zur startseite

zum archiv

Die besten Jahre

 

 

 

 

Vier Jahrzehnte Italien

 

Ein Mammut-Projekt, realisiert fürs Fernsehen und von einem begeisterten italienischen Publikum und zig Festivalauszeichnungen ins Kino gepuscht: 40 Jahre italienische Geschichte in über sechs bzw. zwei mal drei Stunden. Ein Erfolg der Augenlust, die sich weiterhin am liebsten in dunklen Sälen befriedigen läßt – ein schönes Glück in einem Land, das wie kaum ein anderes das mit dem Fernsehen einsetzende Kinosterben als kulturelle und soziale Erschütterung erfahren hat.

 

Marco Tullio Giordanas aufwendige Chronik der römischen Familie Carati, ihrer Freunde und Lieben entwickelt einen unwiderstehlichen Sog, der über die volle Länge von "Die besten Jahre" anhält. Ein Melodram ohne grelle Effekte, aber mit einer Handlung, komplex und monumental wie eine antike Tragödie: Alles hat mit allem zu tun, Lebenswege trennen und kreuzen sich wieder. Der Witz besteht darin, daß der Film dabei so gut wie nie so aussieht, wie er sich in der Beschreibung anhört. Fast beiläufig vollziehen sich die Ereignisse; die Politik spielt nicht auf der großen Bühne, sondern im Radio. Die erzählte Zeit von 1966 bis heute wird in einzelnen Kapiteln abgeschritten, zwischen denen oft mehrere Jahre liegen, ohne daß dadurch der Erzählfluß unterbrochen scheint.

 

Ein häufiges Problem solcher Filme, wenn sie nicht für jede Dekade der Handlung die Darsteller auswechseln wollen, ist das Altern der Figuren. In "Die besten Jahre" altern sie kaum, bekommen allenfalls ein paar graue Haare. Auch die Ausstattung hält sich zurück; mit einer verschlammten Straße im Florenz nach der Flutkatastrophe 1966 scheint hier schon der Gipfel der Rekonstruktion erreicht. Immerhin muß sich Nicola Carati 1982 vor seiner Tochter rechtfertigen, ob sie denn arme Leute seien, daß sie immer noch einen VW Käfer fahren. Giordanas Film ist in einem guten Sinne Theater: Nichts lenkt von den Figuren ab. Die Präsenz des Schauspiels wird durch eine Kamera gewährleistet, die sich wie ein Begleiter der Darsteller verhält: eher "Gänge" als Fahrten. Expressivere Stilmittel wie die Umkreisung eines Liebespaares werden von der Montage so weit verknappt, daß sie nicht zum Selbstzweck werden.

 

Das alles könnte als Tarnung abgetan werden, hinter deren mühevoller Bescheidenheit sich eine rührselige Idylle mit dramatischen Einsprengseln verbirgt. Die Berufe und Werdegänge der Figuren sind tatsächlich exemplarisch wie in einem Lehrstück. Der humanistische Arzt als Menschenfreund, eine begabte Bürgerstochter, die sich den Roten Brigaden anschließt, die Richterin, die als älteste Schwester die zweite Mutter spielt und sich nach dem Mord an Falcone im Brennpunkt befindet – auf den ersten Blick ebenso simple wie geschickte Einfälle, die Familien- mit der Zeitgeschichte kurzzuschließen. Doch wiederum ist es anders, als es sich hier liest, denn zum Kurzschluß von Figur und historischem Ereignis kommt es nicht; Zeitgeschichte wird nur als Reflex in der jeweiligen Privatgeschichte sichtbar.

 

Giordana hat 1995 einen Film über den Mord an Pier Paolo Pasolini gedreht; "La meglio gioventù" (etwa: die beste Jugend) ist der Titel eines frühen Gedichtbands Pasolinis. Eine besondere Referenz erweist Giordana ihm jedoch in der Figur Matteos, Nicolas begabtem Bruder, der sich unverstanden fühlt und erst zum Militär, dann zur Polizei geht. Nach den Unruhen von 1968 hatte Pasolini für die Polizisten, nicht für die Studenten Partei ergriffen, weil sie den ausgebeuteten Unterschichten entstammten, die Studenten dagegen dem wohlsituierten Bürgertum. Es ist weder reaktionär noch ein Lob einer "Neuen Mitte" (die es in Italien nicht gibt), wenn im Zentrum Luigi Lo Cascio als überaus sympathischer Nicola, der Held der kleinen Schritte, steht: Die vitalsten Kräfte bezog der italienische Film schon immer aus dem Widerstand gegen linken wie rechten Dogmatismus.

 

Thomas Warnecke

 

Diese Rezension ist zuerst erschienen im: Schnitt

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken

 

 

 

Die besten Jahre

La meglio gioventù. I 2003. R: Marco Tullio Giordana. B: Sandro Petraglia, Stefano Rulli. K: Roberto Forza. S: Roberto Missiroli. P: RAI Fiction. D: Luigi Lo Cascio, Alessio Boni, Adriana Asti, Sonia Bergamasco u.a. 366 Min. Ventura ab 3.3.05

 

 

zur startseite

zum archiv