zur
startseite
zum
archiv
Außer
Atem
Theatralität
und Filmsprache in Godards „A Bout de Souffle"
Godard drehte „A Bout de Souffle" 1959, das
Buch schrieb er selbst nach einem Szenario von Truffaut; es ist sein erster
langer Spielfilm, ein Inkunabel-Werk der „nouvelle vague". Ein Film, in
dem Godard die narrativen Instrumente des amerikanischen Gangsterfilms der 30er,
40er und 50er Jahre testet und zugleich über sie reflektiert. Er prüft
den Kanon des realistischen Erzählens im Kino und kommt zu einem ambivalenten
Ergebnis.
Die Story
Michel Poiccard, ein kleiner Gangster, gespielt von
Jean-Paul Belmondo, fährt im gestohlenen Wagen von Marseille nach Paris
und erschießt unterwegs, um der Kontrolle durch eine Streife zu entgehen,
einen Polizisten. In Paris ist er hauptsächlich damit befaßt, Geld
aufzutreiben. Ein kleiner Taschendiebstahl bei einer Freundin und vergebliche
Versuche, an eine größere Summe heranzukommen; ein Scheck, den er
nicht selbst einlösen kann, da nach ihm gefahndet wird: all dies hält
ihn in Atem. Wir werden Zeuge mehrerer ergebnisloser Treffen in Hotels und Reisebüros,
dazwischen immer wieder Telefonate und die Suche nach einem obskuren Mittelsmann;
nebenbei tauscht Michel einen gestohlenen Wagen gegen den anderen aus. Er ist
ständig unterwegs, zwischen Etoile und Notre Dame, St. Germain und Montparnasse
– mobil, aber keineswegs gehetzt; unstet, aber von provozierender Lockerheit:
als gebe es keine Polizei, die allmählich ihre Schlingen um ihn zusammenzieht.
Michel liebt die hübsche amerikanische Studentin
Patricia (Jean Seberg), die auf den Champs-Elysées den „New York Herald
Tribune" verkauft und nicht weiß, ob sie ihn wiederliebt. In ihrem
Hotelzimmer entwickelt sich – zwischen Bettlaken und Spiegel, einem Renoir-Bild
und dem Gegenlicht der sonnendurchfluteten Fensterfläche – eine der schönsten
Liebesszenen der Kinogeschichte. Michel will mit Patricia schlafen, vermutlich
kommt es dazu auch, doch zuvor sprechen sie über das Leiden und das Nichts,
über William Faulkner und über den Tod.
Die Polizei ist Michel auf den Fersen; auf der Straße
wird er von einem Passanten erkannt. Er flieht mit Patricia ins Dunkel eines
Kinos. Noch einmal eine gemeinsame Nacht in einem Künstleratelier; Michel
will mit Patricia nach Rom – sie aber gesteht, daß sie ihn an die Polizei
verraten hat: um sich selbst zu beweisen, daß sie ihn nicht liebt, nicht
lieben kann. Er rennt auf die Straße, wo der Mittelsmann mit dem Geld
wartet und gleichzeitig die Polizei lauert; ein Schuß trifft ihn in den
Rücken, Michel rennt und rennt in die Tiefe der Straße, bis er zusammenbricht
und stirbt.
Die Produktion
„A Bout de Souffle": Das ist eine Geschichte
und zugleich eine filmische Reflexion über diese Geschichte – ein Extemporieren
mit Kameraeinstellungen und Kamerabewegungen, mit Schauplätzen und Montage,
mit Figuren und Kino-Leitbildern – und Godard verfolgt dabei eine Strategie,
die den Realismus des Erzählens unterminiert. Eine Strategie, die den Bruch
riskiert: den Bruch mit den Studio-Konventionen und mit dem Diktat des Drehbuchs.
Gedreht wird an Originalschauplätzen, es dominieren Außenszenen,
während der Dreharbeiten wird viel verändert und viel improvisiert.
Godards Auge klebt am Sucher der Kamera; er will etwas Neues und sieht immer
nur Kino, er leistet sich willkürliche Verstöße gegen konventionelle
Kamerasperspektiven, gegen normative Übergänge, gegen standardisierte
Blickachsen und Sehweisen schon beim Drehen, später auch bei der Montage.
