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Die
besten Jahre
Viele
falsche Opfer
Von
den Roten Brigaden zur Heimholung der Bürgerkinder: Marco Tullio Giordanas
Film »Die besten Jahre« ist ein Versöhnungsepos für Italien
In
John Fords Stagecoach greifen
Indianer, wie es ihre Western-Art ist, eine Postkutsche an und werden nach langer
Jagd im letzen Moment von der Kavallerie vertrieben. Warum die zornigen Krieger
nicht einfach die Pferde erschossen hätten, wurde der Regisseur gefragt,
und Ford antwortete: Weil dann der Film zu Ende gewesen wäre. Ebenso hätte
er sagen können, dass die Geschichte, die er erzählen wollte, die
äußere Wirklichkeit nur als Material benutzt.
Eine
Reihe von »Die Pferde werden nicht erschossen«-Szenen gibt es auch
in Die
besten Jahre
(La meglio gioventù) von Marco Tullio Giordana. Zum Beispiel: Die Brüder
Nicola und Matteo haben die junge Giorgia aus der psychiatrischen Anstalt befreit,
wo sie mit Elektroschocks gefoltert wurde. In einer Bar werden zwei durchschnittlich
intelligente Carabinieri auf die etwas verstörte junge Frau aufmerksam,
die, nachdem sie drei Portionen Eis gekauft hat, das Wechselgeld liegen lässt.
Statt nun zu überlegen, ob das Eis nicht für die Begleiter der jungen
Frau gedacht sein könnte, nehmen die Polizisten Giorgia mit sich und überlassen
Nicola und Matteo ihrem Schicksal. Das offensichtlich haben Indianer im alten
Westen und italienische Carabinieri der frühen sechziger Jahre miteinander
gemein: Sie verzichten darauf, durch den Einsatz tückischer Intelligenz
die Konstruktion einer inneren Geschichte zu stören. Denn hätten die
Carabinieri ein wenig nachgedacht, dann hätten sich die Wege der Brüder
nicht so dramatisch und allegorisch trennen können, wie es für Giordanas
innere Geschichte von Italien nötig war: Der eine macht seinen Weg durch
die Subkulturen, studiert Psychiatrie und heiratet eine spätere Terroristin.
Der andere geht zur Polizei und steht später im direkten Einsatz gegen
die Roten Brigaden.
Anpassung
oder Widerstand, Dableiben oder Fortgehen?
Sechs
Stunden nun, und sie werden einem wirklich nie lang, verfolgt dieses filmische
Polit-Projekt die Wege der Brüder, ihrer Freunde, ihrer Familie, ihrer
Geliebten, Ehefrauen und Widersacher und reiht dabei eine Perlenkette der historischen
Ereignisse auf: der Aufbruch der Bürgerkinder, die Öffnung der psychiatrischen
Anstalten, die Flutkatastrophe von Florenz 1966, Studentenunruhen und Straßenkämpfe,
der Terror der Roten Brigaden, Wirtschaftskrise und Massenentlassungen bei Fiat,
Korruptionsaffären und neoliberale Umgestaltung. Leitmotive bilden Fußballspiele
der italienischen Mannschaft, die Mode und die Popmusik. Darin verwoben sind
die Geschichten, die zu einer bürgerlichen Familie gehören. Reform
oder Revolte der italienischen 68er, Anpassung oder Widerstand, Dableiben oder
Fortgehen? Die Entscheidungen sind immer eine Frage des Zusammenhangs. Und doch:
Es sind Entscheidungen, mit denen sich der Einzelne immer auch zu seiner politischen
Epoche verhält.
Die
besten Jahre
ist in Italien sogleich mit Heimat von
Edgar Reitz verglichen worden. Aber Giordana »sprengt« das Format
der Fernsehserie nicht, er sucht vielmehr Kompromisse zwischen dem großen
Atem eines epischen Films und den Konventionen der eher langatmigen TV-Serie.
Da gibt es die Feste des Wiedersehens und die unwahrscheinlichsten Zufälle.
Auch vor Klischees schreckt Giordana nicht zurück. Von Norwegen bis Sizilien
verhalten sich Menschen stets genau so, wie wir es von ihnen erwarten, oft genug
mit diesem Lindenstraße-Touch
von Überdeutlichkeit in einer nationalen Typologie, wie etwa in den Figuren
der Eltern: sie der kühle Verstandesmensch aus Mailand, er der überschäumend
kindische Enthusiast aus Rom; und wie die beiden sich zanken und lieben: italianitá.
