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Außer Atem

 

Theatralität und Filmsprache in Godards „A Bout de Souffle"

 

Godard drehte „A Bout de Souffle" 1959, das Buch schrieb er selbst nach einem Szenario von Truffaut; es ist sein erster langer Spielfilm, ein Inkunabel-Werk der „nouvelle vague". Ein Film, in dem Godard die narrativen Instrumente des amerikanischen Gangsterfilms der 30er, 40er und 50er Jahre testet und zugleich über sie reflektiert. Er prüft den Kanon des realistischen Erzählens im Kino und kommt zu einem ambivalenten Ergebnis.

 

Die Story

Michel Poiccard, ein kleiner Gangster, gespielt von Jean-Paul Belmondo, fährt im gestohlenen Wagen von Marseille nach Paris und erschießt unterwegs, um der Kontrolle durch eine Streife zu entgehen, einen Polizisten. In Paris ist er hauptsächlich damit befaßt, Geld aufzutreiben. Ein kleiner Taschendiebstahl bei einer Freundin und vergebliche Versuche, an eine größere Summe heranzukommen; ein Scheck, den er nicht selbst einlösen kann, da nach ihm gefahndet wird: all dies hält ihn in Atem. Wir werden Zeuge mehrerer ergebnisloser Treffen in Hotels und Reisebüros, dazwischen immer wieder Telefonate und die Suche nach einem obskuren Mittelsmann; nebenbei tauscht Michel einen gestohlenen Wagen gegen den anderen aus. Er ist ständig unterwegs, zwischen Etoile und Notre Dame, St. Germain und Montparnasse – mobil, aber keineswegs gehetzt; unstet, aber von provozierender Lockerheit: als gebe es keine Polizei, die allmählich ihre Schlingen um ihn zusammenzieht.

 

Michel liebt die hübsche amerikanische Studentin Patricia (Jean Seberg), die auf den Champs-Elysées den „New York Herald Tribune" verkauft und nicht weiß, ob sie ihn wiederliebt. In ihrem Hotelzimmer entwickelt sich – zwischen Bettlaken und Spiegel, einem Renoir-Bild und dem Gegenlicht der sonnendurchfluteten Fensterfläche – eine der schönsten Liebesszenen der Kinogeschichte. Michel will mit Patricia schlafen, vermutlich kommt es dazu auch, doch zuvor sprechen sie über das Leiden und das Nichts, über William Faulkner und über den Tod.

 

Die Polizei ist Michel auf den Fersen; auf der Straße wird er von einem Passanten erkannt. Er flieht mit Patricia ins Dunkel eines Kinos. Noch einmal eine gemeinsame Nacht in einem Künstleratelier; Michel will mit Patricia nach Rom – sie aber gesteht, daß sie ihn an die Polizei verraten hat: um sich selbst zu beweisen, daß sie ihn nicht liebt, nicht lieben kann. Er rennt auf die Straße, wo der Mittelsmann mit dem Geld wartet und gleichzeitig die Polizei lauert; ein Schuß trifft ihn in den Rücken, Michel rennt und rennt in die Tiefe der Straße, bis er zusammenbricht und stirbt.

 

Die Produktion

„A Bout de Souffle": Das ist eine Geschichte und zugleich eine filmische Reflexion über diese Geschichte – ein Extemporieren mit Kameraeinstellungen und Kamerabewegungen, mit Schauplätzen und Montage, mit Figuren und Kino-Leitbildern – und Godard verfolgt dabei eine Strategie, die den Realismus des Erzählens unterminiert. Eine Strategie, die den Bruch riskiert: den Bruch mit den Studio-Konventionen und mit dem Diktat des Drehbuchs. Gedreht wird an Originalschauplätzen, es dominieren Außenszenen, während der Dreharbeiten wird viel verändert und viel improvisiert. Godards Auge klebt am Sucher der Kamera; er will etwas Neues und sieht immer nur Kino, er leistet sich willkürliche Verstöße gegen konventionelle Kamerasperspektiven, gegen normative Übergänge, gegen standardisierte Blickachsen und Sehweisen schon beim Drehen, später auch bei der Montage. Alles wird, innerhalb von vier Wochen, aus der Hand gedreht; schwarz-weiß, 35 mm, aber ohne Stativ, mit wenig Licht. Und ohne Schienen: Godard selbst fährt seinen Kameramann Coutard auf einer Karre über den Set. Benutzt wird das neue Ilford-Material, das auf Lichtschwankungen besonders schnell reagiert – in der S/W-Fotografie ist es bereits in Gebrauch, im Film jedoch noch nicht erprobt.

