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Big Fish

Das Leben eines Philosophen hat Martin Heidegger einmal in zwei Sätzen zusammengefasst: "Er lebte, er dachte und er starb. Der Rest ist Anekdote." Zwischen den wesentlichen Verrichtungen des Menschseins sind die unvorhersehbaren Ereignisse, die kuriosen Momente und charmanten Nebensächlichkeiten, zur bloßen biografischen Staffage verkommen. Heideggers Philosoph ist wahrlich nicht zu beneiden. Was für ein trauriges Leben wäre das? Der erste Kuss, eine unvergessliche Urlaubserinnerung: alles nur Platzhalter, um die Zeit zwischen den existenziellen Bedürfnissen des Menschen zu füllen. Welche Bedeutung kommt da noch den subjektiven Ausschmückungen und haltlosen Spinnereien zu? Und zeichnet sich die Gesamtheit des Lebens rückblickend nicht gerade erst durch die wunderbare Melange aus dem Erreichten und Erträumten aus? Mürrisch betrachtet mögen die subjektiven Erinnerungen nur ein unbedeutender “Rest” sein. Ein Rest jedoch, der genau den Unterschied macht im Leben, Denken und auch im Sterben.

 

In Tim Burtons neuem Film “Big Fish” versammelt sich eine Familie um das Sterbebett des Vaters, der das Anekdotische sein Leben lang der Macht des Faktischen vorgezogen hat. Ed Bloom besitzt kaum noch die Kraft, ein Glas zum Mund zu führen, aber wenn er wieder eine seiner Geschichten zum Besten gibt, erwachen seine Lebensgeister. Seine Frau Sandra muss sie mindestens hundertmal gehört haben, aber das schelmische Blitzen in den Augen Albert Finneys, der den alten Ed spielt, ist entwaffnend. Ed muss erzählen, sich in seinen Geschichten ständig neu erfinden, damit er innerlich nicht austrocknet. Sandra hört ihm dabei zu, schüttelt hin und wieder verständnisvoll mit dem Kopf und antwortet berührend, dass sie mit ihm niemals austrocknen werde. Jeder Mensch ist Schöpfer seiner eigenen Biografie, so gut er kann. Doch Ed Bloom ist größer als das Leben. Als kleiner Junge hat er im Glasauge einer Hexe seinen eigenen Tod vorhergesehen. Und da für ihn nun auch dieses letzte große Geheimnis gelüftet war, hatte er einfach beschlossen, sein Leben in eine Legende zu verwandeln. 

 

Eine gute Portion Weltentrückheit scheint durch das gutgläubige Märchen, mit dem Ed seine Zuhörer ein halbes Jahrhundert lang amüsiert hat. In Burtons Bildern werden die unglaublichen Erzählungen Ed Blooms aber so greifbar und lebendig, als hätte sie sich ein Kind ausgedacht. “Big Fish” überwindet die Grenzen von Wunsch und Wirklichkeit mit einer schier atemberaubenden Lust an visuellen Absonderlichkeiten und detailversessenen Gimmicks. Fellinieske Zirkusnummern vermischen sich mit uralten Märchenmotiven. Bilder des “American Dream” mit Melodien aus der Südstaaten-Americana, wie Greil Marcus sie in seinem Buch “Mystery Train” beschrieben hat. Wir begegnen einem unverstandenen Riesen, einem singenden siamesischen Zwillingspaar aus Korea und einem Werwolf mit albernem Zirkushütchen. Und schließlich durchbrechen immer wieder surreale Momente diese traumhaft verflochtene Welt, wenn zum Beispiel ein Auto wie von Zauberhand in den Gipfeln eines Baumes landet. Das ist die Lebensgeschichte Ed Blooms, und Burton lässt nicht eine Sekunde des Zweifels zu, dass es sich nicht genauso zugetragen haben könnte.

