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Auf Wiedersehen, Kinder

Soviel Heiterkeit steckt in der achtlosen Energie der Schuljungen. Sie stolpern Treppen rauf und runter, laufen auf Stelzen während ihrer Sandkastenkriege, studieren begierig unanständige Postkarten und lesen nachts Romane im Licht von Taschenlampen – sie sind selbst dann noch fröhlich, als sie während eines Luftangriffs in die Keller rennen. Eine der herausragenden Tugenden von Louis Malles "Auf Wiedersehen, Kinder" besteht darin, wie natürlich er den Alltag in einem französischen Internat im Jahr 1944 heraufbeschwört. Sein zentrales Thema ist das jugendliche Leben und wie es voranrast. Er war selbst dort und weiß, dass einige dieser Leben ausgelöscht werden.

 

Die Geschichte dreht sich um die Freundschaft zweier zwölfjähriger Jungen, Julien Quentin und Jean Bonnet. Sie werden gespielt von Gaspard Manesse und Raphael Fejto, die beide vorher noch nie geschauspielert hatten. Juliens Vater ist nie da, ständig in der Fabrik; seine glamouröse Mutter setzt ihn zu seiner eigenen Sicherheit in einen Zug aus Paris hinaus, zu einem katholischen Internat für Kinder reicher Eltern. Hier wird er Priester und Lehrer finden, die er respektiert, und Klassenzimmer, in denen die Schüler tatsächlich glücklich scheinen. Einen Tag nach Weihnachten kommt dann ein weiterer Schüler an: Jean.

 

Natürlich hänseln die anderen den Neuankömmling, und Julien ist anfangs mit dabei. In diesem Alter sind Streitereien manchmal eine Form, Freundschaft auszudrücken, und nicht selten enden sie im Gelächter. Beide lesen gerne. Nach und nach, durch eine Reihe von Zeichen, die so subtil sind, dass die anderen Jungs sie nicht einmal bemerken, findet Julien heraus, dass Jean ein Geheimnis hat. Ist es die Art, wie er Fragen über seine Familie ausweicht? Oder nicht mitspricht, wenn die anderen beten, und die Chorprobe schwänzt? Julien bemerkt, dass der Priester beim Abendmahl an Jean vorbeigeht, ohne ihm eine Oblate zu geben. In Jeans Schrank findet Julien ein Buch, aus dem der Name nur teilweise entfernt wurde. Er lautet "Kippelstein".

 

Julien weiß so gut wie nichts über das Judentum. "Warum hassen wir die?", fragt er seinen älteren Bruder Francois. "Weil sie gerissener sind als wir und Jesus getötet haben." Das versteht Julien irgendwie nicht: "Ich dachte, die Römer hätten Jesus getötet." Aber irgendwie ist er dann doch neidisch, als er bei seiner Klavierstunde bei der hübschen Mademoiselle Davenne (Irene Jacob) versagt und sich danach Jean hinsetzt und voller Schönheit spielt, als wäre es das Einfachste der Welt. Auch später werden von Zeit zu Zeit die unzusammenhängenden, schiefen Töne von Juliens quälender Klavierstunde auf dem Soundtrack erklingen. Wenn wir Julien in der Nahaufnahme sehen, während er lange in der Badewanne sitzt, hören wir die Töne erneut, während sich die Kamera mit seinem Gesicht beschäftigt. Wir können uns vorstellen, dass er alle Information zusammenträgt und dann beschließt, Jeans Geheimnis für sich zu behalten.

 

Ende des Jahres hat die französische Kollaborationsregierung unter Marschall Petain stark an Zustimmung verloren, zudem scheint eine amerikanische Invasion direkt bevorzustehen. "Petain findet doch keiner mehr gut", hört man bei einem Elternabend. Nazi-Soldaten patrouillieren in der Gegend, aber sie sind nicht immer Monster. Julien bittet seine Mutter, Jean zum Essen einzuladen, und als ein älterer jüdischer Mann am Tisch gegenüber von einer Gruppe französischer Faschisten angepöbelt wird, sind es deutsche Soldaten von einem anderen Tisch, die die Unruhestifter hinauswerfen und den alten Mann bitten, sein Mahl zu beenden.

