehers deutet: Inmitten der spektakulärsten Steinformationen krümmen sich da die Hauptfiguren als lichtscheue Gestalten über ihre flimmernden Monitore, unfähig, ihrer Umgebung gewahr zu werden. Sam Neill, der in dieser Schnittfassung endlich seine Hauptrolle zurückerhält, nachdem es in der Kinoversion eher so aussah, als würde er der Handlung immer ein wenig hinterherlaufen, dominiert diesen Teil mit seiner Voice-Over-Stimme, die zugleich Erzählung, Analyse und Manifest ist. Man versteht, warum dieses Segment den Verleihern zu verkopft, zu abstrakt erschien, dabei ist es eben ein weiteres Teil im großen Fresko, ebenso notwendig und beeindruckend wie die anderen.
Die letzte Einstellung nimmt ein letztes
Mal die große Schwenkbewegung des Films auf und führt sowohl die
Handlung zirkulär an ihren Anfang zurück als auch die Reiselust der
Charaktere ad absurdum – nämlich in den Weltraum, wo man von ganz oben
noch einmal den behandelten Gegenstand des Films in Augenschein nehmen kann:
Die Erde. Sie mag ein chaotischer, verwirrender Haufen sein, aber sie ist eben
auch betörend schön.
Dieser
Text ist nur erschienen in der filmzentrale
Bis
ans Ende der Welt (Director’s Cut)
Deutschland,
Frankreich, Australien 1991
Länge:
280 Minuten
Regie:
Wim Wenders
Drehbuch:
Michael Almereyda, Peter Carey, Solveig Dommartin, Wim Wenders
Produzent:
Paulo Branco
Kamera:
Robby
Müller
Schnitt:
Peter Przygodda
Musik:
Bono ("Until the End of the World"), T-Bone Burnett ("Humans
from Earth"), Neneh Cherry ("Move With Me"), Depeche Mode, Martin
Gore, Graeme Revell, Patti Smith ("It Takes Time")
Darsteller:
Solveig Dommartin, Pietro Falcone, Enzo Turrin, Chick Ortega, Eddy Mitchell,
William Hurt, Adelle Lutz, Ernie Dingo, Jean-Charles Dumay, Sam Neill, Ernest
Berk, Christine Osterlein, Rüdiger Vogler, Diogo Dória, Fred Walsh,
Jeanne Moreau, Max von Sydow, Paul Livingston, David Byrne, Tom Waits
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