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Auszeit
Rückkehr
Aus.
Zeit. Der Job ist weg. Vincent (Aurélien Recoing) war Consultant. Jetzt
ist er es nur noch in der Erinnerung – in der Erinnerung an eine Arbeit, die
er eh nicht mochte, an der er, wie er sagte, nur eines liebte: die Autofahrten
zu Kunden, die „Rennen“ mit der Eisenbahn nebenan, das Fahren, dieses schier
endlose, in die Länge getriebene Fahren auf den Straßen, währenddessen
er nicht denken musste. Das Bei-Sich-Selbst-Sein, erzählt er später
dem Ganoven Jean-Michel (Serge Livrozet), das war das einzige, was er als Consultant
schätzte (eher als temporärer Nicht-Consultant). Das Auto als Behausung
für die eigenen Wünsche. Da fuhr er auch schon mal an einer Ausfahrt
vorbei, die ihn zum nächsten Kunden führen sollte.
Seiner
Frau Muriel (Karin Viard), seinen Kindern, dem pubertierenden Sohn Julien (Nicolas
Kalsch) und den beiden Nesthäkchen Alice und Félix (Marie Cantet,
Félix Cantet), und seinen Freunden erzählt Vincent nichts von der
Kündigung. Auch seinen Eltern (Jean-Pierre Mangeot, Monique Mangeot) nicht.
Vincent schämt sich. Vincent hält die Fassade aufrecht und tut so,
als wenn er noch einen Job hätte. Mehr, er wechselt sogar den Job, erzählt
Muriel, er habe vor einem Monat selbst gekündigt, um einen besser bezahlten
und interessanteren Job bei der UNO in Genf anzunehmen. Vincent konstruiert
eine Fassade, vor (!) der er seine Scham und seine Müdigkeit verbergen
kann. Er spielt, und in seinem Spiel ist er der einzige Schauspieler. Oder doch
nicht? Sind die anderen nicht auch Mimen auf einer Bühne, die sich Konvention
nennt?
Er
luchst seinem Vater 200.000 Francs ab, die er angeblich für eine Wohnung
in Genf benötigt. Er luchst seinen Freunden und Bekannten Geld ab, das
er angeblich äußerst gewinnbringend anlegen könne. Auch sein
alter, nicht gerade begüterter Freund Nono (Maxime Sassier) und dessen
Frau Jeanne (Elisabeth Joinet) wollen mit 12.000 Francs dabei sein. Wieder Scham.
Vincent will dessen Geld nicht. Nonos nicht. Und er nimmt es nur, um die Fassade
aufrechtzuerhalten.
Vincent
fährt übers Land, in die Schweiz, bastelt sich eine Tätigkeit
bei der UNO im Rahmen der Kooperation mit „Non Government Organizations“ zurecht,
telefoniert mehrmals täglich mit seiner Frau, um ihr mitzuteilen, was er
gerade tut, dass es spät wird, dass er heute gar nicht mehr nach Hause
kommen kann und so fort.
Das
Angebot seines Freundes und langjährigen Arbeitskollegen Jaffrey (Nigel
Palmer), einen lukrativen Job als Consultant bei einer anderen Firma anzunehmen,
schlägt er aus. Er will, dass Jaffrey aus seinem Leben verschwindet, ihn
in Ruhe lässt. Als Jean-Michel ihn anspricht, bröckelt die Fassade
zum ersten Mal. Jean-Michel ist Realist. Wie wolle er jemals seinen Bekannten
das viele Geld zurückzahlen? Vincent ist Jean-Michel sympathisch. Er bietet
ihm an, bei seinen Geschäften mit in Osteuropa billig produzieren Uhren,
Füllern, Hemden und ähnlichem Kram, die er in Frankreich gewinnbringend
verkauft, mitzuwirken. Vincent schlägt einen wirtschaftskriminellen Weg
ein, für kurze Zeit.
Seine
Familie, die ihn kaum noch zu sehen bekommt, liebt Vincent, auch Julien, der
rebelliert, der den Vater ablehnt. Vincent wird halb verrückt. Es zerreißt
ihn fast zwischen der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Daseins zu Hause
und seiner Schweinwelt. Aber es zerreißt ihn dann doch nicht, denn Vincent
hat einen Traum, den er träumt und den er wahrmachen will. Eher einen negativen
Traum, einen, bei dem er träumt, was er nicht will, aber nicht träumen
kann, was er statt dessen will. Das ausgeliehene Geld, die Fassade, die er den
anderen baut, die Arbeit bei Jean-Michel – all das erweist sich als Kehrseite
seines bisherigen Lebens, nicht als Perspektive eines anderen Lebens, abseits
seiner früheren Arbeit. Die Scham treibt ihm nicht die Röte ins Gesicht.