 

Nicht zuletzt: ein Film, der nahezu in jeder Szene das Kino und seine Geschichte apostrophiert, Humphrey Bogart und den amerikanischen Gangsterfilm, Jean-Pierre Melville und die Kollegen der „nouvelle vague". Sie erscheinen wie Epiphanien auf einer Szene, die sich „realistischer" gar nicht denken läßt und doch, von der ersten bis zur letzten Einstellung, ein Dreh-Set bleibt und sich als solcher zu erkennen gibt. Ein „cinephiler" Film. Was hat dieser Film mit dem Theater zu tun?

 

Theater und Film

Die Geschichte der Kinematographie ist (auch) eine Geschichte der Emanzipation vom Theater. Die Kamera, die – z.B. im französischen „film d’art" der 10er Jahre – starr auf einen Mann und eine Frau, ein Liebes- oder ein Eifersuchtsdrama blickte, repräsentierte noch das Auge des Theaterzuschauers, und über dem ganzen inszenatorischen Ensemble wachte das ästhetische Auge der Comédie Francaise. Erst mit der Kamerabewegung und mit den Möglichkeiten der Montage beginnt der Emanzipationsprozeß – ein Prozeß der Ablösung, in dessen Verlauf theaterspezifische Codierungen und Wahrnehmungsformen gleichwohl im neuen Medium aufbewahrt werden und von der Kinematographie inspirierte Wandlungen erfahren. Gerade der französische Begriff „mise en scene" – für Regie, Inszenierung – erinnert sehr deutlich an die Bühnenrealität des Dreh-Sets: Eine Kamera kann nur etwas aufnehmen, was zuvor in oder auf „die Szene gesetzt", d.h. für die Kamera szenisch arrangiert wurde. Und bis heute beansprucht der Realismus des Studiofilms mit seinen gebauten Kulissen eine Realitätsannäherung, die ihre Herkunft aus dem Realitätsanspruch des Illusionstheaters, etwa dem Realismus der Guckkastenbühne, gar nicht verleugnen kann.

 

Die Geschichte der Kinematographie ist aber auch eine Geschichte, in deren Verlauf der Film die Spuren seiner ästhetischen Abkunft zu verschleifen und zu verwischen sucht. Mit der Dynamisierung des Bewegungsmoments (vor allem der Kamerabewegung), mit der Forcierung der Variabilität von Kamereinstellungen und der Großaufnahme, mit der nachdrücklichen Präferenz für „out door"-Szenerien und schließlich mit den Techniken der Montage entwickelt der Film seine genuine Syntax und seine Wahrnehmungscodes, und in diesem Prozeß scheinen die letzten Reminiszenzen an eine theaterspezifische „mise en scene" verlorenzugehen.

 

Nun ist gerade in diesem Spannungsverhältnis zwischen einer emanzipierten Filmsprache und genau plazierten Erinnerungen an eine längst überwunden geglaubte Theatralität (im Sinne eines intermedialen Spiels) Godards erster Film anzusiedeln. Das ist erstaunlich, denn Godard bricht ja mit dem Studio-Kino. Er bricht mit der sorgfältig arrangierten „mise en scene" und baut auf Spontaneität – jedenfalls sieht es so aus. Er improvisiert, und die absolute Dominanz gehört der Kamera. Wenn wir trotz alledem in „A Bout de souffle" Spuren von „Theatralität", Bühnenrealismus, bühnenspezifischer „mise an scene" entdecken können, muß dies seine Gründe haben – entweder in einem ästhetischen Konzept oder einer fundamentalen ästhetischen Irritation.

