zur
startseite
zum
archiv
Berliner
Bettwurst
Luzi und Dietmar werden durch
ein Ehe- und Einrichtungsdarlehen (in Höhe von 13 000 Mark) nach Berlin
gelockt. Sie heiraten in der Gedächtniskirche und fahren mit der weißen
Hochzeitskutsche zum Tanzcafe Resi in Neukölln, wo sie sich von Tischtelefonen
und Wasserfarbspielen faszinieren lassen. Dietmar wirft sich nach der Arbeit
(als Raumpfleger und Aktmodell) in den allerextremsten Freizeitdreß. –
Dietmar und Luzi posieren an der Mauer vor dem Todeskreuz in der Bernauerstraße
und vor leerstehenden Häusern im von Türken bevölkerten Kreuzberg.
In der konsumbewußt eingerichteten Wohnung beantworten sie Preisausschreiben.
Sie gewinnen eine Mallorcareise. Dem modern air-Jet entsteigend, bewundern sie
sogleich die rege Neubautätigkeit auf der Ferieninsel. Luzi schreibt in
der
Cafeteria Alt-Frankfurt Ansichtskarten und besteigt, im Flitterkleid mit schwarzer
Mantilla, ein Kamel. Dietmar folgt ihr im Mexikanerlook. – Wieder zu Hause,
gerät die junge Ehe in eine jähe Krise. Dietmar, im offenen Overall
mit Pelzbesatz und hochgekrempelten Hosen, wird am Schultheiss-Schnellimbiß
Opfer eines stirnbandgeschmückten Verführers (Berryt Bohlen), der
ihn dem Rauschgift zuführt. Betrunken und bekifft, folgt er dem Transvestiten
Sonja (Friedhelm) in die Sexkommune, um sich dessen Lebensgeschichte anzuhören.
Die geht von der kommunistischen Erziehung durch den Vater (»unwahrscheinlich
großer Rosa-Luxemburg-Anhänger«) über den Transistrich
in Hamburg zur Eheschließung und der Erziehung des Transvestitensohns
Mathias. – Derweil plauscht Luzi mit der Freundin (Lotte Becker) über die
ostpreußische Heimat. »Brandt und Bahr verkaufen uns für ein
Butterbrot«, empört sich die Vertriebene. Luzi läßt sich
vom Playboy (Lou van Burg) in die Luxuswelt des Showgeschäfts entführen.
In einer Glitzerdekoration singt sie mit ihm das Duett »Laß dir
die Liebe von mir schenken«. Im silbernen Anzug geht ein Geiger (Holger
Münzer) durchs Bild. Luzi erwacht allein. Ihr lieber kleiner Hund liegt
tot am Boden, vergiftet. Doch da tritt Dietmar in die Tür: »Luzi,
o Gott, o Gott, nein.« Auf dem Hundefriedhof finden sie wieder zusammen. Überm
Grab hängt ein Lorbeerkranz. Ein Heldenfriedhof.
Die Fortsetzung der kieler BETTWURST stellt Sprachmüll, Banalität,
kleinbürgerliche Verhaltensweisen aus. Praunheim inszeniert das peinlich
genau, voyeurhaft. Peinlich ist der Film für den, der sich als Voyeur vorkommt.
Grad dies ist die Absicht des Regisseurs, der in der BERLINER BETTWURST parodistisch
und moralisch-pädagogisch die Kleinbürgerlichkeit und Klischeehaftigkeit
des mutmaßlichen Zuschauers herausbringen wollte. Das ist ihm auch zu
gutem Teil gelungen. Die Reaktion auf Luzi und Dietmar ist jedoch ambivalent.
Das Lachen bleibt im Halse stecken: Luzi und Dietmar strahlen soviel Selbstsicherheit,
Stärke und Zuversicht aus, daß sich offensichtlich davon profitieren
läßt. Luzis ungehemmte Lebensfreude setzt alle Mechanismen der Kontrolle
und Reflektion außer Kraft. Die Wirkung des Films ist daher nicht voyeurhaft
und peinlich. Im Gegenteil; er vermittelt Energien für denjenigen, der
sich in seinem Getto nicht eingrenzen lassen möchte. Freilich fließt
der Stärkestrom der BERLINER BETTWURST nicht ungebremst. Der Fortsetzungsfilm
wurde nicht der erhoffte Kinoerfolg. Ursache sind wohl die Produktionsbedingungen
gewesen, die Bedingungen einer Spielfilmproduktion.
