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Antonionis China
1972 nahm Antonioni die Einladung
des chinesischen Fernsehens an, mit einem italienischen Team fünf Wochen
lang durch die Volksrepublik China zu reisen und einen Dokumentarfilm zu drehen.
Für Antonioni war das eine Gelegenheit »zum Ursprung seines Filmberufes«
zurückzukehren und »sich wieder auf direkte Art mit der konkreten
Realität auseinanderzusetzen.« [M. A, in einem Interview von Robert Schär, Tagesspiegel,
20.8. 72] Nach
dem kommerziellen Mißerfolg von ZABRISKIE POINT, vor allem in den USA, waren mehrere seiner Projekte gescheitert
und so bot die dokumentarische Arbeit, die erste nach zwanzig Jahren, eine willkommene
Unterbrechung zwangsläufiger Untätigkeit.
Der China-Film war, abgesehen
von dieser persönlichen Vorgeschichte, ein vielversprechendes Unternehmen,
da das Gastgeber-Land sich seit der Proletarischen Kulturrevolution 1967 von westlichen Besuchern abgeschirmt hatte. Die Neugier
auf Bilder aus einem unbekannten Land war daher groß. China hatte mit
Antonioni einen Regisseur eingeladen, dessen Filme westliche Lebensformen skeptisch
beobachteten, aber nicht erwarten ließen, daß er seine chinesischen
Reiseeindrücke zu einer propagandistischen Botschaft der Errungenschaften
Chinas oder gar seiner Vorbildhaftigkeit für Europa instrumentalisieren
würde.
Das Team brachte einen Reisevorschlag
nach Peking mit. Die ideale Route hätte aber sechs Monate in Anspruch genommen.
Schließlich wurde ein Reiseweg für fünf Wochen von den chinesischen
Fernseh-Funktionären organisiert. Die endlosen Debatten darüber kamen
Antonioni wie ein verbales Labyrinth vor. Das »wahre China«, unterscheide
sich stärker von unseren Lebensformen als das Straßenbild, meinte
er später. [M. A. in einem Interview von Veit Mölter, Kölner Stadt-Anzeiger,
1.8. 72] CHUNG KUO (ANTONIONIS CHINA) nimmt solche vergleichenden Orientierungsversuche
von Antonioni immer wieder auf, wenn er Ähnlichkeiten mit Italien in der
Architektur und den alltäglichen Straßensituationen registriert und
seine Fremdheit und Irritation gegenüber der Sprache betont.
Aus dem mitgebrachten Material
von vierzig Stunden Länge montierte Antonioni zusammen mit dem Journalisten
Andrea Barbato, der ihn auf der Reise begleitet hatte, drei einstündige
Filme für das italienische Fernsehen. Aus dieser Fassung schnitt er eine
eigene, zweistündige Kino-Version, die 1973 in Paris uraufgeführt
wurde und unter dem Titel Antonionis China im Jahr darauf in mehreren europäischen und amerikanischen
Fernsehprogrammen zu sehen war. [John Francis Lane bemerkt in Sight and Sound, Vol.42. Nr. 2,
Spring 1973, daß Andrea Barbato nicht mit der Endfassung der italienischen
Fernseh-Version einverstanden gewesen sei. Barbato hatte Teile davon kommentiert
und Lane stellt seine Neigung zur Intellektualisierung heraus, da »der
Kommentar zu den Szenen eines Besuchs der Großen Mauer (einem Sonntagsausflug
für chinesische Familien) Brecht-Zitate heranzieht und uns daran erinnert,
daß Monumente nicht >von< Kaisern und Königen, sondern >von<
Sklaven erbaut seien, die oft ihr Leben dabei verloren. Antonioni nimmt eine
subtilere politische Haltung ein, indem er uns entspannte Zufriedenheit auf
den Gesichtern der Leute zeigt.« In der von Antonioni allein verantworteten Kino-Fassung,
die 1974 vom WDR ausgestrahlt wurde, und mir zugänglich war, fehlt der
Besuch der Großen Mauer.]