 

Tatsächlich steht am Beginn von Godards Karriere eine große Aporie, nämlich seine eigene angesichts der Geschichte des Kinos. Er bricht mit dem „trompe-l’oeil"-Realismus des Studiofilms – und er mißtraut dem realistischen Erzählen mit filmischen Mitteln überhaupt. Er testet den Film-Realismus, aus einer a priori skeptischen Position. Er fragt: ist es überhaupt möglich, mit der Kamera und ein paar Darstellern eine plausible Geschichte zu erzählen? Er fragt: was ist Plausibilität in der filmischen Narration, wie entsteht sie – und ist sie überhaupt erstrebenswert?

 

Ein Monolog

Gleich zu Beginn des Films geschieht etwas Erstaunliches. Wir sehen Belmondo auf der Autofahrt von Marseille nach Paris, die Kamera beobachtet ihn aus naher Distanz, am Steuer seines Wagens – und Belmondo monologisiert! Es ist nicht das verhaspelte Selbstgespräch eines Neurotikers, dem eine gewisse realistische Plausibilität zuzusprechen wäre; es ist vielmehr ein richtiger Monolog, der uns, den Zuschauern, eine Gelegenheit verschafft, diesen Gangster auf der Flucht, seine Situation und seine ausgelassene Stimmung kennenzulernen. Er verrät uns, daß er in Paris Patricia treffen will, um mit ihr nach Italien zu gehen – und er lobt sein schönes Frankreich.

 

Im klassischen Theater ist der Monolog ein Strukturelement, eine Bauform innerhalb einer Szene und eine Präsentationsform, die uns eine Person und ihre Gedanken oder Gefühle vorstellt. Nicht als Bauform, aber als Präsentationsform erscheint der Monolog zu Beginn von „A Bout de Souffle" wieder. Godard verwendet sogar das stilistische Mittel des an die Zuschauer gerichteten A part-Sprechens: Belmondo dreht sein Gesicht zur Kamera, d.h. er blickt uns, den Kinozuschauern, in die Augen und sagt, wie ein Reiseführer: „Wie bitte, Sie lieben das Meer nicht? Sie machen sich auch nichts aus dem Gebirge?“ usw.

 

Realistisch im Sinne des Kino-Realismus ist diese Szene nicht. Die filmische „mise en scene" ist hier eindeutig theater-codiert. Wenige Augenblicke später wird diese Konstruktion brachial zerstört: zwei Polizisten auf Motorrädern überholen das Auto, und in einer schnellen action-Montage aus drei kurzen Kameraeinstellungen wird gezeigt, wie Belmondo einen Polizisten erschießt. Eine eindeutig filmisch codierte Konstruktion aus abrupten Kameraschwenks und schnellen Schnitten destruiert eine ebenso eindeutig theater-codierte Konstruktion – mit anderen Worten: Godard probiert, so als habe er sich noch nicht entschieden, zwei extrem unterschiedliche Textstrukturen aus.

 

Zentralperspektive

Es gibt eine Reihe anderer Beispiele für theatrale Konstruktionen in Godards erstem Spielfilm. Belmondo und Jean Seberg spazieren auf einer der Nebenfahrbahnen der Champs Elysees; sie unterhalten sich; er ist sehr an ihr interessiert und will sie zu einer gemeinsamen Nacht überreden. Sie gehen mitten auf der Straße auf die Kamera zu; die Einstellung ist total, in einer langen Rückfahrt fährt die Kamera, bei gleichbleibendem Abstand, vor den beiden her. Es ist eine der belebtesten Straßen der Welt, und es sind wirklich die Champs Elysees – aber die beiden werden kaum durch vorbeifahrende Autos gestört. Es gibt Autos, aber sie parken am rechten und linken Straßenrand: Sie sind ein Teil der „Kulisse", die von den Prachtbauten der Straße gebildet wird. Ebenso geben sich die wenigen Fußgänger, die am Rande oder im Hintergrund vorbeigehen, als Statisten zu erkennen.

 

Das ganze Bild wirkt, solchermaßen von seiner alltäglichen „Atmosphäre" nahezu leergesaugt, wie eine Theaterkulisse. Diesen Eindruck verstärkt die zentralperspektivische Anordnung: Belmondo und Jean Seberg gehen mitten auf der Straße auf die zentral postierte Kamera zu. Es gibt die Bewegung der Darsteller, und es gibt die Bewegung der Kamera, die vor ihnen herfährt. Und es gibt die Tiefensicht, die hier identisch mit der zentralperspektivischen Tiefensicht des Barocktheaters ist.

