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Liebe mit Zwanzig: Antoine und Colette
Von
der Leichtigkeit des Seins
Freiheit! Da steht er oben am
Fenster seines Zimmers, irgendwo in Paris, und genießt sie: die Freiheit.
Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud), hinaus geworfen aus Familie und Schule,
abgeschoben in eine Erziehungsanstalt, von dort geflüchtet bis ans Meer,
ist wieder in Paris und arbeitet bei Philips, in der Schallplattenfabrik. Keine
besondere Arbeit, nichts, was ihn wirklich vorwärts bringt. Aber will Antoine
in diesem Sinn überhaupt „vorwärts”? Eher nicht. Sein „Vorwärts”
ist ein anderes, eines, das ihm Unabhängigkeit gibt, Freiheit von möglichst vielen
Zwängen, von Eingesperrtsein, von Verhältnissen, in denen ihm nur
Hass oder Verachtung entgegengebracht wird. Und um diesen Zwängen zu entgehen,
nimmt er den Zwang zu (irgendeiner) Arbeit gern in Kauf.
Nach „Sie küssten und sie schlugen ihn” (1959) beteiligte sich François Truffaut 1962 an einem
Filmprojekt mit den Regisseuren Andrzej Wajda, Shintarô Ishihara, Marcel
Ophüls und Renzo Rosselini zum Thema „Liebe mit Zwanzig”. Der 29 Minuten
lange Beitrag Truffauts beschäftigt sich mit der Zeit nach der Flucht seines
Helden und alter ego Antoine Doinel aus der Erziehungsanstalt, gedreht direkt
nach Fertigstellung von Truffauts Klassiker „Jules et Jim”.
Antoine hat wieder Kontakt zu
seinem Schulfreund René (Patrick Auffay), mit dem er oft die Schule geschwänzt
hatte und statt dessen durch die Straßen von Paris gezogen war. Mit ihm oder auch
allein besucht Antoine Vortragsveranstaltungen, Konzerte oder das Kino. Und
dort sieht er eines Tages eine junge Frau, nicht viel älter als er, und
ist hin und weg. Colette (Marie-France Pisier) heißt sie. Unentwegt schaut
er sie an, gefesselt von ihrem Anblick.
Er geht ihr hinterher, und eine
Woche später erzählt er René stolz und begeistert, er habe
sie in den letzten Tagen dreimal gesehen. Er spricht Colette an, man trifft
sich bei Vortragsveranstaltungen, er gibt bei Colettes Mutter einen Liebesbrief
ab, für den sich Colette später nüchtern, ja fast kühl bedankt.
Antoine lässt nichts unversucht, um Colettes Herz zu gewinnen, ja, er zieht
sogar in die Straße um, in der sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater
wohnt. Von seinem Fenster aus kann er in die Wohnung der Angebeteten schauen.
Doch Colette bleibt distanziert.
Sie mag Antoine, aber verliebt ist sie nicht in ihn. Man isst gemeinsam, lacht
zusammen, trinkt, ist fröhlich. Doch Colette weist Antoine zurück
– bis er eines Tages erleben muss, wie sie von einem anderen Mann, den sie später
heiraten wird, Albert Tazzi (Jean-François Adam), abgeholt wird.
Die Leichtigkeit, mit der Truffaut
diesen in Schwarz-Weiß gedrehten Kurzfilm inszenierte, widerspricht allem,
was andere Regisseure in dieser Zeit aus einer solchen Geschichte gemacht hätten:
nämlich eine Tragödie, ein sentimentales, möglicherweise rührseliges
Stück Film, einen Film zum Heulen, ein „überproportioniertes” Drama.
Anders Truffaut. Sicher leidet Antoine unter der Zurückweisung Colettes.
Aber es zeigt sich eben auch schon hier (wie in den späteren Filmen des
Doinel-Zyklus), dass er mit der Figur des Antoine einen anderen Typus von Akteur
kreierte, eben jenen Individualisten, der angesichts seiner egozentrischen Grundhaltung,
aber auch aufgrund seines Charakters als „Stehaufmännchen”, der sich letztlich
durch nichts unterkriegen lässt, Hauptsache er unterliegt nicht allzu drastischen
Zwängen, durch das Leben streift wie in einem leichten, ja beschwingten
Flug, auf dem es keine Hindernisse gibt, die nicht zu überwinden wären
oder denen er nicht aus dem Weg gehen könnte.
Diese Figur – und das erweist
sich letztlich in allen Filmen des Zyklus – ist Filmfigur und reale Person zugleich,
wenn man so will. Als Filmfigur ist dieser Antoine Doinel eine neue Kreation
im Rahmen der nouvelle vague, als reale Figur repräsentiert er jenen aufkommenden
Individualisten, der sich in den folgenden Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften
vollends (in welche Richtung im einzelnen auch immer) entwickeln sollte. Die Identität beider Seiten
der Figur des Antoine Doinel macht nicht nur das Spannende dieses Zyklus aus,
sondern ermöglicht Truffaut eben auch jene Leichtigkeit der Inszenierung,
jenen lockeren Umgang mit der Geschichte seines Helden, ohne dass diese Art
des Filmens in Seichtigkeit abgleiten und ohne dass die Handlung zerfransen
würde. Das Tragische wie das Komische der Handlung kommen daher ohne jene
Theatralisierung aus, ohne jene Überdramatisierung, die früheren Filmen
über solche Geschichten anhaftete.
Antoine nimmt es irgendwann hin,
dass er abgewiesen wurde, ohne sich dadurch in seinem weiteren Weg allzu stark
beeindrucken zu lassen. In seiner Figur kommt das Beschwingte, das tragisch
und komisch zugleich sein, das Ernst wie Heiterkeit repräsentieren kann,
zu voller Blüte. Bereits in „L’Amour à vingt ans” und im ersten
Film „Sie küssten und sie schlugen ihn” ist dies deutlich zu spüren.
Ulrich Behrens
Dieser Text
ist zuerst erschienen bei:
Liebe mit Zwanzig: Antoine und Colette
(L’Amour à vingt ans: Antoine et Colette)
Frankreich [Polen, Deutschland, Italien, Japan]
Regie: François Truffaut
Drehbuch: François Truffaut
Musik: Georges Delerue
Kamera: Raoul Coutard
Schnitt: Claudine Bouché
Darsteller: Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Marie-France
Pisier (Colette), Patrick Auffay (René), Rosy Varte (Mutter Colettes),
François Darbon (Stiefvater Colettes), Jean-François Adam (Albert
Tazzi)
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