Die Fernsehfilme wurden von chinesischen
Diplomaten in Italien wohlwollend aufgenommen. 1974 jedoch, als CHUNG KUO in
die USA verkauft worden war und die internen Auseinandersetzungen in China um
die richtige Strategie und Taktik bei der Öffnung nach Westen sich undurchschaubar
zugespitzt hatten, attackierte die Pekinger Volkszeitung Antonioni heftig als
Verräter und Denunziant. »Tückische Absichten und gemeine Tricks«
warf man ihm vor, weil er die Dokumentation des industriellen Fortschritts unterschlage
und nur Fabriken aus Altmaterial statt neuer Raffinerien zeige; weil er altersschwache
Dschunken vor modernen Frachtschiffen des Auslands vorführe; weil er rückständige
Landwirtschaftskommunen zeige und den berühmten Rote-Fahne-Kanal zur Bewässerung
trockener Gebiete mit wenigen Schwenks uninteressant darstelle; weil er Last
und Mühsal und die Spuren des Alten aufsuche, um dessen Unveränderbarkeit
zu suggerieren.
Antonioni vermutete hinter den
Vorwürfen eine Attacke gegen die liberale Gruppe, die ihn eingeladen hatte
und beschrieb seinen notwendig anderen Zugang: »Ich hatte nie vor, einen
Film zu drehen und anschließend zu behaupten: Das ist die Wahrheit über
China … Meine Chinavision ist zwangsläufig oberflächlich. Wie hätte
ich tiefer schürfen können, da ich die Sprache nicht verstehe und
mit den Leuten nicht reden kann? China ist ein Mysterium, dessen Zeichen man
lediglich interpretiert … Auch die Tatsache, daß bestimmte Schichten
des Seins verborgen bleiben, ist Wirklichkeit.« [M.A. in einem Interview von Veit Mölter, Weser-Kurier, 28.2.74]
CHUNG KUO beschreibt das »Land
der Mitte« (d. i. die Übersetzung des Titels) in einem Strom von
Bildern, in Notaten von Augenblicksereignissen und Ausschnitten aus dem Alltag.
Es gibt darin keine objektivierenden bildlichen Orientierungshilfen zum Reiseverlauf,
zur Topographie und Geschichte, keine Zwischentitel oder -texte. Informationen
vermittelt der knappe Kommentar immer ergänzend zu den in den Bildern präsentierten
Situationen.
Zwei Strukturmomente bestimmen
die Montage: das eine ist ein repetitives. Es besteht aus vielen einzelnen Gesichtern,
die die Kamera von Luciano Tovali an allen Orten beharrlich sucht und festhält.
»Der Film ist die Beobachtung von Gesichtern, Verhaltensweisen und Gewohnheiten
der Chinesen«, sagt Antonioni zu Beginn des Films. Mit dem anderen Prinzip
der Montage versucht Antonioni den Fluß der Eindrücke subtil zu strukturieren,
so daß sich aus den sanften Schnittrhythmen, den optischen Korrespondenzen
von Gesichtern, Bauten, Landschaften und der horizontal orientierten Kamera
unaufdringlich die Unterschiedlichkeit der Reisestationen herausstellt.
Die Reise beginnt in Peking, führt
nach Süden in Landkommunen und Bergdörfer, in die Märkte der
Kleinstädte, weiter nach Nanking, Sudschou und Shanghai. Der Film endet
mit Straßenszenen in der Hafenstadt Shanghai und den lächelnden Masken
eines Puppenorchesters. Dazu resümiert Antonioni die Grenzen seiner Methode,
indem er das chinesische Sprichwort zitiert: »Du kannst das Fell des Tigers
zeichnen, aber nicht seine Knochen, du kannst das Antlitz eines Menschen zeichnen,
aber nicht sein Herz.«
An allen Orten tastet die Kamera
Menschenansammlungen auf Straßen und Plätzen ab, meist aus größerer
Entfernung, holt mit dem Teleobjektiv einzelne Gesichter heran und hält
fest, wie sie auf die Beobachter reagieren. Die Grenzen zwischen Voyeurismus
und naiver Annäherung verschwimmen, sodaß der Film darin auch die
westliche Selbstverständlichkeit dokumentiert, technische Instrumente als
Surrogat für direkte menschliche Begegnungen einzusetzen.
