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Aus heiterem Himmel
Marcia sieht das Meer zum ersten Mal, als ihre Entführerin ihr die
Augenbinde abnimmt. Ein Liebesbeweis ist der Anblick des Meeres, ein
Beweis, der Marcia dazu bringen soll, Lenins Verliebtheit zu stillen und
mit ihr zu schlafen. Auch wenn die Entführung zunächst nicht ganz
gewaltlos begann, ließ Marcia sich mit der Zeit immer mehr faszinieren
von Lenin und ihrer nicht nur platonischen Freundin Mao, folgte ihnen
halb freiwillig, halb gezwungen in ein Road Movie die argentinische
Straße entlang aus dem lauten Buenos Aires bis hin zur Küste. Hier steht
sie nun und sieht das Meer, den Beweis, den Lenin zu bringen versprach,
und lässt sich weiter treiben mit ihren beiden Begleiterinnen. Als dem
gestohlenen Taxi der Sprit ausgeht, lassen sie sich mitnehmen von einer
Autofahrerin, Verwaltungsbeamte eines Delfinariums, die gerade in eine
andere Stadt fuhr, um zwei neugeborene Killerwale taufen zu lassen: Wal 1
und Wal 2 habe sie sie genannt, wie solle man Wale sonst auch nennen,
fragt sie, und solch lakonischer Humor beseelt viele der Gestalten, denen
Marcia, Lenin und Mao auf ihrem Weg begegnen.
Die Bilder von Tan de repente sind schwarzweiß, grobkörnig, sie
verschwimmen manchmal beinahe mit dem Abgebildeten: wenn unzählige
Regentropfen die Autoscheibe hinab rinnen, werden sie eins mit der
Körnung des Films, das Bild wird zum Material. Diego Lerman weiß um die
ästhetischen Mittel, derer er sich bedient, und er weiß auch um die Kraft der Figuren, die seinen Film
bevölkern. Mit quasi magischer Macht nimmt so der sterbende Mann, Opfer
eines Autounfalls, Einfluß auf den Film, wenn sein letztes Wort “Monica”
sogleich in einem aus dem Autoradio erschallenden Schlager aufgenommen
wird. Die Figuren und die Bilder, sie treiben den Film voran in seiner
ersten Hälfte, ziellos aus der großen Stadt hinaus, an der Küste vorbei
bis letztlich aufs Land, wo Maos Tante lebt.
Hier kommt die Bewegung, die den Film bis dahin so stark geprägt hatte,
zu einem Stillstand: Die Personen sammeln sich, sie kommen zur Ruhe in
der ländlichen Behausung, bewohnt noch von zwei weiteren Charakteren in
Lermans Geschichte, die immer emotionaler wird, je weiter sie
fortschreitet: Einer Malerin, die im Schaffen ihrer Bilder der Kamera zur
Konkurrenz zu werden droht und ein Student der Biologie, der in dem sonst
rein weiblichen Reigen schneller aufgenommen wird, als es Marcia lieb
ist. Die Personen verwirren sich langsam in ein Geflecht von Beziehungen,
keine spektakulären Intrigen oder komplizierten Netze zwar, dennoch
entsteht eine Dichte an Begehren, Enttäuschung, Streit und Zuneigung, die
dank ihrer emotionalen Intensität gar keine komplexere Handlungsführung
verlangt.
Zärtlich erarbeitet Lerman Portraits seiner Figuren, zeigt ihre
Gesichter und Lebensläufe, ihrer Hoffnungen, Wünsche und Leidenschaften.
Er zeichnet ein Bild davon, wie nah beieinander Freundschaft, Liebe und
Sex liegen, wie die Grenzen ineinander verschwimmen. Er erzählt aber
auch, wie im Streit gezogene Grenzen aufrechterhalten werden in blinder
Gewöhnung an ihre Alltag gewordene Existenz. Lermann nähert sich seinen
Figuren immer mehr, und so kommt seine unruhige Kamera, die Marcia durch
Buenos Aires folgte, gemeinsam mit den Personen in der zweiten Hälfte des
Filmes zur Ruhe, um die alten Gesichter der Dorfbewohner mit liebevoller
Genauigkeit zu zeichnen.
Und als es dann schließlich am Ende des Filmes geschieht, das
titelgebende Ereignis, aus heiterem Himmel, da möchte man das Haus gar
nicht mehr verlassen, unter dessen Dach die Figuren zusammengehalten
wurden, so sehr hat man sich gewöhnt an die Schnapsorgien von Maos Tante
und an die Gespräche zwischen Jung und Alt in denen immer wieder lang
vergangene Verletzungen aufblitzen. Dennoch verlässt man das Kino, und
Marcia verläßt ihre Wohnstätte am Meer, erwachsen geworden in Tan de
repente, der so auch eine der vom Kino immer wieder erzählten Geschichten
variiert: Die Geschichte des coming of age.
Benjamin Happel
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Aus heiterem Himmel
Tan de repente
Diego Lerman
Argentinien, 2002
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