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Annas Lied

Ingrid Anna Fischer, geboren 1946 in Bützfleth zwischen Elbe und Kehdinger Moor, singt das Lied vieler Annas: So wurden lange Zeit die Frauen, die im Norden an der Küste geboren wurden, getauft. In schönen harmonischen Landschaftsaufnahmen, vor alten Fotos, inmitten gepflegten großmütterlichen Hausrats läßt sie fünf alte Landfrauen aus Nord-Kehdingen zu Wort kommen: Töchter von Landarbeitern, Prahmschiffern, Holzschuhmachern. Anna K., nach dem letzten Infarkt, steht am Priel und macht die Arbeit, die sie noch tun kann: sie zählt das Vieh. Zu Hause schält sie Gurken und erzählt von ihrem Leben, dem Leben eines Tagelöhnerkindes. Die Eltern verdienten 15 Pfennig die Stunde, und die Kinder holten sich Kartoffeln aus dem Schweinetrog. Gegen den Hunger. – Die Kamera wandert derweil sehr nah durch Schmuckkästchen, blickt durch ein Spitzenhäkeltuch und verweilt auf der alten getönten Fotografie. Annas Stimme erzählt vom Vater, der den Prahm mit der Tide rauf- oder runterruderte. Eines Tages blieb er weg, und die Mutter saß mit den vier Kindern allein den langen Winter hindurch im Haus und machte Holzschuhe. 28 Jahre war sie erst.

 

Die Kamera erfreut sich an der schönen Birkenallee und am Schilf, über das der Wind geht. Die Vergangenheit wird besonnt. Spätestens wenn die Mundharmonika „Schön ist die Jugendzeit" behauptet, gerät die ebenso professionelle wie harmonische Optik jedoch in Widerstreit zu dem, was uns Anna K. vermittelt; sie erzählt von den Schlägen, mit denen die Jungs erzogen wurden, und vom Lehrer, der sich diesem Geschäft mit Lust und Liebe widmete. Das Klassenfoto verliert seine nostalgische Gemütlichkeit, wenn wir erfahren, daß der Lehrer der erste Nazi im Dorf war und daß er mit der braunen Hose in den Sarg gekommen ist. „Schön, wenn man jemanden überzeugen könnte, daß das nichts ist, so zu leben", sagt Anna K. freundlich, zufrieden und fern jeder Verbitterung.

 

Mit dem Hiebholz mißt sie ein Stück Butter ab. Das handgeschriebene Haushälterinnenbuch vom Gut in Drochtersen beschreibt in jeder Einzelheit die Arbeit und Pflichten des Stubenmädchens, das acht Mark im Monat bar auf die Hand bekam. – Anna H. versuchte auszubrechen. Der Villenhaushalt in Cuxhaven war etwas ganz Feines. Für sie, freilich, war ein Feldbett im Keller aufgeschlagen. „Da wollte ich nicht leben, so erniedrigen lassen wollte ich mich nicht." Nach drei Monaten ging sie ins Dorf zurück. Im Frühnebel stand sie in der Marsch, um das Tagewerk zu binden. „Ich war schon fünf Uhr morgens klitschnaß; das Wasser lief mir den Bauch runter." Die Frauen aßen allein im Reet. Nur die Männer hatten das Recht, auf dem Hof zu essen. Einer der Männer war Anna H.s große Liebe. Sie heiratete den Oberknecht Emil.

 

Statt liebevoll zu beschreiben, hätte die Filmerin Ingrid Anna Fischer allen Anlaß, ihre Wut, ihre Empörung oder ihre Resignation angesichts der vielen Fakten, die sie sammelt und sichert, zum optischen Ausdruck zu bringen. Sie tut es nicht. Im Gegenteil, ihre makellosen Landschaften und Porträts verraten ein geheimes Einverständnis mit dem Leben der fünf Annas des Films. Wie auch nicht zu übersehen ist, daß die Frauen sich trotz des gelegentlichen Ausbruchs ins ferne Cuxhaven ihrer Geschichte durchaus zugehörig fühlen. Die Bildharmonie steht in manchmal kaum erträglichem Kontrast zu den vermittelten Fakten, sie entspricht jedoch der – überraschenden – lebensgeschichtlichen Harmonie der porträtierten Landfrauen. Kamera (Christel Fomm), Schnitt und Montage verweigern sich der – naheliegenden – Kritik. Sie zeigen statt dessen etwas Positives: ein offenes Einverständnis mit der Fröhlichkeit, Kraft und Stärke der fünf Landarbeiterinnen, die sich gerade unter Umständen, die dagegensprachen, Würde, Zuversicht und Hoffnung bewahrt haben. Der affirmative Film-Stil schließt den Kehdinger Energiestrom ans gegenwärtige Bewußtsein. Er ist damit dem traditionellen Dokumentarfilm voraus, der sich die Menschen, die er zeigt, zum Gegenstand gemacht hat: zum Gegenstand einer wie auch immer gearteten Aussage.

 

ANNAS LIED ist Lebenselixier: ein antifaschistischer Film, der sich nicht explizit macht und dessen emotionaler Appell daher ungebrochen bleibt.

 

Dietrich Kuhlbrodt

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd Film 6/85

 

Annas Lied

Bundesrepublik Deutschland 1983/84. R und Sch: Ingrid Anna Fischer. K: Christel Fomm. M: Dieter Ege. T: Ulrike Fels. Pg und V: Ingrid Fischer, Hamburg. L: 129 Min., 16 mm. UA: Berlinale ’85. St: Sommer 1985. Mit: Annemarie Hammann, Anna Hööck, Anna Köhlmann, Anni Nintzel, Margarete Pape.

 

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