Alles wird, innerhalb von vier Wochen, aus der Hand gedreht; schwarz-weiß,
35 mm, aber ohne Stativ, mit wenig Licht. Und ohne Schienen: Godard selbst fährt
seinen Kameramann Coutard auf einer Karre über den Set. Benutzt wird das
neue Ilford-Material, das auf Lichtschwankungen besonders schnell reagiert –
in der S/W-Fotografie ist es bereits in Gebrauch, im Film jedoch noch nicht
erprobt.
Nicht zuletzt: ein Film, der nahezu in jeder Szene
das Kino und seine Geschichte apostrophiert, Humphrey Bogart und den amerikanischen
Gangsterfilm, Jean-Pierre Melville und die Kollegen der „nouvelle vague".
Sie erscheinen wie Epiphanien auf einer Szene, die sich „realistischer"
gar nicht denken läßt und doch, von der ersten bis zur letzten Einstellung,
ein Dreh-Set bleibt und sich als solcher zu erkennen gibt. Ein „cinephiler"
Film. Was hat dieser Film mit dem Theater zu tun?
Theater und Film
Die Geschichte der Kinematographie
ist (auch) eine Geschichte der Emanzipation vom Theater. Die Kamera, die – z.B.
im französischen „film d’art" der 10er Jahre – starr auf einen Mann
und eine Frau, ein Liebes- oder ein Eifersuchtsdrama blickte, repräsentierte
noch das Auge des Theaterzuschauers, und über dem ganzen inszenatorischen
Ensemble wachte das ästhetische Auge der Comédie Francaise. Erst
mit der Kamerabewegung und mit den Möglichkeiten der Montage beginnt der
Emanzipationsprozeß – ein Prozeß der Ablösung, in dessen Verlauf
theaterspezifische Codierungen und Wahrnehmungsformen gleichwohl im neuen Medium
aufbewahrt werden und von der Kinematographie inspirierte Wandlungen erfahren.
Gerade der französische Begriff „mise en scene" –
für Regie, Inszenierung – erinnert sehr deutlich an die Bühnenrealität
des Dreh-Sets: Eine Kamera kann nur etwas aufnehmen, was zuvor in oder auf „die
Szene gesetzt", d.h. für die Kamera szenisch arrangiert wurde. Und
bis heute beansprucht der Realismus des Studiofilms mit seinen gebauten Kulissen
eine Realitätsannäherung, die ihre Herkunft aus dem Realitätsanspruch
des Illusionstheaters, etwa dem Realismus der Guckkastenbühne, gar nicht
verleugnen kann.
Die Geschichte der Kinematographie ist aber auch
eine Geschichte, in deren Verlauf der Film die Spuren seiner ästhetischen
Abkunft zu verschleifen und zu verwischen sucht. Mit der Dynamisierung des Bewegungsmoments
(vor allem der Kamerabewegung), mit der Forcierung der Variabilität von
Kamereinstellungen und der Großaufnahme, mit der nachdrücklichen
Präferenz für „out door"-Szenerien und schließlich mit
den Techniken der Montage entwickelt der Film seine genuine Syntax und seine
Wahrnehmungscodes, und in diesem Prozeß scheinen die letzten Reminiszenzen
an eine theaterspezifische „mise en scene" verlorenzugehen.
Nun ist gerade in diesem Spannungsverhältnis
zwischen einer emanzipierten Filmsprache und genau plazierten Erinnerungen an
eine längst überwunden geglaubte Theatralität (im Sinne eines
intermedialen Spiels) Godards erster Film anzusiedeln. Das ist erstaunlich,
denn Godard bricht ja mit dem Studio-Kino. Er bricht mit der sorgfältig
arrangierten „mise en scene" und baut auf Spontaneität – jedenfalls
sieht es so aus. Er improvisiert, und die absolute Dominanz gehört der
Kamera. Wenn wir trotz alledem in „A Bout de souffle" Spuren von „Theatralität",
Bühnenrealismus, bühnenspezifischer „mise an scene" entdecken
können, muß dies seine Gründe haben – entweder in einem ästhetischen
Konzept oder einer fundamentalen ästhetischen Irritation.