In den Städten antworten
die jüngeren Leute meist mit insistierenden Blicken, als ob sie die Fremdheit
der Europäer entdeckten. Der Schnitt hebt oft minimale Situationen aus
der Galerie der Porträts heraus: wie Väter liebevoll mit ihren Kindern
umgehen, wie Bekannte sich begrüßen, wie sich die Mienen nach der
ersten Befremdung und Verlegenheit mit einem Anflug von Belustigung und Koketterie
entspannen, wenn der Flirt mit der Kamera offenes Spiel wird. Dieselbe Neugier
des Teams kippt von der Indiskretion in eine seltsam hilflose Mischung aus Aggression
und Nicht-Wahr-Haben-Wollen, wenn die Kamera sich nicht von den erschreckten,
verschlossenen Gesichtern der Einwohner eines Bergdorfs lösen will. Diese
Chinesen haben noch nie Europäer gesehen, weichen vor deren Anblick in
ihre Häuser zurück, stehen dicht zusammen, um sich vor deren Blicken
zu schützen, aber sich auch nichts entgehen zu lassen. Die Szene ist ein
Affront. Antonioni kommentiert sie aber als Irritation seiner Maßstäbe
von Vertrautheit und Exotik: plötzlich wird er sich selbst fremd.
Die Kameraführung des Films
zeigt die Menschen immer in physischer Verbindung mit ihrer Umgebung, aber hält
Verhaltensweisen eher als Ausdruck von Grundstimmungen oder Lebensrhythmen fest.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Spinnerei und den Raffinerien, die Brigaden
der Landkommunen, Wäscherinnen, Flußschiffer, Transportarbeiter werden
nie bei detaillierten Handgriffen gezeigt, es gibt keine Bilder, die sie in
Arbeitsabläufen oder als menschliche Werkzeuge darstellen. Auch die sensationellen
Bilder einer Kaiserschnittgeburt mit Akupunktur-Betäubung werden so gezeigt,
daß die geduldigen Vorbereitungen und der Gesprächskontakt zwischen
den Ärzten, den Schwestern und der Frau in der Montage eine elementare
menschliche Situation und nicht eine Operationstechnik beschreiben.
Sanft ironisch dokumentiert Antonioni
seine Widerständigkeit gegen Anordnungen und undurchschaubare institutionelle
Vorbehalte. Selbst wenn die Bild-Resultate keinen Informationswert besitzen
oder das unerwünschte Eindringen voyeuristisch demonstrieren, läßt
er doch eine Straße gegen die Vorbehalte der Begleiter filmen und erzählt
zu den Bildern von Parkbäumen und Mauerfluchten, daß irgendwo in
dieser Straße das Haus von Mao liegen müsse. Er kommentiert das kurze
Auftauchen eines schwarzen massigen Schiffsbugs auf dem Huang-Ho, mit der Bemerkung,
man sehe ein chinesisches Kriegsschiff und er glaube, mit diesem Bild kein Kriegsgeheimnis
zu verraten. Er läßt den Kameramann zwischen offensichtlich gestörten
Bauern auf einer Landstraße herumirren und beschreibt die Bilder als unerwünschte
Dokumente eines freien Marktes, auf dem die Landbevölkerung ihre private
Habe zum Kauf anbietet.
In CHUNG KUO verschmilzt ein naiver
Materialismus mit nostalgischen Momenten und Antonionis ästhetischer Wahrnehmung.
Die Auswahl und Montage seiner Bilder der chinesischen Menschen wirkt als subtile
Beschreibung eines Volkes, das bei aller Armut zu leben versteht. Der Film widerspricht
allen Klischees vom Ameisenstaat, indem er Individualitäten porträtiert.
»Mühsal und Last« sind für ihn elementare Momente des
Lebens in einem Land, das er in seinem Film in den ausführlichsten zusammenhängenden
Passagen als Agrarland beschreibt. Er zeigt alle Bereiche der landwirtschaftlichen
Produktion und nutzt sie zu impressionistischen Einschüben (indem er z.
