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Auf
der Kippe
Der
Clan der Klausenburger
Andrei
Schwartz’ Dokumentarfilm über eine Roma-Dynastie erfüllt alle Voraussetzungen
für Betroffenheitskino, ist aber keines
Wir
müssen unser linkes Weltbild ein wenig zurechtrücken. In Rumänien
geht seit einer Generation eine Zigeunerfamilie auf der Klausenburger Mülldeponie
unternehmerischer Tätigkeit nach. Arbeit, Müllverwertung, Heimat,
unsere Freunde am Schluß des Dokumentarfilms: "Auf der Kippe".
Familien- und Erwerbs-Kontinuität seit dreißig Jahren. Ceaucescu
ist inzwischen weg? Müllverwertungsindustrie kommt? Uninteressant, bis
jetzt jedenfalls.
Die
politischen Systeme greifen hier nicht, und der Bürgermeister, der seine
Ordnung haben will, ist immer derselbe. Die manuelle Arbeit auf der Kippe reicht
fürs tägliche Leben. Knapp, aber die Kinder können zur Schule
geschickt werden.
Die
Gewinne, die der Zigeunerbetrieb abwirft, reichen von der Hand in den Mund.
Und wir haben uns mit dem Kippenleben schließlich angefreundet. Wir wissen
sogar, wie man zum Ficken kommt, wenn überall Kinder rumwieseln. "Mutter,
guck mal, was ich für’n Ständer hab’", frozzeln Zwölfjährige
vertraulich. Eine Idylle? Na, sicherlich nicht. Aber das ist unser Problem.
Obwohl, obtrotz, obwegen diskursiv gegen diese keimreiche Beschreibung angehen?
Der
Film traktiert jedenfalls die Roma nicht als Analyseobjekte. Er nahm sich vor,
von ihnen etwas zu erfahren. Und siehe, es gibt was Neues. Wir schulden dem
Regisseur phänomenologischen Dank. Einen spielfilmlangen Dokumentarfilm
machen, der Zigeuner zeigt, die auf einer Müllkippe ihrem Broterwerb nachgehen,
i.e. Müll sortieren, das riecht doppelt determiniert nach Betroffenen-Weh
& Ach und ist doch statt dessen fabelhaftes Kino, wahre Unterhaltung und
richtig was zum Mitgehen, Mitfühlen, auch Mitleiden – ganz wie die großen
Aufregungen um Bobby, Pamela und all die Medienrealitäten damals in "Dallas".
Dallas
haben die Roma ihre Müllkippensiedlung getauft – unweit vom rumänischen
Klausenburg. Ihre Dynastie beschränkt sich auf 25 Personen, aber mehr sind
es, glaube ich, auch im "Dallas"-Clan nicht gewesen. Die Klausenburger
Zigeuner haben ihre Medienheimat in Texas, sie sind also wer. Sie können
uns durchaus sagen, was Sache ist. Und da der Hamburger Regisseur Andrei Schwartz,
in Rumänien geboren, einer der sehr wenigen Dokumentaristen ist, die hinsehen
und hinhören können, sind wir es, um die sich Zigeuner kümmern.
Der Kippen-Clan spielt für uns.
Zum
Schluß des Films sieht man Andrei Schwartz von hinten, wie er den 25 Darstellern
die Gage auszahlt. Wir sind ihnen im Laufe der Vorstellung ziemlich nahe gekommen
– dank ihres Spiels. Darum ging’s: im Spiel Ausdruck finden, Spaß und
Würde. Und damit wird es wieder ernst: Respekt vor diesen Roma-Persönlichkeiten!
Aber
müßten wir nicht eigentlich weinen, einen Lkw mieten und die Müllkippenbewohner
abtransportieren – dorthin, wo es hygienisch einwandfrei ist? Genau das will,
und zwar ohne eine Träne zu vergießen, der Bürgermeister von
Klausenburg. Wir sehen und hören ihn nicht im Film. Denn der Regisseur
bleibt konsequent im Kippen-Kosmos, die Kamera (exzellent: G‡bor Medvigy) nimmt
gern 50 Zentimeter vorm Gesicht Platz, Totalen meidet sie wie die Pest. Mittendrin,
in der Siedlung, erscheint die Evakuierung als latente Gefahr, als Dauer-Bedrohung,
als ferner Willkürakt.
Wie
auf das, was man nicht genau kennt, Einfluß nehmen? Vielleicht ist die
Existenz dieses Films ein solcher Einfluß. Die Zigeuner sind schon seit
dreißig Jahren auf der Kippe zu Hause. Der Müll-Berg ist ihre Heimat.