Tatsächlich steht am Beginn von Godards Karriere
eine große Aporie, nämlich seine eigene angesichts der Geschichte
des Kinos. Er bricht mit dem „trompe-l’oeil"-Realismus des Studiofilms
– und er mißtraut dem realistischen Erzählen mit filmischen Mitteln
überhaupt. Er testet den Film-Realismus, aus einer a priori skeptischen
Position. Er fragt: ist es überhaupt möglich, mit der Kamera und ein
paar Darstellern eine plausible Geschichte zu erzählen? Er fragt: was ist
Plausibilität in der filmischen Narration, wie entsteht sie – und ist sie
überhaupt erstrebenswert?
Ein Monolog
Gleich zu Beginn des Films geschieht etwas Erstaunliches.
Wir sehen Belmondo auf der Autofahrt von Marseille nach Paris, die Kamera beobachtet
ihn aus naher Distanz, am Steuer seines Wagens – und Belmondo monologisiert!
Es ist nicht das verhaspelte Selbstgespräch eines Neurotikers, dem eine
gewisse realistische Plausibilität zuzusprechen wäre; es ist vielmehr
ein richtiger Monolog, der uns, den Zuschauern, eine Gelegenheit verschafft,
diesen Gangster auf der Flucht, seine Situation und seine ausgelassene Stimmung
kennenzulernen. Er verrät uns, daß er in Paris Patricia treffen will,
um mit ihr nach Italien zu gehen – und er lobt sein schönes Frankreich.
Im klassischen Theater ist der Monolog ein Strukturelement,
eine Bauform innerhalb einer Szene und eine Präsentationsform, die uns
eine Person und ihre Gedanken oder Gefühle vorstellt. Nicht als Bauform,
aber als Präsentationsform erscheint der Monolog zu Beginn von „A Bout
de Souffle" wieder. Godard verwendet sogar das stilistische Mittel des
an die Zuschauer gerichteten A part-Sprechens: Belmondo dreht sein Gesicht zur
Kamera, d.h. er blickt uns, den Kinozuschauern, in die Augen und sagt, wie ein
Reiseführer: „Wie bitte, Sie lieben das Meer nicht? Sie machen sich auch
nichts aus dem Gebirge?“ usw.
Realistisch im Sinne des Kino-Realismus ist diese
Szene nicht. Die filmische „mise en scene" ist hier eindeutig theater-codiert.
Wenige Augenblicke später wird diese Konstruktion brachial zerstört:
zwei Polizisten auf Motorrädern überholen das Auto, und in einer schnellen
action-Montage
aus drei kurzen Kameraeinstellungen wird gezeigt, wie Belmondo einen Polizisten
erschießt. Eine eindeutig filmisch codierte Konstruktion aus abrupten
Kameraschwenks und schnellen Schnitten destruiert eine ebenso eindeutig theater-codierte
Konstruktion – mit anderen Worten: Godard probiert, so als habe er sich noch
nicht entschieden, zwei extrem unterschiedliche Textstrukturen aus.
Zentralperspektive
Es gibt eine Reihe anderer Beispiele für theatrale
Konstruktionen in Godards erstem Spielfilm. Belmondo und Jean Seberg spazieren
auf einer der Nebenfahrbahnen der Champs Elysees; sie unterhalten sich; er ist
sehr an ihr interessiert und will sie zu einer gemeinsamen Nacht überreden.
Sie gehen mitten auf der Straße auf die Kamera zu; die Einstellung ist
total, in einer langen Rückfahrt fährt die Kamera, bei gleichbleibendem
Abstand, vor den beiden her. Es ist eine der belebtesten Straßen der Welt,
und es sind wirklich die Champs Elysees – aber die beiden werden kaum durch
vorbeifahrende Autos gestört. Es gibt Autos, aber sie parken am rechten
und linken Straßenrand: Sie sind ein Teil der „Kulisse", die von
den Prachtbauten der Straße gebildet wird. Ebenso geben sich die wenigen
Fußgänger, die am Rande oder im Hintergrund vorbeigehen, als Statisten
zu erkennen.
Das ganze Bild wirkt, solchermaßen von seiner
alltäglichen „Atmosphäre" nahezu leergesaugt, wie eine Theaterkulisse.
Diesen Eindruck verstärkt die zentralperspektivische Anordnung: Belmondo
und Jean Seberg gehen mitten auf der Straße auf die zentral postierte
Kamera zu. Es gibt die Bewegung der Darsteller, und es gibt die Bewegung der
Kamera, die vor ihnen herfährt. Und es gibt die Tiefensicht, die hier identisch
mit der zentralperspektivischen Tiefensicht des Barocktheaters ist.
