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Auge
in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte
Mein
Kinoerlebnis
In "Auge in Auge" erzählen
zehn Filmschaffende, was sie am deutschen Kino besonders faszinierend finden
– die entsprechenden Ausschnitte dazu laufen im Hintergrund.
Das Kino und die Geschichte unterhalten
eine durchaus vertrackte Beziehung: Das Kino erzählt Geschichten, und manchmal
zeigt es auch Momente dessen, was man "die" Geschichte nennt. Aber
wie die Geschichte des Kinos selbst darstellen? Meist greift man auf die Apparate
des Kinos zurück, aber das ist wenig mehr als ein Notbehelf. Schließlich
ist das Kino mehr als die Abfolge Stummfilm, Tonfilm, Farbfilm, mehr als die
Weiterentwicklung der verschiedenen Gerätschaften, die eine Illusion bewegter
Bilder und Töne hervorrufen. Der Stoff, aus dem Kino gemacht ist, ist nicht
die Technik, es sind innere und äußere Bewegungen, Emotionen und
Affekte, es ist das Fantastische, das Reale und die Imagination.
So ist die Leinwand selbst immer noch
der beste Ort, um Filmgeschichte erfahrbar zu machen – an diese Überzeugung
haben sich auch der Kritiker Michael Althen und der Historiker Hans Helmut Prinzler
gehalten, als sie für ihre Reise durch mehr als hundert Jahre deutsche
Filmgeschichte "Auge in Auge" ihre Interviewpartner in den Kinosaal
gebeten haben. Von der Regisseurin Caroline Link bis zum Schauspieler Hanns
Zischler erklären zehn Filmschaffende, was sie am deutschen Kino besonders
faszinierend finden, die entsprechenden Ausschnitte dazu laufen im Hintergrund.
Diese Form der Inszenierung wirkt mitunter
irritierend. Die Interviewten sitzen nicht im Zuschauerraum, sondern unmittelbar
vor und seitlich der Leinwand, mit dem Effekt, dass diejenigen, die über
ihren Lieblingsfilm reden, so tun (müssen), als würden sie ihn gar
nicht sehen wollen. Die Auswahl der Filme ist streng subjektiv, "Auge in
Auge" will kein Filmkanon sein, sondern Zeugnis individueller Kinoerlebnisse:
Die Treppen-Szene aus "Nosferatu" hat den Regisseur Tom Tykwer bis
in seine Träume hinein verfolgt, Doris Dörrie hat in "Alice in
den Städten" einen neuen Blick auf Deutschland für sich entdeckt,
und Andreas Dresen berichtet, dass er und seine Freunde sich im Scherz gegenseitig
Dialogzeilen aus "Solo Sunny" an den Kopf geworfen haben.
Neben solchen persönlichen Anekdoten
stehen Ausflüge ins Große und Ganze: Weimarer Republik, Nationalsozialismus,
Nachkriegsjahre in Ost und West, Wiedervereinigung. Obwohl das Fazit des Films:
"Filmgeschichte ist unsere Geschichte", nach Antragsprosa für
staatlich-kulturelle Förderinstitutionen klingt, gelingt "Auge in
Auge" eine durchaus differenzierte Darstellung der vielen Möglichkeiten
des Kinos, sich zu den Verhältnissen im Realen zu stellen, ob in der direkten
Referenz oder in der bewussten Verweigerung. Rührstücke mit Kristina
Söderbaum, Komödien mit Heinz Rühmann sollten im Nationalsozialismus
von der drohenden Kriegsniederlage ablenken, indem sie nicht davon sprachen.
Ein Film wie "Unter
den Brücken"
von Helmut Käutner hingegen verwirklichte im vorletzten Kriegsjahr eine
gänzlich andere Art von Eskapismus. Zu Recht nennt Christian Petzold ihn
einen Desertionsfilm: einen Film, der sich verweigerte, der sich um das Leben
sorgte, als überall sonst der Tod gefeiert wurde.
Zwischen den Interviewpassagen geht "Auge
in Auge" in mehreren Motivblöcken der Frage nach: Was ist eigentlich
"deutsch" am deutschen Film? Obwohl die einzige Antwort auf diese
Frage lauten sollte: Gar nichts, schließlich ist Kino eine Kunstform,
die international verstanden wird, kann "Auge in Auge" es sich nicht
verkneifen, die verstaubten Schlagwörter aus der Mottenkiste zu holen:
Genie, Wahnsinn, Mythos, Tiefsinn, Trübsinn.
Wohltuend antipathetisch wirkt vor diesem
Hintergrund deswegen die Anekdote, die Kameramann Michael Ballhaus von den Dreharbeiten
einer Szene in Fassbinders "Martha" berichtet. Erzählt wird darin
die erste Begegnung zwischen dem weltgewandten Helmut (Karlheinz Böhm),
der sich später als Sadist entpuppen wird, und der um einiges jüngeren
Martha, die gerade ihren Vater verloren hat und nun geradewegs in die Fänge
der nächsten Vaterfigur gerät. Damit die Zuschauer die Bedeutung dieser
vorerst nur flüchtigen Begegnung begreifen, ließ Fassbinder die beiden
in einer komplizierten Choreografie sich einander umkreisen, während die
Kamera zusätzlich eine volle Umdrehung um das Paar vollführt – höchstes
Melodrama! Das Problem dabei war nur: Das Gelände war abschüssig,
und um den Höhenunterschied auszugleichen, wurden die Schienen, auf denen
die Kamera kreisen sollte, entsprechend aufgebockt. Um sich zu begegnen, mussten
die Schauspieler daher ein Hindernis überwinden, das eigentlich unsichtbar
bleiben musste. Bislang hat außer Experten wohl niemand den verräterischen
Sprung in Fassbinders Film entdeckt, jetzt kann jeder sehen: Böhm hüpft,
wenn er den Kreis verlässt.
Diesen Sprung aus dem Pathetischen ins
Leichtfüßige – den wünscht man sich für die nächsten
hundert Jahre Film aus Deutschland öfter.
Dietmar Kammerer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz
Auge
in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte
Deutschland 2008 – Regie: Michael Althen, Hans Helmut Prinzler – Darsteller: (Mitwirkende) Michael Ballhaus, Doris Dörrie, Andreas Dresen, Dominik Graf, Tom Tykwer, Wim Wenders – FSK: ohne Altersbeschränkung – Länge: 106 min. – Start: 3.7.2008
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