 

In der berühmten Schlußszene dreht Godard dieselbe „mise en scene" um, eine Wendung um 180 Grad: Der von Polizeischüssen getroffene Belmondo taumelt in die Tiefe einer schmalen Straße, die wiederum nahezu menschenleer ist und wie eine gebaute Kulisse aussieht; wiederum ist die Anordnung zentralperspektivisch. Ein Mensch, der in der Tiefe der „Bühne" verschwindet, die Kamera verfolgt ihn, etwas von oben, zunächst zögernd, in einer Plansequenz; erst nach dem folgenden Schnitt ist sie wieder dicht bei ihm, wenn er zusammengebrochen ist und hilflos auf der Straße liegt. Erst mit den anschließenden Nahaufnahmen, einem „cut-cross" zwischen dem Gesicht des sterbenden Michel und dem seiner Freundin, sind wir wieder in einem geschlossenen filmischen Kontext.

 

Kreisblende

Zweimal verwendet Godard in diesem Film eine Kreisblende: die Iris-Blende des Objektivs, die, indem sie sich verengt, das Bild schwarz werden läßt und so eine Szene beendet. Die Kreisblende ist ein genuin filmischer Code, aber schon 1959, als Godards Film entstand, war sie hoffnungslos veraltet. In der Dramaturgie des Stummfilms setzte sie strukturelle Zäsuren: die Kreisblende ersetzte bald die Akteinteilung, nach der die Handlung eines Stummfilms organisiert war. Die Akteinteilung der Stummfilme wiederum folgte, noch zu Beginn der 20er Jahre, der Akteinteilung der Tragödie, des bürgerlichen Trauerspiels oder des Lustspiels und wurde meist durch erklärende Zwischentitel unterstützt. Die Kreisblende war somit das elegantere, vor allem: kinematographisch angemessene Äquivalent für den Aktschluß – oder, theatergeschichtlich, für den Bühnenvorhang.

 

Die Analogie zwischen Kreisblende und Bühnenvorhang scheint nur auf den ersten Blick weit hergeholt. In der Tragödie senkt sich der Zwischenvorhang begütigend und friedenstiftend über erschütternde, ausweglose Ereignisse: das schlimme Geschehen wird weiter seinen unaufhaltsamen Verlauf nehmen, aber der Zuschauer hat erst einmal eine Atempause. Godard dreht einen Gangsterfilm – er „testet" ein Genre, das seine Affinität zu den Strukturprinzipien der Tragödie nicht verleugnen kann. Gleichzeitig stellt er das Genre in Frage – er mißtraut seinen Bauelementen, persifliert die tradierten Mechanismen. Ähnlich wie der Bühnenvorhang der Theaterdramaturgie stiehlt sich die Kreisblende des Kinos aus der Affäre: Nach einem Mord, nach einem bösen Verrat oder auch nach einem besonders innigen Kuß läßt sie bedeutungsvoll das Bild im Schwarz versinken und gibt dem Zuschauer zumindest für Sekunden die Möglichkeit, seinen eigenen Gedanken, seinen Wünschen und verschwiegenen Emotionen nachzusinnen.

 

Nun setzt Godard die Kreisblende bezeichnenderweise an einer Stelle ein, in der es um ihn selbst und seine Autoren-Position, seine Einstellung zum filmischen Medium geht. Er benutzt das antiquierte ästhetische Mittel, um seine eigene Rolle als deus ex machina eines geschlossenen fiktionalen Erzählzusammenhangs zu ironisieren. Den Passanten, der den Gangster auf der Straße wiedererkennt und die Polizei alarmiert, spielt er selbst. Es gibt einen schönen Satz des schweizer Filmregisseurs und Kritikers Martin Schaub, der Godards ästhetisch-philosophische Verstrickung ins Filmemachen, also sein grundlegendes Dilemma, am Beispiel von „A Bout de Souffle" beschreibt: „Godard ist unfähig, einen realistischen Film zu machen, weil ihm alles zu nahe geht: der Held, von dem er sich fast gewaltsam trennen muß (indem er die Figur des Denunzianten selber interpretiert), und vor allem das Filmemachen selbst."