In der berühmten Schlußszene dreht Godard
dieselbe „mise en scene" um, eine Wendung um 180 Grad: Der von Polizeischüssen
getroffene Belmondo taumelt in die Tiefe einer schmalen Straße, die wiederum
nahezu menschenleer ist und wie eine gebaute Kulisse aussieht; wiederum ist
die Anordnung zentralperspektivisch. Ein Mensch, der in der Tiefe der „Bühne"
verschwindet, die Kamera verfolgt ihn, etwas von oben, zunächst zögernd,
in einer Plansequenz; erst nach dem folgenden Schnitt ist sie wieder dicht bei
ihm, wenn er zusammengebrochen ist und hilflos auf der Straße liegt. Erst
mit den anschließenden Nahaufnahmen, einem „cut-cross" zwischen dem
Gesicht des sterbenden Michel und dem seiner Freundin, sind wir wieder in einem
geschlossenen filmischen Kontext.
Kreisblende
Zweimal verwendet Godard in diesem Film eine Kreisblende:
die Iris-Blende des Objektivs, die, indem sie sich verengt, das Bild schwarz
werden läßt und so eine Szene beendet. Die Kreisblende ist ein genuin
filmischer Code, aber schon 1959, als Godards Film entstand, war sie hoffnungslos
veraltet. In der Dramaturgie des Stummfilms setzte sie strukturelle Zäsuren:
die Kreisblende ersetzte bald die Akteinteilung, nach der die Handlung eines
Stummfilms organisiert war. Die Akteinteilung der Stummfilme wiederum folgte,
noch zu Beginn der 20er Jahre, der Akteinteilung der Tragödie, des bürgerlichen
Trauerspiels oder des Lustspiels und wurde meist durch erklärende Zwischentitel
unterstützt. Die Kreisblende war somit das elegantere, vor allem: kinematographisch
angemessene Äquivalent für den Aktschluß – oder, theatergeschichtlich,
für den Bühnenvorhang.
Die Analogie zwischen Kreisblende und Bühnenvorhang
scheint nur auf den ersten Blick weit hergeholt. In der Tragödie senkt
sich der Zwischenvorhang begütigend und friedenstiftend über erschütternde,
ausweglose Ereignisse: das schlimme Geschehen wird weiter seinen unaufhaltsamen
Verlauf nehmen, aber der Zuschauer hat erst einmal eine Atempause. Godard dreht
einen Gangsterfilm – er „testet" ein Genre, das seine Affinität zu
den Strukturprinzipien der Tragödie nicht verleugnen kann. Gleichzeitig
stellt er das Genre in Frage – er mißtraut seinen Bauelementen, persifliert
die tradierten Mechanismen. Ähnlich wie der Bühnenvorhang der Theaterdramaturgie
stiehlt sich die Kreisblende des Kinos aus der Affäre: Nach einem Mord,
nach einem bösen Verrat oder auch nach einem besonders innigen Kuß
läßt sie bedeutungsvoll das Bild im Schwarz versinken und gibt dem
Zuschauer zumindest für Sekunden die Möglichkeit, seinen eigenen Gedanken,
seinen Wünschen und verschwiegenen Emotionen nachzusinnen.
Nun setzt Godard die Kreisblende bezeichnenderweise
an einer Stelle ein, in der es um ihn selbst und seine Autoren-Position, seine
Einstellung zum filmischen Medium geht. Er benutzt das antiquierte ästhetische
Mittel, um seine eigene Rolle als deus ex machina eines geschlossenen fiktionalen
Erzählzusammenhangs zu ironisieren. Den Passanten, der den Gangster auf
der Straße wiedererkennt und die Polizei alarmiert, spielt er selbst.
Es gibt einen schönen Satz des schweizer Filmregisseurs und Kritikers Martin
Schaub, der Godards ästhetisch-philosophische Verstrickung ins Filmemachen,
also sein grundlegendes Dilemma, am Beispiel von „A Bout de Souffle" beschreibt:
„Godard ist unfähig, einen realistischen Film zu machen, weil ihm alles
zu nahe geht: der Held, von dem er sich fast gewaltsam trennen muß (indem
er die Figur des Denunzianten selber interpretiert), und vor allem das Filmemachen
selbst."