B. Schweine bei der genüßlichen Mittagsruhe zu einer Musik aus der
Peking-Oper in raffinierten Licht-undSchatten-Effekten fotografiert, – eine
Einstellung, die an NETTEZZA URBANA erinnert). Aber er beschreibt auch die aufgehobene Trennung von
Arbeit und Freizeit, d.h. die Gespräche nach der Arbeit über kollektive
Probleme, am Beispiel von dörflichen Gemeinschaften, und er findet Bilder,
die idyllischen Frieden ausstrahlen. Er informiert über den überwundenen
Hunger in langen Passagen, die den Transport der Ernte auf städtische Märkte
zeigen und die Opulenz der ausgestellten frischen Ware dekorativ präsentieren.
Genießerisch verweilt er in einem Restaurant in Sudschou, zeigt die Küche
und die dazugehörige Bäckerei und erklärt, es sei schwer einzusehen,
daß die Chinesen alles erfunden hätten, auch die Nudeln. Die weitverzweigten
Kanäle in der Altstadt von Sudschou veranlassen ihn zu einem Exkurs über
Marco Polos Faszination, in China Venedig wiedergefunden zu haben. Die Röhren-Systeme
der Raffinerien in Shanghai, die Frachter und Dschunken auf dem Strom sind in
fließenden Schwenks festgehalten, in Bildern, die an GENTE
DEL PO
oder an DESERTO ROSSO erinnern. Die Spuren der alten Kultur sind wie oft in seinen
Filmen mit den Valeurs mysteriöser Faszination dargestellt: einen alten
Tempel mit vierzig Buddha-Figuren zeigt er fast menschenleer, während die
Kamera aus der Perspektive des heraufschauenden Betrachters langsam an den lächelnden
Gold-Gesichtern vorübergleitet. In Shanghai führt er mit subjektiver
Kamera in das Museum ein, in dem der erste Parteitag der chinesischen Kommunisten
1912 stattfand und kostet dort die Aura aus, indem er die heimliche Annäherung
eines Spions spannungsdramaturgisch suggeriert.
Ein Teehaus für Staatspensionäre
in einem ehemals unzugänglichen Park der Mandarine wird in feinen Rot-
und Braun-Nuancen als ein Ort behaglicher Geselligkeit beschrieben, an dem sich
»seltsam die Erinnerung mit der Treue zur Gegenwart verbindet«.
Und schließlich beobachtet er in allen Städten die konzentrierten
Gesichter und fließenden Bewegungen der Schattenboxer.
Mit ähnlicher Faszination
registriert er den militärischen Drill in den Tanzspielen im Kindergarten,
den Aufmärschen zum Schulsport und den Kolonnen der Studenten, die zur
Erntearbeit marschieren. Diese Passagen kritisieren nicht, sondern heben in
den Momentaufnahmen einzelner Gesichter, vor allem der Kindergesichter, die
Züge heraus, die gegen die totalitäre Auflösung von Individualität
sprechen.
Claudia Lenssen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: Michelangelo Antonioni; Band 31 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1987.
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung der Autorin Claudia Lenssen und des Carl Hanser Verlags.
Antonionis
China
CHUNG KUO (CINA).
China/Italien
1972
Regie,
Drehbuch: Michelangelo Antonioni. – Mitarbeit und Text: Andrea Barbato. – Kamera:
Luciano Tovoli. – Schnitt: Franco Arcalli. – Ton: Giorgio Pallotta. – Technische
Mitarbeit: Mario Moreschini, – Musikalische Beratung: Luciano Berio – Regie-Assistenz:
Enrica Fico. – Produzent: RAI, Rom. – Gesamtorganisation: Andre Barbato. – Gedreht
im Mai 1972 in China. – Format: 16 mm, Farbe (Eastmancolor). – Original-Länge:
220 min (TV-Fassung); 128 min (Kino-Fassung). – Deutsche Fassung: 210 min. –
Uraufführung: 10.9.1973, Paris. – TV: 29.12.1973, 30.12. 1973 (BR 111);
1.1. 1974 (WDR III); 11.6. 1974 (ARD). – Verleih: in der BRD nicht verliehen.
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