Denn die Scham ist eine aufgesetzte, eine inhalierte, eine injizierte, eine,
von der Vincent vielleicht gar nicht einmal merkt, dass sie mit den stickigen
Konventionen einer „Arbeitswelt“ zusammenhängt und aus ihr fließt,
die Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit mit einem nicht schlecht bezahlten
Job zum Makel, zum Stigma werden lässt. Es ist Vincents Vater, der ihm
dies immer wieder verständlich machen will, weil der selbst die Regeln
dieses konventionellen Daseins internalisiert hat.
Man
kann niemandem wirklich einen Vorwurf machen, Vincent nicht, seinem Vater nicht,
seiner Frau nicht … Sie alle sind bemüht, sie alle mögen sich, achten
sich, lieben sich. Nur, die Geborgenheit, in der sie aufwachsen, ist eingebettet
in Regeln, die nicht mehr hinterfragt werden.
Vincent
hängt zwischen den Konventionen und seinen Träumen, die den Rahmen
der Konvention nicht sprengen können. Nein, niemand ist mit ihm böse,
seine Frau nicht, seine Kinder nicht, selbst der pubertäre Konflikt mit
Julien ist eine konventionell vorübergehende Angelegenheit. Und auch Vincents
Vater schlägt nicht die Hände über dem Kopf zusammen, als die
Fassade zusammenbricht. Nein, die Rückkehr des verlorenen Sohnes kulminiert
in seiner Rückführung zu die offiziellen Seiten der Konvention: Der
Vater besorgt ihm einen besseren Job, als er ihn früher hatte. Nur die
Augen Vincents beim Vorstellungsgespräch sprechen Bände. Da sieht
man in die Augen eines Mannes, der kapituliert hat, der kapitulieren musste,
bedingungslos.
„Auszeit“
ist weniger (nur) ein Film über die Folgen der Arbeitslosigkeit als eine
fein sezierende Studie über die Normalität und ihre Brüche. Die
Krise veranlasst das Unterbewusstsein, das Spiel für einige Zeit zu unterbrechen.
Vincent wird erst spät bewusst, dass dies eine Unterbrechung und kein Neuanfang
ist. Er hätte ja auch weggehen können, sagt Vincent irgendwann zu
seiner Frau. Vincent ist geblieben. Der Konvention fehlt die Kraft, über
ihren eigenen Tellerrand zu schauen. Vincent fehlt die Kraft, sich seiner Frau
und seinem Vater zu offenbaren. Schwäche zu zeigen, empfindet er, ist nicht
erlaubt. Vincent ist ein Rebell. Doch seine Rebellion bewegt sich im Rahmen
der Konvention. Alles, was er tut, bezieht sich darauf, nicht auf anderes. Wie
auch? Wie sollte er anders?
Aurélien
Recoing leistet überzeugende Schwerstarbeit als Vincent, begleitet von
Schauspielern, die sich nahtlos in das Spiel einfügen. Seine visuelle Kraft
bezieht der Film aus zumeist in winterlichen Farben gehaltenen Bildern, die
der Geschichte eine angemessene Atmosphäre verleihen, ohne aufgesetzt oder
störend zu wirken – alles in allem eine beeindruckende Studie Laurent Cantets
(„Der
Jobkiller“
(„Ressources humaines“), 1999).
Wertung:
9,5 von 10 Punkten.
Ulrich
Behrens
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Auszeit
(L’Emploi
du temps)
Frankreich
2001, 132 Minuten
Regie:
Laurent Cantet
Drehbuch:
Laurent Cantet, Robin Campillo
Musik:
Jocelyn Pook
Kamera:
Pierre Milon
Schnitt:
Robin Campillo
Produktionsdesign:
Romain Denis
Darsteller:
Aurélien Recoing (Vincent), Karin Viard (Muriel), Serge Livrozet (Jean-Michel),
Jean-Pierre Mangeot (Vater), Monique Mangeot (Mutter), Nicolas Kalsch (Julien),
Marie Cantet (Alice), Félix Cantet (Félix), Olivier Lejoubioux
(Stan), Maxime Sassier (Nono), Elisabeth Joinet (Jeanne), Nigel Palmer (Jaffrey),
Christophe Charles (Fred), Didier Perez (Philippe)
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