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Aus dem Leben gegriffen

 

Ein karrieregeiler Komiker, eine amerikanische Familie und vier Männer mit dem Kamera-Auge: Real Life (1979; Regisseur, Drehbuch-Co-Autor und Hauptdarsteller: Albert Brooks) ist schwer zu glauben, wenn man ihn nicht selbst gesehen hat, und außerdem ein Meisterwerk der amerikanischen Filmkomödie.

 

Phoenix, Arizona. In einer Art kommunalen Versammlungssaal nehmen Leute unter allgemeinem Getuschel und Stühle-Geklapper Platz. Aus der Ansprache eines um Lockerheit bemühten älteren Herrn lernen wir, dass er ein Filmteam offiziell in seinem Bezirk willkommen heißt: Man wolle einen Film über eine ansässige Familie drehen. Die Bilder sind prosaisch bis homevideo-artig schlicht, der Ton registriert Applaus und Gelächter des lokalen Publikums mit jenem leeren Hall, den solche kahlen Hallen an sich haben. Der Herr, eine Art Bezirksvorsteher, stellt als Leiter des Projekts den einigermaßen bekannten comedian Albert Brooks vor, der nun selbst das Podium betritt. Er wolle einen Film über das wirkliche Leben drehen, über die aufregenden und wunderbaren Abenteuer des Alltags, erklärt er den versammelten Menschen und führt sie dabei mit der Routine eines Komikers. Er läuft sich warm, stellt die beiden wissenschaftlichen Berater vor als „two of the best psychological consulters that money can buy“ (was diese offensichtlich nur mäßig witzig finden) und bricht schließlich aus in eine sinatraeske Gesangseinlage über das schöne „valley of the sun“, in dem all die netten versammelten Menschen hier leben würden. (Der Bühnenvorhang des Saals gibt jetzt den Blick auf eine ganze Jazzband frei.) Einer der beiden Psychologen flüstert dem anderen kurz etwas ins Ohr und verlässt den Raum.

 

Diese Szene, die erste des – fiktiven! – ersten Langspielfilms von Albert Brooks, funktioniert nicht als Sketch, und eben das macht sie so faszinierend: Sie gehorcht nicht der Struktur von set-up und pay-off, sondern insistiert auf einem Realismus der minimalen Details, der das Absurde aus dem Glaubwürdigen herauskitzelt: Die Pointen und das selbstsichere showman-Gebaren des Komikers Brooks sind keine souveränen, über den Dingen und Menschen stehenden komödiantischen Offenbarungen des Regisseurs Brooks, sondern dokumentarisch aufgezeichnetes Detail, wie die etwas indignierten Reaktionen der Psychologen oder das Stocken des Bezirksvorstehers während seiner Rede, der erst eine Notizkarte aus seinem Sakko hervorkramen muss, wenn er die Sendungen aufzählen will, aus denen er Brooks zu kennen behauptet. Das alles ist in erster Linie scharf beobachtet und präzise und glaubwürdig wiedergegeben, und nicht Teil einer Gag-Produktionsmaschine. Der director/actor Brooks hat, kurz und bündig formuliert, mehr mit John Cassavetes zu tun als mit Woody Allen.

 

Gerade als Debütfilm eines Komikers ist Real Life verblüffend. Denn die Risiken, die Brooks auf sich nimmt, sind nie von der augenfällig smarten Art, die sich augenblicklich bezahlt machen und einen Regie-Novizen gleich als Markennamen einführen könnte (weshalb der Film vom zeitgenössischen Publikum eher befremdet als begeistert angenommen wurde und Brooks im deutschen Sprachraum noch immer am ehesten als Wahlkämpfer aus Taxi Driver bekannt ist). Doch paradoxerweise scheint der Reichtum dieses Films gerade aus seinen freiwilligen Selbstbeschränkungen und rigorosen Spielregeln zu kommen. Deren fundamentalste lautet, dass der Film eigentlich nur von seiner eigenen (fiktionalen) Herstellung handelt.

 

Albert Brooks, so erklärt er es uns selbst zu Beginn des Films direkt in die Kamera, hat mithilfe der wissenschaftlichen Tests eines psychologischen Instituts die perfekte, photogene amerikanische Mittelklasse-Familie ermittelt und will sie nun ein Jahr lang mit einem kleinen Team aus Kameraleuten und interessierten Wissenschaftlern begleiten und beobachten, um daraus einen Film über das echte Leben zu gewinnen. Was wir sehen, ist dieser Film, also die mockumentarische Chronik dieses Drehs und seines Scheiterns, aufgenommen (hypothetisch zumindest) von jenen Männern in futuristischen Kamerahelmen, die hier beiläufig durch den Bildhintergrund stolpern oder sich in Glasflächen spiegeln. („Only six of these cameras were ever made. Only five ever worked. We have four of those”, erklärt Brooks bei einer technischen Einführung.)

