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Apocalypto
Gib
mir Tiernamen
In seinem gar nicht hoch genug
einzuschätzenden Buch
"Die salzweißen Augen. 14 Briefe
über Drastik und Deutlichkeit", einer Würdigung der gesellschaftlichen
Relevanz von Kunstwerken mit vermeintlich schlechtem Geschmack, nennt der Autor
Dietmar Dath den Regisseur Mel Gibson in einem Atemzug mit italienischem Folterkino
der 70er und 80er, namentlich mit dem visionären Lucio Fulci. Der Vergleich
könnte zu tief angesetzt sein. Vielleicht muss man sogar bis Pasolini zurückgehen,
um einen derart visionären, archaischen und vor allem eigenständigen
Filmemacher zu finden.
Wie Fulci und Pasolini ist Gibson
ein Regisseur der Körper. Es ist kein Zufall, dass er in seinen letzten
beiden Filme auf einen verständlichen sprachlichen Ausdruck verzichtet
hat und alle Wirkung rein körperlich transportieren wollte: das Pathos,
die Spannung, selbst der sardonische Humor entsteht durch die (makabere) Darstellung
menschlicher Leiber (zu einem der missverstandensten Regisseure seiner Generation
macht ihn das vor allem deswegen, weil er sich nicht in Hinterhof-Kinos austobt,
sondern in den Multiplex-Sälen). Kritiker sehen in Gibsons Fixierung auf
den menschlichen Körper, genauer: auf das Aufbrechen und Zerstören
von Leibern, gewöhnlich entweder Kitsch oder Gewaltverherrlichung. Beides
greift viel zu oberflächlich.
Denn Gibsons Körperkino dreht
alle Konventionen der Gewaltdarstellung auf den Kopf. Schon in "Braveheart"
verbrachte er weniger Zeit mit der Darstellung der Schlacht als mit dem Inspizieren
des anschließenden Leichenfeldes. Und seitdem, in "Apocalypto"
ebenso wie in seiner sträflich unterinterpretierten und nur empört
begafften "Passion Christi", kommt Gewalt bei Gibson ausschließlich aus der Sicht
des Opfers vor (eine filmkulturell einmalige Entscheidung direkt gegen den Strom
der herrschenden Gewohnheiten). Das Zufügen der Wunden, die Identität
der Täter, ja selbst der Grund für die Gewalt verkommt zur Nebensache,
die Konzentration liegt auf der Inspektion des aufbrechenden und aufgebrochenen
Körpers, vom Close-Up auf den kleinsten Bluttropfen über dem nachdenklichen
Verweilen auf sprühene Kopfarterien bis zur taumelnden Kamerafahrt aus
Sicht eines abgeschlagenen Kopfes, der eine Pyramide hinuntergestoßen
wird. Und natürlich gibt es auch in "Apocalypto" wieder die schonungslose
Besichtigung von Leichenfeldern, diesmal nicht als blutgetränkte schottische
Hochlandwiese, sondern in Form von bleichen Massengräbern, deren kunstvoll
verstümmelte Körperrümpfe an Zeichnungen von Hieronymus Bosch
erinnern. Natürlich wird sich in solchen Momenten wieder der Kinosaal vor
Empörung leeren (Gibsons Körperkino verlangt auch eine körperliche
Reaktion des Zuschauers, die sich bei vielen als Ekel oder Übelkeit manifestieren
wird), aber die Verbleibenden erleben in "Apocalypto" nicht nur einen
Filmemacher ersten Ranges auf der Höhe seines Könnens, mit einem radikalen
Stilgefühl und einer extrem eigenwilligen Weltsicht, sondern werden letztlich
auch mit dem besten Ende eines Gut/Böse-Zweikampfs seit dem Showdown von
"Gangs of New York" überrascht.
Neben der neuen, tabulosen Sicht
auf den menschlichen Körper und seine Fragilität ist das kulturelle
Sujet Gibsons zweites Meisterstück in "Apocalypto". Denn wie
entsteht Vielfalt in Hollywood-Produktionen? Indem man mehr Filme über
Schwarze, Asiaten und Araber dreht? Auch. Viel radikaler jedoch ist es, ganz
normale, kulturell unspezifisch geschriebene Genre-Rollen mit Schwarzen, Asiaten
oder Arabern zu besetzen und die Identifikation der Zuschauer für sich
arbeiten zu lassen. Gibson geht auch hier mit einer im Mainstreamkino bislang
unbekannten Radikalität vor und archetypisiert seine Geschichte vollständig:
Er deutet auf breitestmöglicher Front alle kulturellen Codes einfach um.
Vom großen Gut/Böse-Schema über den frappierenden Deus ex machina
bis ins kleinste "krankes Mädchen prophezeit ein böses Ende"-Klischee
könnte alles hier auch in den Straßen des heutigen New Yorks spielen.
Statt dessen tauscht Gibson die Gegenwart gegen das 15. Jahrhundert, die eine
blutdurstige Religion gegen die andere und das derzeitige Amerika gegen die
Maya-Kultur. Verluste gibt es dabei keine: Gibson setzt auf archetypische ethische
Menschheitswerte, die immer und überall funktionieren.
Die Gewinne dagegen sind ebenso
grotesk wie grandios: Zum einen findet tatsächlich große Identifikation
und Sympathie (und zwar jenseits aller hochnäsigen Mitleidsästhetik)
mit einem Ureinwohner aus Guatemala statt, dessen Haut mit Schmucknarben übersäht,
dessen Ohrläppchen auf Tellergröße gedehnt und dessen Nase mehrmals
mit Knochenschmuck durchbohrt ist. Zum anderen erlaubt dieser Wechsel des Schauplatzes
Gibson, hemmungslos und mit frischen, eindringlichen Bildern die Selbstzersetzung
einer Hochkultur durch zivilisatorische Dekadenz, religiösen Fanatismus
und gegenseitige Gewalt zu schildern. Die Handlung des Films ist, ebenso wie
sein Stil, die archaisierte Variante eines hochaktuellen und wichtigen Themen-
und Darstellungskomplexes.
Daniel Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
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Apocalypto
USA 2006. R,B: Mel Gibson. B: Farhad Safinia. K: Dean Semler. S: John Wright. M: James Horner.
P: Icon Prod. D. Rudy Youngblood, Dalia Hernandez, Morris Bird u.a. 140 Min. Constantin ab 14.12.06
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