 

Am Ende der Denunziationsszene sehen wir eine Kreisblende, die Godard und die beiden Polizisten einkreist und dann das Bild ins Schwarze taumeln läßt – wie ein Theatervorhang, der sich über eine böse Tat herabsenkt. Godard bittet, als Darsteller, um Vergebung für den Verrat, den er an seinem Helden begeht. Und als Regisseur bittet er um Nachsicht für die Verwirrung, in die er beim Filmemachen immer wieder gerät.

 

Kammerspiel

Man kann schwerlich über „A Bout de Souffle" sprechen, ohne die Szene in Patricias kleinem Hotelzimmer zu würdigen, in dem der Gangster Michel und seine amerikanische Freundin über sich selbst reden – und über ihre zweifelhafte Chance, ein Paar zu werden. „Ein Licht wie in Patricias Hotelzimmer hatte man bisher im Film überhaupt noch nicht gesehen", meint Martin Schaub. Hinzuzufügen wäre: Einen Dialog, wie er hier geführt wird, hatte man bisher noch nicht gehört. Wir werden, in des Wortes mehrfacher Bedeutung, Zeugen eines Kammer-Spiels; der Dialog zwischen Jean Seberg und Belmondo ist ein Kammerspiel-Dialog.

 

Der Begriff des Kammerspiels als Dramengattung wird theaterhistorisch vom Typus des kleineren, für „intimer wirkende" Bühnenstücke vorgesehenen Theaterbaus abgeleitet – Stanislawskis Künstlertheater in Moskau und Max Reinhardts Kammerspiele des Deutschen Theaters in Berlin sind zwei Prototypen aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Fast gleichzeitig kommt diese Bezeichnung für eine neue Dramengattung auf, für Stücke „intimeren Charakters mit geringerer Personenzahl und Betonung der Sprachwirkung" (Gero von Wilpert); einige Dramen Strindbergs, Wedekinds, Schnitzlers und Hofmannsthals übernehmen diesen Terminus. Zu Beginn der 20er Jahre wird der Begriff, inadäquat, auf ein neues Genre des deutschen Stummfilms übertragen: auf Filme wie Lupu Picks „Scherben" und Leopold Jessners „Hintertreppe", die mit dem Kammerspiel der Bühne allenfalls das beschränkte Personal und die Einheit von Ort und Zeit gemeinsam haben; im übrigen jedoch entwickeln die deutschen „Kammerspielfilme" der Jahre zwischen 1921 und 1924 einen eigenen psychologischen Realismus, der sich allein der subtilen Kameraführung, den Großaufnahmen und der Montage verdankt.

 

Der Begriff des „Kammerspiels" ist in Godards Film zunächst ganz wörtlich zu verstehen: als Kinozuschauer blicken wir, wie beim Guckkastentheater, durch die imaginäre vierte Wand in die Intimität eines Zimmers, in dem etwas sehr „Privates" geschieht. Aber selbstverständlich bleibt es nicht bei dieser theatralen Anordnung. Durch eine zunächst willkürlich scheinende, „anti-rhythmische" Montage, durch den Wechsel von Totalen, Nah- und Großaufnahmen und durch den Einsatz von Gegenlichtaufnahmen wird unser Blick in das intime Geschehen eingeflochten; unsere Augen werden zu Mitspielern in einem verschachtelten System, das aus dem Dialog und den Blicken der beiden Liebenden besteht.

 