Die Müllverwertung ist ihr Gewerbe. Der Clanchef, Unternehmer vom Schlage
des in Klausenburg gerade populären J. R., macht seine Müll-Geschäfte.
Wir kennen das im aktuellen Deutschland; bloß wohnen die Bosse nicht direkt
neben der Sondermülldeponie. Den Roma bleibt jedoch nichts anderes übrig,
als direkt neben ihrem Betrieb zu wohnen.
Das
Materiallager braucht dann nachts nicht vor unliebsamer Konkurrenz geschützt
zu werden, tags wird der Müll sortiert und in Plastiksäcken verpackt.
Personalaufwendig. Aber es gibt genug Kinder. Bei uns täte es eine automatische
Müllsortieranlage. In Klausenburg gibt ein Sack Spraydosen umgerechnet
35 Pfennig. Kinderarbeit übrigens, aber das macht man sich erst hinterher
klar. Für Metalle gibt es mehr. Verkauft wird das Sortiergut in der Stadt.
Dafür benötigt man a) ein eigenes Fahrzeug und b) einen Schnaps bzw.
einen Geist, in Rumänien. Es wird gehandelt, gearbeitet, konsumiert, investiert.
Arbeitsmittel
werden angeschafft: Mit eisernen Haken läßt sich besser stochern.
Die kindlichen Arbeiter freuen sich über verbesserte Arbeitsbedingungen.
Das Unternehmen floriert. Die Kippe in Klausenburg wird im Laufe des Films immer
unternehmerisch-normaler. Darf das sein? Sind die Kinder nicht furchtbar schmutzig?
Die Klausenburger Schulärztin hat epidemologische Bedenken. Die Klausenburger
Bürger finden jedoch nichts dabei, sich im Teich unterhalb der Kippe zu
erfrischen.
Gern
auch schmieren sie sich mit grauschwarzem Ton-Schleim ein. Das ist gut für
die Gesundheit, hören wir. So ist das mit den hygienischen Bedenken, und
wir stellen unsere zurück. Denn es gibt in dieser jahrzehntealten Siedlung
neuerdings einen Wasserhahn. Eine Wanne kann mit heißem Wasser gefüllt
werden. Frisch gebadet sind die Roma, wenn sie geputzt und geschniegelt ins
Stadtkino kommen, wo wieder einmal der indische Film "Unermeßliche
Liebe" gespielt wird. Die Kamera ist ausnahmsweise mitgegangen, sie nimmt
die Leinwand schräg von der Seite auf, Ratten scheinen in den Saal zu springen.
Aber die Tiere sind in dieser Vorstellung nicht schmutzig, sondern heilig.
Wir
revidieren unsere Auffassungen im Kino. Es paßt nicht richtig ins linke
Weltbild. Eine Hütte brennt nachts ab. Neujahrstag, kalt. Wer war das?
fragen wir. Und meinen: Wenn nicht der Bürgermeister, dann eben ein Fascho.
Oder mehr. Im Film erzählen uns die Roma, daß genau das passiert,
wenn man den Ofen der Kippendatscha mit Plastik heizt. Zwei Tote. Kinder. Die
Beerdigung wird uns tränen- und gestenreich vorgespielt. (Einen Tag nach
dem wahren Ereignis, wie Schwartz dem Rezensenten versicherte).
Das
traurige, dramatische, wahre und gespielte Ereignis stand für sich. Es
illustrierte nichts anderes als das, was es besagte. Schwartz bezeugt dem zigeunerischen
Dallas-Imperium bis zum Schluß Respekt. Hoch anzurechnen ist, daß
er sich nicht als Betroffener stilisierte. Im Film kommt nicht vor, wie er von
der Klausenburger Polizei ergriffen und geohrfeigt wurde. Ein Tonbanddokument
gibt es von dieser Szene. Auch kann man hören, wie eine 75jährige
Roma, die von Polizisten zu Boden getreten wird, schreit. Ich schreib’ es hier
auf, wie "Auf der Kippe" zum Betroffenenfilm hätte werden können.
Und es nicht geworden ist. Nochmal, Respekt!
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Jungle World
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
mehrere Texte
Auf
der Kippe
Wasteland
BRD
1997. R und B: Andrei Schwartz P: Stefan Schubert, Ralph Schwingel. K: Gábor
Medvigy. Sch: Zsuzsa Csákány, Teréz Losonci. M:
Costel Ciofu, Crina Lacatus. T: József Dardos, Bábor Erdélyi.Pg:
Wüste Film/ZDF. V: Silver Cine. L 79 Min. St: 21.5.1998.
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