 

Nach mehr oder weniger konsequenten mockumentary-Spielfilmen wie This is Spinal Tap (1984), Drop Dead Gorgeous (1999) oder Best in Show (2000) mag diese Idee der gefälschte Dokumentation nicht mehr rasend originell wirken, aber in Real Life ist dieser Ansatz nicht bloß ein formaler Vorwand und Gimmick, sondern ästhetisches Programm: Dass die Präsenz der Kamera explizit thematisiert wird, macht sie nicht nur zum Eindringling, sondern erstattet den Bildern auch das Recht zurück, wirklich zu beobachten und zu dokumentieren anstatt „bedeutsame“ Handlungen zu registrieren: Man kann in diesem Film einiges darüber lernen, wie das aussieht und sich anfühlt, Ende der 70er in einer Vorstadtsiedlung zu leben, aber auch: in einer Gruppe mit unterschiedlichen Eigeninteressen, Prinzipien, Eitelkeiten und kulturellen Hintergründen zusammenzuarbeiten. Spielten gut zwanzig Jahre später filmische Auseinandersetzungen mit dem Reality-TV-Boom wie The Truman Show (1998) oder Edtv (1999) ein satirisch überzeichnetes manipulatives und aufdringliches Fernseh-Auge gegen die ergreifende „Echtheit“ der eigenen Kino-Inszenierung aus, so umgeht Brooks’ komplexerer und mutigerer Ansatz diese selbstgerechte Dichotomie von vornherein. Statt sich ins Mythische oder Formelhafte zu flüchten, beginnt er seine Komödie betont nüchtern bei den banalsten Dingen und bewegt sich von dort Schritt für Schritt und völlig folgerichtig ins Absurde, Albtraumhafte weiter – wie das wirkliche Leben eben.

 

Phoenix, Arizona. In dieser Stadt hat schon der Familien-Albtraum Psycho (1960) seinen Ausgang genommen. Und auch die auserkorene Familie Yeager (Charles Grodin gibt einen hinreißend verunsicherten Vater und Frances Lee McCain eine glaubwürdig verletzliche Mutter als moralisches Zentrum) fällt angesichts der eindringenden Kameras und Brooks’ wenig sensibler Vorgehensweise fast augenblicklich auseinander. Die Mutter sucht entnervt das Weite, die Tochter posiert im Prinzessinnenkleid, und der Vater ist vor allem besorgt darum, dass die Familie einen guten Eindruck macht. Die Demütigungen und Leiden vor allem der Eltern sind zwar teils haarsträubend komisch – etwa, wenn der Vater in seiner Tierarztpraxis eine Notoperation an einem Pferd verpatzt -, doch zugleich ist Brooks bemüht, die Würde aller Beteiligten zu wahren – seine eigene ausdrücklich ausgenommen. (Liest man über die amerikanische Proto-Reality-Serie An American Family von 1973, die als „Vorlage“ des Films dient, dann erscheint einem Brooks’ Werk geradezu wie ein humanistischer Großentwurf: In den wöchentlichen Sendungen rund um die Familie Loud wurden die Scheidungsdrohungen der Gattin ebenso zu Quotenfutter verarbeitet wie das Coming-Out eines Sohnes.)

 

Im Verlauf der – trotz aller scheinbarer Unberechenbarkeit und Desorganisation – plausibel und stringent konstruierten Handlung (das Drehbuch verfassten Brooks und seine regelmäßige Co-Autorin Monica Johnson) rückt sich Brooks mit sichtlichem Vergnügen in ein immer ungünstigeres Licht, bis sein alter ego – nach skrupellosen Manipulations-Versuchen der instabilen Familie, absurden Verhandlungen mit seinem wissenschaftlichen Beraterstab und hysterischen Schreiduellen mit seinem Studioboss („You’re nuts!!!“ – „NO, YOU’RE NUTS!!!“) – endgültig in den Irrsinn abdriftet. Als er in einem wirren Schluss-Monolog beschließt, ein falsches dramatisches Ende nachzudrehen, sehen wir – in einem Moment, der für die filmische Intelligenz seines Schaffens emblematisch ist – plötzlich eine Einstellung, die tatsächlich keiner von den anwesenden Kamerahelmen gedreht haben kann, die also ganz offen und eindeutig fiktiv, gefälscht ist. Wahr ist vielmehr: Was die stilistische Eigenständigkeit, das quasi-soziologische Interesse an der eigenen Epoche und den schieren Einfallsreichtum angeht, braucht sich Albert Brooks vor Preston Sturges oder Frank Tashlin nicht zu verstecken.

 

Joachim Schätz (4.1.2006)

 

Dieser Text ist auch erschienen in:  flourian.ruhezone

 

 

Aus dem Leben gegriffen

REAL LIFE

USA – 1978 – (TV) 94 min.

Erstaufführung: 22.1.1986 ZDF

Regie: Albert Brooks

Buch: Albert Brooks, Monica Johnson, Harry Shearer

Kamera: Eric Saarinen

Musik: Mort Lindsey

Schnitt: David Finfer

Darsteller:

Albert Brooks (Albert Brooks)

Charles Grodin (Warren Yeager)

Frances Lee McCain (Jeanette Yeager)

Lisa Urette (Lisa Yeager)

Robert Stirrat (Eric Yeager)

J.A. Preston (Dr. Ted Cleary)

Matthew Tobin (Dr. Howard Hill)

Dick Haynes (Harris)

 

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