Am Ende der Denunziationsszene sehen wir eine Kreisblende,
die Godard und die beiden Polizisten einkreist und dann das Bild ins Schwarze
taumeln läßt – wie ein Theatervorhang, der sich über eine böse
Tat herabsenkt. Godard bittet, als Darsteller, um Vergebung für den Verrat,
den er an seinem Helden begeht. Und als Regisseur bittet er um Nachsicht für
die Verwirrung, in die er beim Filmemachen immer wieder gerät.
Kammerspiel
Man kann schwerlich über „A Bout de Souffle"
sprechen, ohne die Szene in Patricias kleinem Hotelzimmer zu würdigen,
in dem der Gangster Michel und seine amerikanische Freundin über sich selbst
reden – und über ihre zweifelhafte Chance, ein Paar zu werden. „Ein Licht
wie in Patricias Hotelzimmer hatte man bisher im Film überhaupt noch nicht
gesehen", meint Martin Schaub. Hinzuzufügen wäre: Einen Dialog,
wie er hier geführt wird, hatte man bisher noch nicht gehört. Wir
werden, in des Wortes mehrfacher Bedeutung, Zeugen eines Kammer-Spiels; der
Dialog zwischen Jean Seberg und Belmondo ist ein Kammerspiel-Dialog.
Der Begriff des Kammerspiels als Dramengattung wird
theaterhistorisch vom Typus des kleineren, für „intimer wirkende"
Bühnenstücke vorgesehenen Theaterbaus abgeleitet – Stanislawskis Künstlertheater
in Moskau und Max Reinhardts Kammerspiele des Deutschen Theaters in Berlin sind
zwei Prototypen aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Fast gleichzeitig kommt
diese Bezeichnung für eine neue Dramengattung auf, für Stücke
„intimeren Charakters mit geringerer Personenzahl und Betonung der Sprachwirkung"
(Gero von Wilpert); einige Dramen Strindbergs, Wedekinds, Schnitzlers und Hofmannsthals
übernehmen diesen Terminus. Zu Beginn der 20er Jahre wird der Begriff,
inadäquat, auf ein neues Genre des deutschen Stummfilms übertragen:
auf Filme wie Lupu Picks „Scherben" und Leopold Jessners „Hintertreppe",
die mit dem Kammerspiel der Bühne allenfalls das beschränkte Personal
und die Einheit von Ort und Zeit gemeinsam haben; im übrigen jedoch entwickeln
die deutschen „Kammerspielfilme" der Jahre zwischen 1921 und 1924 einen
eigenen psychologischen Realismus, der sich allein der subtilen Kameraführung,
den Großaufnahmen und der Montage verdankt.
Der Begriff des „Kammerspiels" ist in Godards
Film zunächst ganz wörtlich zu verstehen: als Kinozuschauer blicken
wir, wie beim Guckkastentheater, durch die imaginäre vierte Wand in die
Intimität eines Zimmers, in dem etwas sehr „Privates" geschieht. Aber
selbstverständlich bleibt es nicht bei dieser theatralen Anordnung. Durch
eine zunächst willkürlich scheinende, „anti-rhythmische" Montage,
durch den Wechsel von Totalen, Nah- und Großaufnahmen und durch den Einsatz
von Gegenlichtaufnahmen wird unser Blick in das intime Geschehen eingeflochten;
unsere Augen werden zu Mitspielern in einem verschachtelten System, das aus
dem Dialog und den Blicken der beiden Liebenden besteht.
Godard bedient dabei durchaus die verfeinerten Register
der filmischen Ikonographie, wenn er in das Blick-Duell der beiden einen Spiegel
einbezieht oder Michels Liebeserklärung an Patricia unter die Reproduktion
eines Renoir-Bildes plaziert. Die Kammer, ursprünglich das ganze Hotelzimmer,
wird kleiner – und das Kammer-Spiel läuft nun zwischen einem unter dem
Laken liegenden Belmondo und einer Patricia ab, die neben ihm auf der Bettdecke
kniet. Am Ende schlüpfen beide, wie sollte es anders sein, unter die Decke.