 

Sein Sohn Will ist eigentlich nur aus einem Grund mit seiner schwangeren Frau Josephine von Paris nach Alabama zurückgekehrt: Er möchte endlich die Wahrheit erfahren. Die Geschichten kennt er zu Genüge. Wie der jugendliche Draufgänger Ed Bloom, gespielt von einem unverschämt unwiderstehlichen Ewan McGregor, mit gewinnendem Lächeln seine Heimatstadt Ashton verließ, weil manche Menschen einfach zu Größerem berufen sind (und man sie deswegen manchmal auch für drei Jahre in altertümliche, hydraulische Maschinen stecken muss, die das menschliche Wachstum kontrollieren). Wie er seine Frau in einem Zirkuszelt kennenlernte, und die Zeit für einen Augenblick stillstand. Und dass er Wills Geburt verpasste, als er im See mit einem riesigen Fisch kämpfte. “Du bist der Weihnachtsmann und der Osthase in einer Person,” wirft Will ihm am Ende seines Lebens vor. “Genauso beliebt und genauso erfunden.” Zwischen Vater und Sohn liegt ein fundamentales Kommunikationsproblem vor. “Ich bin mein Leben lang ich selbst gewesen,” verteidigt sich der alte Ed, “und wenn Du das immer noch nicht kapiert hast, dann ist das deine Schuld, nicht meine.”

 

Der Generationskonflikt hat sich verkehrt. In “Big Fish” sind es die Kinder, die das Sehen, Fühlen, Glauben verlernt haben; sie leben in modernen Metropolen wie Paris oder New York und haben die Verbindung zum Ort ihrer Kindheit gekappt. Doch genau dort finden Burtons Bilder ihren Ursprung. Die dampfenden Apfelkuchen und “white picket fences”, die strahlend weißen Gartenzäune der amerikanischen Vorstädte, die für den jungen Ed so etwas wie ein Zuhause verkörpern, sind in “Big Fish” wieder die Verlockungen eines guten sauberen Amerikas. Keine abgründigen Kleinstadt-Mythen mehr wie noch bei David Lynch, sondern plötzlich ganz real und ohne doppelten Boden.

 

Eine Szene ist in “Big Fish” typisch für die Unbescholtenheit von Burtons Filmwelt. Der junge Ed verlässt die asphaltierte Straße, um sich auf die Suche nach geheimnisumwitterten Orten zu begeben. Vorbei an klebrigen Farnen, springenden Spinnen und lebenden Bäumen, die mit ihren Zweigen nach ihm greifen, erwartet ihn hinter all dem widerspenstigen Gestrüpp ein kleines Utopia: Specter, der unbefleckte Ort par excellence. Weiche Wiesen, glückliche Menschen, kräftige Farben. Eine paradiesische Südstaaten-Idylle. Und ganz unwillkürlich hat man das Gefühl, diese Welt aus einem alten Disney-Spielfilm zu kennen.

 

Natürlich tragen Burtons fantastische Märchenwelten in der völligen Ignoranz ihrer realen Produktionsbedingungen leicht reaktionäre Züge – wenn auch nicht von der Sorte, die man gemeinhin mit den Filmen des Märchenonkels und überzeugten Rassisten Walt Disney verbindet. Die symmetrisch angeordneten, in satten Farben leuchtenden Vorgärten, durch die ein glänzend gescheitelter Ewan McGregor seine Reinigungskolonnen dirigiert, sind nostalgisch verklärte Erinnerungen an die Sechziger Jahre, wie die Werbung sie gezeigt hat: mehr eine Travestie des “American Dream”, mit dem Amerikaner seines Jahrgangs aufgewachsen sind. In der übertriebenen Künstlichkeit von “Big Fish” steckt auch ein gutes Stück Bewältigungsarbeit seines Regisseurs.

 

Die Fiktion lässt sich, so fantastisch sie auch scheinen mag, nicht so einfach von biografischen Erfahrungen trennen. Bei dieser Erkenntnis belässt es schließlich auch der Film. “Ein Mann erzählt so viele Geschichten,” sagt Will am Ende, und übernimmt damit doch noch die Rolle des Geschichtenerzählers, “bis er selbst diese Geschichten wird. Sie überleben ihn und machen ihn unsterblich.” Dieser ungebrochene Glaube an die Kraft der Imagination fegt philosophische Skeptizismen hinfort. Bei Burton werden selbst noch die wesentlichen Verrichtungen des Menschseins zum Anekdötchen.

 

Andreas Busche

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Die Zeit

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

Big Fish – Der Zauber, der ein Leben zur Legende macht

USA 2003 – Originaltitel: Big Fish – Regie: Tim Burton – Darsteller: Ewan McGregor, Albert Finney, Billy Crudup, Jessica Lange, Helena Bonham Carter, Alison Lohman, Robert Guillaume, Marion Cotillard, Steve Buscemi – FSK: ab 6 – Länge: 125 min. – Start: 8.4.2004

 

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