Beeindruckend
aber ist die Zärtlichkeit, mit der auch Nebenfiguren mit Leben gefüllt
werden, die Fähigkeit des Regisseurs, seinen Helden Aufmerksamkeit und
Liebe zu widmen, gleichgültig, ob sie sich im Recht oder im Irrtum befinden,
die unbekümmerte Magie mancher Auflösungen und natürlich die
Schauspieler, die allen Raum haben, ihre Rollen wirklich zu leben. In den besten
Teilen von Die
besten Jahre
hat man das Gefühl, sich an bestimmten Orten der Handlung so zu Hause zu
fühlen wie die Protagonisten, in den schlechteren sind die Pastiche-Teile
mit jener Überkonstruktion verbunden, der in der Seifenoper das Funktionieren
von »Schicksal« zugeordnet ist.
All
das hat wohl nur indirekt mit dem großen Erfolg des Films in Italien und
auch in Frankreich zu tun. Das Projekt geht über eine filmische Kontemplation
der italienischen Geschichte hinaus. Wie bei Heimat scheinen
auch hier die Mitglieder mehrerer Generationen, mehrerer Parteien, mehrerer
Kulturen und Gegenkulturen miteinander zu »sprechen«, was sie draußen
im wirklichen Leben, in der Politik wie in den Familien, nie geschafft haben.
Und sie reden da miteinander wie Menschen, die sich aussöhnen wollen in
gemeinsamer Trauer um so viel vertane Möglichkeiten, so viele falsche Opfer.
Die
besten Jahre
ist ein großer nationaler Versöhnungstraum am Leitfaden der Familie.
Das ist die Stärke und die Schwäche des Films. Es gibt offensichtlich
in diesem ganzen Geschehen nur Verantwortliche, aber keine Schuldigen. Vielleicht
deswegen werden die Geschehnisse von der Piazza Fontana von Bologna ausgeblendet,
kommt zumal in der zweiten Hälfte beinahe so etwas wie eine Denunziation
der Linken zum Vorschein – zum Teil als schreckliche Fehllektüre von Pasolinis
zorniger Polemik gegen die revoltierenden Studenten.
In
Die
besten Jahre
gibt es immer wieder einen Blick, den John Ford niemals seiner Kamera zugemutet
hätte: Nachdem wir eine Zeit lang mit dem Objektiv in die Szenen förmlich
hineingekrochen sind, schneidet Giordana auf eine Einstellung aus extremer Obersicht,
auf einen gütig-melancholischen Gottesblick – vom möglicherweise brechtischen
Mitleiden zu metaphysischem Gleichmut. Auch eine Kamera kann sehr katholisch
sein.
Wenn
aber Giorgia beinahe vierzig Jahre nach unserer ersten Begegnung in der Anstalt
kein bisschen älter geworden ist, während Nicola alle maskenbildnerischen
Zeichen eines Mannes in den Fünfzigern angenommen hat, dann geht das über
das Pferde-nicht-Erschießen hinaus. Man kann das sympathische Schlamperei
nennen, vielleicht aber auch ein Symptom. Im Wiedergewinnen der Geschichte kommt
Die
besten Jahre
die Zeit abhanden. Vielleicht muss man, wenn man sich versöhnen will, ein
bisschen lügen oder, netter gesagt, das Symbolische in der erfundenen Erinnerung
mit dem Wirklichen vermischen.
Nur
entgeht Giordana, dass man es nicht nur menschlich wärmend, sondern auch
politisch ziemlich komisch finden kann, wie im Laufe der Jahre die Protagonisten
der Revolte zu den wahren Garanten der Ordnung werden. Der neue Bürger
hat sich nach der Heimholung der Terroristin in die Familie zur mehr oder weniger
verbesserten Neuauflage der alten Gesellschaft qualifiziert.
So
einfach würde ich dieser (meiner) Generation das Ankommen in der mehr oder
weniger neuen Mitte der Gesellschaft nicht machen. Auch wenn man dann zeigen
muss, dass in der Wirklichkeit die Pferde erschossen werden.
Georg
Seeßlen
Dieser
Artikel ist zuerst erschienen in: Die Zeit
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Die
besten Jahre
La
meglio gioventù. I 2003. R: Marco Tullio Giordana. B: Sandro Petraglia,
Stefano Rulli. K: Roberto Forza. S: Roberto Missiroli. P: RAI Fiction. D: Luigi
Lo Cascio, Alessio Boni, Adriana Asti, Sonia Bergamasco u.a. 366 Min. Ventura
ab 3.3.05
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