Doch stets bleibt der Raum dabei präsent: mit ihm die Kammerspiel-Perspektive
und unser Blick durch die imaginäre vierte Wand auf ein altes Spiel. Wie
im theatralen Kammerspiel ist der Dialog das entscheidende Vehikel dieses Spiels,
und wie auf der Bühne entsteht die Spannung zwischen dem Gesprochenen und
dem Nicht-Gesprochenen, dem Gezeigten und dem Nicht-Gezeigten. Weit davon entfernt,
abgefilmtes Theater zu sein, realisiert diese Szene mit avancierten filmischen
Mitteln eine kleine Philosophie des erotischen Kammerspiels – somit auch, implizit,
eine Theorie des Theaters.
Hamlet
Zum Schluß sei auf eine Deutung von „A Bout
de Souffle" hingewiesen, die den Film in einen überraschenden theaterhistorischen
Kontext rückt; der britische Filmkritiker Charles Barr hat schon 1967 diese
Exegese vorgeschlagen. Danach gibt es eine Strukturanalogie zu Shakespeares
„Hamlet". So wie sich Shakespeare, als Autor der Hamlet-Figur, im Geist
von Hamlets Vater gleichsam objektiviert und zu Hamlet selbst, seinem ureigenen
Geschöpf, auf Distanz geht, objektiviert sich Godard in jenem Denunzianten,
der Belmondo an die Polizei verrät – und den Godard selbst spielt, so wie
Shakespeare selbst, der Überlieferung zufolge, oft den Geist von Hamlets
Vater gespielt hat. Auch Belmondo ist ja, innerhalb des Gangster-Genres, eine
hamletische Figur: ein Gangster, der das Duell mit der Polizei am Ende ausschlägt,
weil er weiß, daß kein Entrinnen ist; eine von Beginn an dem Tod
verfallene Gestalt.
Die Parallele, schreibt Charles Barr, kann also noch
weitergezogen werden: „Shakespeare hat das traditionelle Rachedrama hinter sich
gelassen, so wie Godard den traditionellen Gangsterfilm hinter sich gelassen
hat. Die Attribute der Theatergestalt Hamlet haben den gleichen Rang wie die
kinematographischen Attribute, die der Hauptfigur in Godards Film zugeordnet
sind. Hamlet selbst, mit seinem Intellektualismus, seiner Affinität zur
Reise, zum Paradoxon, zum praktischen Witz, zur Selbst-Dramatisierung, zur Lebensmüdigkeit,
zum Tod und, nicht zuletzt, zur Ambivalenz gegenüber Frauen ist der Typ
des Godard-Helden (auch in "Le Petit Soldat" und in "Pierrot
le Fou"). Die Spannung zwischen Kontemplation und Handeln, zwischen Ideal
und Realität ist ein konstantes Thema Godards, vor allem in "Pierrot
le Fou"(…) In "A Bout de Souffle" testet Godard, wie Shakespeare
in „Hamlet", am Fall einer Konfrontation zwischen Rebellion und Erstarrung
die Tragfähigkeit verläßlicher Werte; und ebenso sucht er nach
einer sinnvolleren Methode für die weitere Arbeit."
Klaus Kreimeier
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Roloff, Volker/Winter, Scarlett (Hrsg.): Theater und Kino
in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen, S. 103-110
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Martin Schaub: in Jean-Luc Godard, Reihe Film, Hanser, München/Wien
1979
Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur
Charles Barr: in The Films of
Jean-Luc Godard,
Außer
Atem
(Å
bout de souffle)
Frankreich
1960, 87 Minuten
Regie:
Jean-Luc Godard
Drehbuch:
Jean-Luc Godard, François Truffaut
Musik:
Martial Solal
Kamera:
Raoul Coutard
Schnitt:
Cécile Decugis, Lila Herman
Ausstattung:
Claude Chabrol
Darsteller:
Jean-Paul Belmondo (Michel Poiccard alias Laszlo Kovacs), Jean Seberg (Patricia
Franchini), Daniel Boulanger (Polizeiinspektor), Jean-Pierre Melville (Parvulesco),
Henri-Jacques Huet (Antonio Berrutti), Van Doude (Journalist), Claude Mansard
(Claude Mansard), Jean-Luc Godard (Informant), Richard Balducci (Tolmatchoff)
zur
startseite
zum
archiv