Praunheim hatte 250 000 Mark Drehbuchprämie
vom Bundesinnenministerium bekommen. Das Drehbuch bestand aus der Abschrift
von Tonbändern, auf denen Luzi und Dietmar die Story an Originalschauplätzen
improvisiert hatten. Für die Filmaufnahmen lernten sie ihre eigenen Texte
auswendig. Das allein tat der Spontaneität kaum merklichen Abbruch. Schwerer
tat sich Praunheim mit dem für ihn neuen 35mm-Format, das die Produktion
schwerfälliger und steriler machte. Gedreht hat er den Film zum Teil im
Atelier, in einer vom Abriß bedrohten Fabrik in einem Hinterhof der schöneberger
Dennewitzstraße, Frühjahr 1973. Diese Art von Produktion, erstmals
von Regina Ziegler geleitet, legte dem Team ungewohnte Zwänge auf. Das
ging bei Luzi Kryn gut, die sich freudig in den Fummel zwängte, den Praunheim
eigens in Hollywood gekauft hatte; ebenso freudig nutzte sie die Situation zum
Versuch, mit Lou van Burg ein Verhältnis einzugehen. Anders ging es mit
Dietmar Kracht, welcher, »Alkoholiker« (Praunheim), in Quarantäne
gehalten werden mußte, um seine Präsenz zu sichern: »Lieber
hat er auf Toiletten übernachtet und ist auf den Strich gegangen.«
Praunheim widerspricht Gerüchten,
die ihm die Ausbeutung des Hauptdarstellers zum Vorwurf machen. Er habe ihm
fürsorglicher-weise die 7 000 Mark Gage nicht in die Hand gegeben, sondern
jahrelang in kleinen Raten zugeteilt und ihm Wohnung und Stellung besorgt, zum
Beispiel als Dienstmädchen bei Evelyn Künneke. Hinzugefügt sei,
daß Dietmar Kracht drei Jahre später, in der Nacht zum 3. Juli 1976,
betrunken im Grunewaldsee ertrank. In der ersten Reihe der Trauergäste
saßen Praunheim und Evelyn Künneke. – Transvestit Friedhelm (Susi)
erkannte während der Dreharbeiten, daß »Rosa mich entdeckt
und mein Bewußtsein gestärkt hat«. Der Film half ihm weiter:
»Heute gibt es nicht einmal mehr Schwierigkeiten mit den Nachbarn, die
über der Coco-Bar wohnen.«
Schwierigkeiten gab es mit der
FSK, deren Zensur die Gruppensexszenen der Politkommune zum Opfer fielen. Zu
sehen sind daher auch nicht die Leninplakate, die im Orgienzimmer zur internationalen
Solidarität aufriefen. Die Fernsehfassung des Films kürzte Praunheim
von 90 auf 70 Minuten. Die Kinofassungen sollen nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung gewechselt haben. Sie halfen
der BERLINER BETTWURST jedoch nicht, den Erfolg der kieler BETTWURST zu erreichen.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1984, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
Zu diesem Film gibts im archiv mehrere Texte
BERLINER
BETTWURST
BRD
1973
Regie,
Buch: Rosa von Praunheim. – Kamera: Rosa von Praunheim, Bernd Upnmoor, Aribert
Weis. – Schnitt: Frau Kramski. – Musik: Holger Münzer. – Songs: »Berlin
erwacht«; »Laß Dir die Liebe von mir schenken«, gesungen
von Luzi Kryn und Lou van Burg. – Bauten: Günter Lüdecke. – Kostüm-Beratung:
Barbara Schilpp. – Regie-Assistenz: Rainer Crone, Michael Tauchert. – Technische
Leitung: Bernd Upnmoor. – Mitarbeit: Wolfgang Macke, Charlie Prince, Achim Paede.
– Darsteller: Luzi Kryn, Dietmar Kracht, Berryt Bohlen, Wolfgang Makke, Lotte
Becker, Claus Cristofolin, Lou van Burg, Friedhelm. – Produktion: Rosa von Praunheim
Filmproduktion. – Produktionsleitung: Regina Ziegler. – Drehzeit: Frühjahr
1973. – Drehorte: Berlin. Mallorca. – Produktionskosten: 250 000 DM. – Format:
35 mm, Farbe (Eastmancolor). – Original-Länge: 90 min; TV-Länge: 70
min, von Rosa von Praunheim erstellt. – Uraufführung: 27.6. 1973, Astor
Kurfürstendamm, Berlin. – Kinostart: 11.12. 1975. – TV: 30.12. 1975, 3.7.
1976 (WDR III/HRIII/NDRIII/RBIII/SFB III); 11.9. 1976 (HR 111). – Verleih: Filmwelt
(35 mm).
zur
startseite
zum
archiv