 

In der wichtigsten Szene des Films sucht Julien einen Schatz eine tiefen, dunklen Wald, in dem er sich verwirrt, mit großen Felsbruchstücken in einem geheimnisvollen Zwielicht.  (die Szene erinnert ein wenig an "Picknick am Valentinstag"). Er findet den Schatz in einer dunklen, versteckten Höhle. Und dann findet er Jean. "Gibt es in diesem Wald Wölfe?", fragt Jean. Sie begegnen einem Wildschwein, das an ihnen herumschnüffelt und dann davonwatschelt. Als sie nach der Ausgangssperre nach hause gehen und von zwei Deutschen in einem Auto gesehen werden, rennt Jean davon. Aber die Deutschen erwischen die beiden Jungs, geben ihnen eine Decke zum Wärmen und bringen sie zurück zu ihrer Schule. "Wir Bayern sind doch auch Katholiken", sagen sie.

 

Der lange Tag im Wald ist die Kurzfassung von Juliens Jahr: Eine orientierungslose Wanderung,  durch namenlose Gefahren. er legt sich mit anderen Schülern an, wird ausgegrenzt, entdeckt ein Geheimnis und kann es nur mit einem Mitschüler teilen, nämlich mit Jean Bonnet. Die beiden sprechen nie darüber, dass Julien Jeans Geheimnis für sich behalten soll – das ist selbstverständlich. "Hast du jemals Angst?", fragt Julien. "Andauernd", antwortet Jean.

 

"Auf Wiedersehen, Kinder" basiert auf den Kindheitserinnerungen, die Louis Malle (1932-1995) während des Krieges in genau diesem Internat sammelte, dem Petit-College d’Avon, das an das Karmeliterkloster bei Fountainebleau angeschlossen war. Wie viele andere katholische Schule nahm auch diese jüdische Kinder über falschen Namen auf, um sie vor der Verfolgung vor den Nazis zu schützen. Auch deshalb überlebten laut einem Essay von Francis J. Murphy 75% der französischen Juden den Krieg.

 

Malle hat den Tag nie vergessen, an dem die Nazis eine Razzia im Petit-College durchführten und drei jüdische Schüler und den Rektor verhaftete (Pater Jacques im realen Leben, Pater Jean im Film). Schüler und Lehrer stellten sich in einer Reihe auf, als das kleine Grüppchen weggebracht wurde; der Priester drehte sich zu allen um und sagte: "Au revoir, les enfants." Auf Wiedersehen, Kinder. Die drei Jungen starben in Auschwitz. Der Priester, dessen bürgerlicher Name Lucien Bunuel lautete, pflegte und betreute seine Mitinsassen im Lager Mauthausen, mit denen er auch seine Rationen teilte. Er starb dort vier Wochen nach Ende des Krieges.

 

Ich erinnere mich an den Tag, als "Auf Wiedersehen, Kinder" das erste Mal gezeigt wurde, auf dem Telluride Filmfestival 1987. Ich hatte Louis Malle 1972 bei einem gemeinsamen Abendessen kennengelernt. Von allen großen Regisseuren war er derjenige, den man am leichtesten ansprechen konnte. Ich war praktisch die erste Person, die er nach der Vorführung sah, und ich erinnere mich, dass er weinte, meine Hand ergriff und sagte: "Dieser Film ist meine Geschichte. Endlich habe ich sie erzählt."