Godard bedient dabei durchaus die verfeinerten Register der filmischen Ikonographie, wenn er in das Blick-Duell der beiden einen Spiegel einbezieht oder Michels Liebeserklärung an Patricia unter die Reproduktion eines Renoir-Bildes plaziert. Die Kammer, ursprünglich das ganze Hotelzimmer, wird kleiner – und das Kammer-Spiel läuft nun zwischen einem unter dem Laken liegenden Belmondo und einer Patricia ab, die neben ihm auf der Bettdecke kniet. Am Ende schlüpfen beide, wie sollte es anders sein, unter die Decke. Doch stets bleibt der Raum dabei präsent: mit ihm die Kammerspiel-Perspektive und unser Blick durch die imaginäre vierte Wand auf ein altes Spiel. Wie im theatralen Kammerspiel ist der Dialog das entscheidende Vehikel dieses Spiels, und wie auf der Bühne entsteht die Spannung zwischen dem Gesprochenen und dem Nicht-Gesprochenen, dem Gezeigten und dem Nicht-Gezeigten. Weit davon entfernt, abgefilmtes Theater zu sein, realisiert diese Szene mit avancierten filmischen Mitteln eine kleine Philosophie des erotischen Kammerspiels – somit auch, implizit, eine Theorie des Theaters.

 

Hamlet

Zum Schluß sei auf eine Deutung von „A Bout de Souffle" hingewiesen, die den Film in einen überraschenden theaterhistorischen Kontext rückt; der britische Filmkritiker Charles Barr hat schon 1967 diese Exegese vorgeschlagen. Danach gibt es eine Strukturanalogie zu Shakespeares „Hamlet". So wie sich Shakespeare, als Autor der Hamlet-Figur, im Geist von Hamlets Vater gleichsam objektiviert und zu Hamlet selbst, seinem ureigenen Geschöpf, auf Distanz geht, objektiviert sich Godard in jenem Denunzianten, der Belmondo an die Polizei verrät – und den Godard selbst spielt, so wie Shakespeare selbst, der Überlieferung zufolge, oft den Geist von Hamlets Vater gespielt hat. Auch Belmondo ist ja, innerhalb des Gangster-Genres, eine hamletische Figur: ein Gangster, der das Duell mit der Polizei am Ende ausschlägt, weil er weiß, daß kein Entrinnen ist; eine von Beginn an dem Tod verfallene Gestalt.

 

Die Parallele, schreibt Charles Barr, kann also noch weitergezogen werden: „Shakespeare hat das traditionelle Rachedrama hinter sich gelassen, so wie Godard den traditionellen Gangsterfilm hinter sich gelassen hat. Die Attribute der Theatergestalt Hamlet haben den gleichen Rang wie die kinematographischen Attribute, die der Hauptfigur in Godards Film zugeordnet sind. Hamlet selbst, mit seinem Intellektualismus, seiner Affinität zur Reise, zum Paradoxon, zum praktischen Witz, zur Selbst-Dramatisierung, zur Lebensmüdigkeit, zum Tod und, nicht zuletzt, zur Ambivalenz gegenüber Frauen ist der Typ des Godard-Helden (auch in "Le Petit Soldat" und in "Pierrot le Fou"). Die Spannung zwischen Kontemplation und Handeln, zwischen Ideal und Realität ist ein konstantes Thema Godards, vor allem in "Pierrot le Fou"(…) In "A Bout de Souffle" testet Godard, wie Shakespeare in „Hamlet", am Fall einer Konfrontation zwischen Rebellion und Erstarrung die Tragfähigkeit verläßlicher Werte; und ebenso sucht er nach einer sinnvolleren Methode für die weitere Arbeit."

 

Klaus Kreimeier 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Roloff, Volker/Winter, Scarlett (Hrsg.): Theater und Kino in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen, S. 103-110

Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte

 

Martin Schaub: in Jean-Luc Godard, Reihe Film, Hanser, München/Wien 1979

Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur

Charles Barr: in The Films of Jean-Luc Godard, London 1967

 

Außer Atem

(Å bout de souffle)

Frankreich 1960, 87 Minuten

Regie: Jean-Luc Godard

Drehbuch: Jean-Luc Godard, François Truffaut

Musik: Martial Solal

Kamera: Raoul Coutard

Schnitt: Cécile Decugis, Lila Herman

Ausstattung: Claude Chabrol

Darsteller: Jean-Paul Belmondo (Michel Poiccard alias Laszlo Kovacs), Jean Seberg (Patricia Franchini), Daniel Boulanger (Polizeiinspektor), Jean-Pierre Melville (Parvulesco), Henri-Jacques Huet (Antonio Berrutti), Van Doude (Journalist), Claude Mansard (Claude Mansard), Jean-Luc Godard (Informant), Richard Balducci (Tolmatchoff)

 

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