 

Louis Malle war ein Vorreiter der französischen nouvelle vague. Sein Film "Fahrstuhl zum Schafott" folgte Jeanne Moreau auf ihrem Weg durch Paris und benutzte dabei nur das vorhandene Licht und eine Kamera auf einem Fahrrad – damals waren das revolutionäre Techniken. "Die Liebenden" und "Zazie dans le métro" kamen gleichzeitig mit anderen Frühwerken der nouvelle vague heraus. Später in seiner Karriere machte er kraftvolle, aber narrativ konventionellere Filme wie "Auf Wiedersehen, Kinder", "Herzflimmern" (1971), "Pretty Baby" (1978) und "Atlantic City, USA" (1980). Sein Film "Lacombe, Lucien" (1974), der von einem Jugendlichen aus der Arbeiterklasse erzählt, der sich den Nazis anschließt, könnte teilweise von der Figur der Küchenhilfe Joseph in "Auf Wiedersehen, Kinder" inspiriert worden sein. Nachdem er internationale Erfolge feierte, fiel er bei einigen französischen Kritikern in Ungnade, weil seine Filme ihnen zu populistisch und zugänglich waren und weil er außerdem Candice Bergen heiratete – obwohl ihre Liebe echt war und sie sein Fels in der Brandung war bis zu seinem Tod 1995 an einer Lymphdrüsenerkrankung. Er experimentierte bis zum Schluss, beispielsweise mit seinem Film "Mein Essen mit André" (1981) oder dem bemerkenswerten "Vanya, 42. Straße", einem Film über eine Theaterprobe, das Stanley Kauffmann als die beste Tschechov-Verfilmung aller Zeiten bezeichnet hat.

 

Es ist kaum festzustellen, welche Rolle Malle Julien (oder sich selbst) bei der Verhaftung der jüdischen Schüler zuschrieb. Im Film kommt ein Nazi-Offizier ins Klassenzimmer und fragt, ob hier irgendwelche Juden wären. In dieser Situation verrät Julien unabsichtlich seinen Freund. In meiner ursprünglichen Kritik schrieb ich: "Wer von uns kennt nicht einen solchen Moment, in dem wir genau das Falsche gesagt oder getan haben, unwiederbringlich, irreparabel? Noch im gleichen Moment, da man den Satz oder die Handlung beendet hat, brennt man vor Scham und Reue, aber der Fehler kann nicht mehr rückgängig gemacht werden." Soweit, so gut, aber es nicht ganz klar, ob wirklich Julien verantwortlich ist für Jeans Festnahme. "Sie hätten mich sowieso erwischt", sagt er Julien und schenkt ihm seine geliebten Stiefel.

 

Der Film endet in einer langen Nahaufnahme von Julien und erinnert an die letzte Szene von Truffauts "Sie küssten und sie schlugen ihn". Wir hören Malles Stimme im Voice-Over: "Mehr als 40 Jahre sind seitdem vergangen. Und trotzdem werde ich mich bis zu meinem Tod an jede Sekunde dieses Januarmorgens erinnern." Nachdem diese Ansprache vorbei ist, verharrt die Kamera noch 25 Sekunden lang auf Juliens Gesicht, während wir auf der Tonspur erneut das Klavier hören, dieses Mal still, traurig und korrekt.

 

 

Roger Ebert

 

mit freundlicher Genehmigung des Autors, aus dem Englischen übersetzt von Daniel Bickermann

 

Dieser Text ist zuerst erschienen am 7.5.2006 bei www.rogerebert.com

[http://rogerebert.suntimes.com/apps/pbcs.dll/article?AID=/20060507/REVIEWS08/605070301/1023]

 

 

Auf Wiedersehen, Kinder

AU REVOIR LES ENFANTS

Frankreich – 1987 – 105 min.

Erstaufführung: 5.11.1987/23.8.1988 Video/5.5.1989 Kino DDR/27.5.1990 DFF 1 – Produktion: Louis Malle

Regie: Louis Malle

Buch: Louis Malle

Kamera: Renato Berta

Musik: Franz Schubert, Camille Saint-Saëns

Schnitt: Emmanuelle Castro

Darsteller:

Gaspard Manesse (Julien)

Raphael Fejtö (Bonnet)

Francine Racette (Madame Quentin)

Philippe Morier-Genoud (Pater Jean)

François Négret (Joseph)

 

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